Wir freuen uns, einen Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Der BGH hat entschieden, dass im Verhältnis einzelner Grundstücksnachbarn ein Wegerecht nicht aufgrund Gewohnheitsrechts durch eine – sei es auch jahrzehntelange – Übung entstehen kann. Außerhalb des Grundbuchs kann ein Wegerecht nur aufgrund schuldrechtlicher Vereinbarung oder als Notwegrecht unter den Voraussetzungen des § 917 BGB bestehen. (Urteil vom 24. Januar 2020 – V ZR 155/18).
Die Entscheidung ist spannend, weil sie – abweichend von der Vorinstanz – sich mit dem Begriff des Gewohnheitsrechts auseinandersetzt. Auch Juristen nehmen die gewohnheitsrechtliche Anerkennung zuweilen allzu leichtfertig in dem Mund. Zu Recht stellt der BGH fest:
„Gewohnheitsrecht entsteht durch längere tatsächliche Übung, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine ist und von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird. Als ungeschriebenes Recht enthält es eine generell-abstrakte Regelung; diese muss über den Einzelfall hinausweisen. Zwar muss Gewohnheitsrecht kein „Jedermann-Recht“ sein. In dem Unterfall der sog. Observanz, bei der es sich um ein örtlich begrenztes Gewohnheitsrecht handelt, kann dieses auch im Verhältnis einer begrenzten Zahl von Eigentümern und Pächtern zueinander entstehen, etwa nur für eine Gemeinde oder die Mitglieder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Voraussetzung ist aber auch in diesem Fall, dass die ungeschriebene Rechtsnorm, die die Beteiligten als verbindlich anerkennen, alle Rechtsverhältnisse einer bestimmten Art beherrscht. Gewohnheitsrecht kann als dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle allgemeiner Art nur zwischen einer Vielzahl von Rechtsindividuen und in Bezug auf eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen entstehen, nicht aber beschränkt auf ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Grundstücksnachbarn.“
Das widerspricht Entscheidungen wie dem Urteil des LG Rottweil vom 26.03.2014 – 3 O 259/13, war aber eigentlich nicht sonderlich überraschend. Schon vor 15 Jahren stellte das AG Neuruppin im Urteil vom 29. 4. 2005 – 42 C 37/04 zum Wegerecht kraft Gewohnheitsrechts fest:
„Ein Wegerecht kann seit In-Kraft-Treten des BGB nicht mehr durch Gewohnheitsrecht entstehen…. Rechtswissenschaft und Praxis anerkennen zwar weiterhin das Gewohnheitsrecht als denkbare Rechtsquelle. Die Kriterien, unter welchen Voraussetzungen Gewohnheitsrecht auch heute noch als rechtsbeständig anerkannt wird, sind außerordentlich diffus. Auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts könne sich grundsätzlich nur Bundesgewohnheitsrecht bilden, Landesgewohnheitsrecht nur in den dem Landesrecht vorbehaltenen Materien …. Die Anerkennung von Gewohnheitsrecht stammt aus der Zeit vor schriftlicher Festsetzung geltender Normen …. Gewohnheitsrecht entfällt, sobald und soweit entgegenstehendes gesetztes Recht in Kraft tritt …. Für den Fall der Wegerechte ergibt sich aus § 873 I BGB, dass diese seit dem 1. 1. 1900 nur durch Eintragung im Grundbuch begründet werden können. Im Übrigen bedürfte es zumindest eines schuldrechtlichen Vertrags der Parteien (§ 311 I BGB). Für ungeregelte Zwangslagen sieht das BGB seit 1900 ein Notwegerecht vor (§ 917 I BGB). In diesem System ist für das Gewohnheitsrecht als Anspruchsgrundlage kein Raum mehr eröffnet.“
Als Gewohnheitsrecht hat die Rechtsprechung oftmals anerkannt etwa die Regeln des Kaufmännischen Bestätigungsschreiben (BGHZ 188, 128) oder auch den Provisionsanspruch des Versicherungsvermittlers (BGH NJW 2014, 3360). Die betriebliche Übung im Arbeitsrecht gehört dazu, ebenso wie das Recht der Totenfürsorge für einen nahen Angehörigen (KG Berlin, VersR 1990, 916).
Gewohnheitsrecht muss also – wie alles Recht – auf abstrakte Rechtssätze heruntergebrochen werden können. Das ist dem BGH auch bei Wegerechten in der Vergangenheit gelungen. Dann aber waren es besondere, aber eben allgemein formulierbare Fälle: Bei dem Wegerecht entlang von Inwieken (Nebenkanälen) handelt es sich um im Fehngebiet Ostfrieslands fortbestehendes Gewohnheitsrecht (BGH, Urteil vom 21. 11. 2008 – V ZR 35/08).
Die Berechtigung zur Nutzung im Einzelfall durch lange Übung kann (konkludente) Vereinbarung sein, kann Ersitzung sein (was bei eingetragen Rechen nicht möglich ist, § 937 Abs. 2 BGB), kann auf der Verwirkung des Rechts zur Rückforderung beruhen, kann aber auch nicht Gewohnheitsrecht sein. Einen schönen Überblick bietet Krebs/Becker, Entstehung und Abänderbarkeit von Gewohnheitsrecht, JuS 2013, 97. Einfach mal durchlesen!