Das OLG Hamm hat am 26. Februar 2015 eine für Studenten und Examenskandidaten nicht zu verachtende Entscheidung (5 RVs 7/15) getroffen, die so auch ohne weiteres Teil einer Klausur oder mündlichen Prüfung sein könnte, denn hier ergeben sich sowohl strafrechtliche als auch grundrechtliche Fragestellungen, die sich ganz wunderbar in einem eher unbekannteren Straftatbestand verknüpfen lassen.
Sachverhalt
Die 39-jährige und aus Marokko stammende Angeklagte suchte wegen ihrer Promotionstätigkeit häufig die Bibliothek der Universität Duisburg-Essen auf. Ab Ende Mai 2013 fand in dieser Bibliothek eine Ausstellung statt, in der mehrere von Studenten hergestellte Collagen präsentiert wurden. Ein Teil dieser Collagen bestand im Wesentlichen aus Bildern und Texten des von der israelischen Autorin Rutu Modan stammenden Comicromans „Exit wounds“. Abgebildet war u.a. auch eine Straßenszene, bei der im Vordergrund eine Gruppe von Personen stand, die Schilder mit hebräischen Schriftzeichen, ein Schild mit der Aufschrift „Stop the occupation“ sowie ein solches mit arabischen Schriftzeichen, welche in einen Sack gesteckt wurden, hochhielten.
Nachdem die Angeklagte bereits aus ähnlichem Grunde zuvor schon ein in der Bibliothek angebrachtes Poster eigenmächtig abgehangen hatte, sah sie sich auch in Bezug auf das von der Collage dargestellte Motiv in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Sie führte aus, dass dieses Schild nicht, wie zunächst denkbar, die Worte „Beendet die Besatzung“ zeige, sondern schon nach Veränderung eines Buchstabens die Worte „Nieder mit Allah“ darstelle. Da ein Bibliotheksmitarbeiter auf ihr Verlangen hin die Entfernung der Collage ablehnte und demgegenüber lediglich anbot, die fragliche Stelle mit einem Stück Papier zu überkleben, wurde die Angeklagte selbst tätig, ergriff eine Schere und schnitt die von ihr beanstandete Stelle aus der Collage eigenhändig heraus.
Das AG Essen verurteilte die Studentin darauf hin wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen. Die gegen dieses Urteil von der Angeklagten eingelegte Berufung verwarf das LG Essen als unbegründet. Schließlich legte die Angeklagte Revision beim OLG Hamm ein.
Frage 1
Zunächst war hier überhaupt die Frage zu klären, welcher Straftatbestand überhaupt einschlägig ist, denn § 304 Abs. 1 StGB verlangt im objektiven Tatbestand u.a. das Vorhandensein einer öffentlichen Sammlung, was die Angeklagte hinsichtlich der in der Bibliothek ausgestellten Collage aber vor Gericht angezweifelt hatte, weil die Benutzung der Bibliothek, was zutrifft, von einer Erlaubnis abhängig ist. Außerdem könnte fraglich sein, ob das Plakat zu den nach § 304 Abs. 1 StGB geschützten Objekten zählt.
Frage 2
Im Hinblick auf die mit grundrechtlichen Aspekten verbundene Fragestellung dieses Falles musste das OLG Hamm schließlich entscheiden, ob die von Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit eine Sachbeschädigung entschuldigen kann, mithin also vorliegend einen Entschuldigungsgrund darzustellen vermag.
Rechtliche Würdigung durch das OLG Hamm
Mit den folgenden Ausführungen soll nunmehr dargestellt werden, inwiefern das OLG Hamm eine rechtliche Würdigung zu den oben aufgeworfenen Fragen vorgenommen hat.
Tatbestandsmäßigkeit des § 304 StGB
Der Straftatbestand des § 304 StGB schützt grundsätzlich öffentliche Interessen in Form des Nutzungsinteresses an öffentlichen Sammlungen. Die Tathandlung der Beschädigung einer in der Universitätsbibliothek ausgestellten Collage ist gemäß § 304 Abs. 1 GG strafbar, wenn diese ein Bestandteil einer öffentlichen Sammlung ist.
Öffentlich im Sinne des § 304 StGB ist eine Sammlung dann, wenn diese allgemein zugänglich ist, d.h. grundsätzlich jedermann Zutritt zu dieser hat. Zwar ist die Benutzung der Universitätsbibliothek gemäß der geltenden Benutzungsordnung, hinsichtlich der sich der Benutzer überdies zu unterwerfen hat, von einer Erlaubnis oder sonst von Bedingungen (vorherige Zulassung nach Antrag) abhängig, doch ist dieses Kriterium vorliegend nicht entscheidend. Die Eigenschaft einer öffentlichen Sammlung ergibt sich vielmehr daraus, dass der Kreis der Benutzer zum einen nicht von vorneherein auf bestimmte Personen bzw. Behördenangehörige begrenzt ist, denn nach der Benutzungsordnung wird im Einzelnen nicht festgelegt, welche und wie viele Personen zur Benutzung zugelassen werden. Zum anderen wird der Zutritt zur Universitätsbibliothek, bei Erfüllung der Zulassungsbedingungen, regelmäßig gewährt. Nach diesen Gesichtspunkten handelt es sich bei der Ausstellung in der Universitätsbibliothek um eine öffentlich zugängliche Sammlung.
Die Collage müsste auch zu den geschützten Gegenständen im Sinne des § 304 StGB gehören. Dies ist dann der Fall, wenn die Sache durch Widmung des hierzu Berechtigten die in Abs. 1 vorausgesetzte Zweckbestimmung gegeben wird. Vorsicht ist an dieser Stelle geboten, denn auf das Eigentum oder ein persönliches bzw. dingliches Nutzungsrecht kann es nicht ankommen, denn bei § 304 StGB handelt es sich nicht um ein Eigentumsdelikt. Dadurch, dass die von Studenten hergestellte Collage als Kunstgegenstand und im Einvernehmen mit den zuständigen Gremien der Universität in den Räumen der dortigen Bibliothek ausgestellt worden sind, wird diese durch Widmung auch zum Bestandteil einer öffentlichen Sammlung.
Durch die bewusste Zerstörung der Collage bestehen an der Tatbestandsmäßigkeit des § 304 StGB daher keine Zweifel.
Wirkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG)
Ob sich dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 GG bei Begehungsdelikten zumindest ein strafrechtlicher Entschuldigungsgrund entnehmen lässt, ist umstritten. Zuerst sollte aber innerhalb des Entschuldigungstatbestandes dargelegt werden, was von Art. 4 GG grundsätzlich geschützt und umfasst wird, bevor diskutiert wird, inwiefern die Beschädigung der Collage dadurch entschuldigt werden könnte.
Dem Grunde nach handelt es sich bei den verschiedenen Schutzbereichen des Art. 4 GG um ein umfassendes Grundrecht mit einem einheitlichen Schutzbereich auf Glaubensfreiheit, und zwar in den Ausprägungen der Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit. Glaubensfreiheit bedeutet dabei die Freiheit, sich eine religiöse oder auch areligiöse Überzeugung von der Stellung des Menschen in der Welt und seiner Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seins-Schichten zu bilden. Hingegen wird das Gewissen vom BVerfG als „real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen … unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind“ definiert. Eine „Gewissensentscheidung“ soll daher jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, sein. Der Schutz des Grundrechtes vollzieht sich durch eine umfassende Gewährleistung des forum internum (persönliche Überzeugung) in positiver und negativer Form. Daneben besteht aber auch ein Schutz des forum externum (Ausübung in Form einer Kundgabe) anhand des Bekenntnisses sowie des dementsprechenden Handelns.
Zu beachten ist daraufhin, dass Art. 4 GG nicht nur den Gesetzgeber in die Pflicht nimmt, sich bereits beim Erlass von Strafvorschriften auf die Pönalisierung eindeutig sozialschädlicher Verhaltensweisen zu beschränken, um die weltanschauliche und religiöse Neutralität zu wahren, sondern dass sich im Rahmen der Anwendung von Strafvorschriften zwischen den widerstreitenden Grundrechtspositionen auch nur dann eine praktische Konkordanz herstellen lässt, wenn sich die Berücksichtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Rahmen der Anerkennung eines Entschuldigungsgrundes vollzieht. Gegenüberzustellen sind an diesem Punkt also die Freiheit des Gewissenstäters sowie die von der verletzten Strafvorschrift geschützten Grundrechtspositionen anderer. Dies folgert die Literatur aus den grundgesetzlichen Vorgaben, da Art. 4 Abs. 1 GG auch die Freiheit der Gewissensbetätigung schützt und zudem lediglich verfassungsimmanenten Schranken unterliegt, welche sich aus den Grundrechten Dritter und dem grundgesetzlichem Wertesystem ergeben. Allerdings verbietet sich eine allzu uferlose Anwendung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als Entschuldigungsgrund, sodass diese von vorneherein nur auf echte Gewissensentscheidungen sowie auf Eingriffe von geringfügigem Ausmaße beschränkt bleibt.
Das OLG Hamm konnte oben anstehende Erwägungen jedoch im Ergebnis außer Acht lassen, denn der Betätigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit kann des Weiteren nur dann ein strafbarkeitsauschließender Vorrang zukommen, wenn für den Gewissenstäter keine weitere Möglichkeit mehr bestand, seine Gewissensentscheidung straffrei umzusetzen. Im vorliegenden Fall hatte sich die Angeklagte eben darüber hinweggesetzt, indem sie die ihr angebotene und zweckmäßige Möglichkeit des Überklebens der Collage missachtete und das Plakat eigenmächtig zerschnitt. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit kann aber nicht so weit reichen, fremde Interessen wie das öffentliche Nutzungsinteresse im Sinne des § 304 StGB derart zu beeinträchtigen, urteilte das OLG Hamm.
Ergebnis
Die Beschädigung der in der Universitätsbibliothek ausgestellten Collage, die als Bestandteil einer öffentlichen Sammlung anzusehen ist, ist im Sinne von § 304 StGB als gemeinschädliche Sachbeschädigung strafbar. Weiterhin ergibt sich, dass sich vorliegend aus dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG kein Entschuldigungsgrund für eine solche Beschädigung ableiten lässt, wenn wie hier die Möglichkeit bestanden hat, die Glaubens- und Gewissensentscheidung straffrei auf andere Weise (wie hier durch das Überkleben) umzusetzen. Das OLG Hamm verwarf die Revision der Angeklagten daher zu Recht als offensichtlich unbegründet (siehe § 349 Abs. 2 StPO).