A. Grundlagen kollektives Arbeitsrecht: Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines Streiks
Dieser Beitrag gibt eine grobe Übersicht über die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen eines rechtmäßigen Arbeitskampfes.
I. Zunächst einige grundlegende Gedanken vorab
1. Was ist Streik?
Streik ist ein sog. Arbeitskampfmittel. Unter Arbeitskampf wird eine kollektive Maßnahme zur Störung der Arbeitsbeziehungen verstanden, mit der die Arbeitnehmerseite oder die Arbeitgeberseite versuchen ein bestimmtes (tarifliches) Ziel zu erreichen[1]. Es besteht grundsätzlich die Freiheit der Wahl des Arbeitskampfmittels (kein Numerus clausus von Arbeitskampfmitteln). Streik ist die kollektive, planmäßige durchgeführte Einstellung der Arbeit durch eine größere Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb eines Betriebes oder eines Gewerbe- oder Berufszweiges[2]. Während eines rechtmäßigen Arbeitskampfes ruhen die Hauptleistungspflichten (Entgeltzahlung/Arbeitsleistung).
a) Arbeitskampfmittel (klassisch) auf der Arbeitnehmerseite
- Boykott
- Warnstreik
- Dienst nach Vorschrift
- Streik
b) Arbeitskampfmittel (klassisch) auf der Arbeitgeberseite
- Aussperrung
- Ggf. Streikbruchprämien
2. Sinn und Zweck? Warum gibt es Streik(recht)?
Um die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines Streiks zu verstehen ist es wichtig sich zunächst die Funktion eines Streikes vor Augen zu führen. Streik gehört zu den Arbeitskampfmitteln und ist äußerstes Mittel (Ultima Ratio) um die Tarifautonomie der Arbeitnehmerverbände (Gewerkschaften) zu gewährleisten. Arbeitskampfmittel dienen vornehmlich der Schaffung von Verhandlungsgleichgewicht (auch Kampfparität). Tarifverhandlungen bei Interessengegensatz ohne das Recht zum Streik nicht mehr als „kollektives Betteln“ (vgl. BAG vom 10.6.1980 – Az. 1 AZR 822/79).
3. Wo ist das Streikrecht geregelt?
Das Streikrecht ist in Deutschland nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sondern entwickelt aus sog. Richterrecht. Gewährt wird das Arbeitskampfrecht verfassungsrechtlich als Ausfluss der Koalitionsfreiheit bzw. Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 GG (sog. Doppelgrundrecht positive/negative Koalitionsfreiheit).
„Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG beschränkt sich nicht auf diejenigen Tätigkeiten, die für die Einhaltung und die Sicherung des Bestandes der Koalition unerlässlich sind; er umfasst alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen (BVerfGE 93, 352)“.
4. Wer darf zum Streik aufrufen?
Zum Streik aufrufen dürfen nur Koalitionen, welche Träger der Tarifautonomie sind im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG, § 2 TVG. Dies sind in der Regel die Gewerkschaften.
a) Unstreitige Merkmale einer Koalition
- Freiwilliger Zusammenschluss auf privatrechtlicher Grundlage auf „Dauer“ (keine ad-hoc Koalitionen)
- Demokratische Organisation
- Satzungsgemäßer Zweck der Vereinigung: Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
- Gegnerfreiheit und Gegnerunabhängigkeit
- Unabhängigkeit von Dritten
b) Umstrittene Merkmale einer Koalition
- Tarifwilligkeit
- Arbeitskampfbereitschaft
- Soziale Mächtigkeit/Durchsetzungsfähigkeit
- Überbetrieblichkeit
Nicht zum Streik aufrufen darf der Betriebsrat, dieser vertritt zwar im Betrieb die Rechte der Arbeitnehmer, ist jedoch keine Tarifvertragspartei und somit auch nicht Adressat der Tarifautonomie, vgl. § 74 Abs. 2 BetrVG. Das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit in § 2 Abs. 2 BetrVG wird durch § 74 Abs. 2 BetrVG ergänzt durch die betriebliche Friedenspflicht. Der Betriebsrat als Organ ist zur Neutralität verpflichtet. Das Amt des Betriebsrates wird durch den Arbeitskampf grundsätzlich nicht berührt es besteht mit allen seinen Rechten und Pflichten fort und ruht demnach auch nicht.
Grundsätzlich können jedoch auch Betriebsratsmitglieder in ihrer Funktion als Arbeitnehmer sich an Arbeitskampfmaßnahmen beteiligen, vgl. § 74 Abs. 3 BetrVG. Die dem Betriebsrat als Organ zur Verfügung gestellten Mittel, z.B. Räumlichkeiten, kommunikationstechnische Mittel (z.B. E-Mail, Intranet, Internet, Hauspost), wirtschaftliche und sachliche Mittel dürfen nicht für den Arbeitskampf eingesetzt werden (vgl. Fitting § 74 Rn. 16 ff). Fraglich bleibt, ob eine solche Unterscheidung zwischen Amtsinhaber Betriebsrat und Arbeitnehmer in der Praxis wirklich umsetzbar ist.
5. Wer darf sich an einem Streik beteiligen?
Grundsätzlich dürfen Arbeitnehmer streiken. Das Gesetz definiert den Begriff des Arbeitnehmers nicht – vielmehr wird dieser vom Begriff des Selbstständigen nach § 84 HGB abgegrenzt. Demnach ist Arbeitnehmer wer aufgrund eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages, weisungsgebunden, fremdbestimmt (Ort, Zeit, Art) in persönlicher Abhängigkeit seine Arbeit verrichtet, vgl. auch § 5 ArbGG, § 5 BetrVG.
Nach herrschender Meinungen dürfen Beamte „als Teil des Staates“ sich nicht auf ein Streikrecht berufen sondern unterliegen den sog. verankerten hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, Art. 33 Abs. 5 GG[3]. (vgl. kritisch dazu Däubler-Hensche, Arbeitskampf, § 18a Rn. 15.; EGMR 12.11.2008 Demir und Baykara ./. Türkei – gegen ein generelles Streikverbot; Art. 11 EMRK)
Anmerkungen: Ausführlich hierzu im Blog : Notiz: BVerwG Streikverbot für Beamte weiterhin gültig 27.02.2014 (2 C 1/13) und OVG NRW
II. Voraussetzungen eines rechtmäßigen Streiks
Das Arbeitskampfrecht ist in Deutschland nicht gesetzlich geregelt. Gewährt wird das Arbeitskampfrecht als Ausfluss der Koalitionsfreiheit/Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 GG. Die Rechtsprechung hat folgende Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfmittels entwickelt (sog. Richterrecht).
1. Von einer Gewerkschaft getragen
Ein Arbeitskampf muss von einer Gewerkschaft getragen sein. Spontane Arbeitsniederlegung und Aussperrungen ohne Verbandsbeschluss sind als sog. wilde Streiks nicht von der Koalitionsfreiheit/Tarifautonomie umfasst.
Anmerkung: Beachte den begrifflichen Unterschied der Koalition nach Art. 9 Abs. 3 GG und § 2 TVG, letzteres setzt eine „Tariffähigkeit“ voraus.
2. Der Streik muss sich gegen den sozialen Gegenspieler richten
Mit sozialer Gegenspieler ist in der Regel der Arbeitgeber gemeint, also derjenige der den Tarifforderungen auch nachkommen kann.
3. Tariflich regelbares Ziel/kein politischer Streik
Der Arbeitskampf (i.d.R. Streik) muss sich auf ein tariflich regelbares Ziel beziehen[4]. Nicht geschützt wird ein sog. politischer Streik als Protestaktion gegen staatliche Instanzen.
4. Kein Verstoß gegen die Friedenspflicht
Arbeitskampfmaßnahmen dürfen nicht gegen die sog. Friedenspflicht verstoßen. Es wird unterschieden zwischen der absoluten und der relativen Friedenspflicht. Absolute Friedenspflicht bedeutet, dass währen der Laufzeit eines Tarifvertrages generell keine Arbeitskampfmittel ergriffen werden dürfen. Die absolute Friedenspflicht wird kaum vereinbart werden. Relative Friedenspflicht bedeutet, dass keine Arbeitskampfmaßnahmen gegen im laufenden Tarifvertrag (abschließend) geregelte Sachverhalte geführt werden dürfen. Ob etwas abschließend durch Tarifvertrag geregelt werden sollte lässt sich im Streitfall durch Auslegung ermitteln. Oft findet man in Tarifverträgen auch sog. Öffnungsklauseln, die explizit darauf verweisen, dass dieser Sachverhalt nicht abschließend geregelt werden sollte und z.B. durch eine Betriebsvereinbarung noch der genaueren Ausformung bedarf (vgl. auch Regelungssperre § 77 Abs. 3 BetrVG).
5. Verhältnismäßig/ Ultima Ratio
Maßnahmen des Arbeitskampfes müssen stets verhältnismäßig sein[5]. Arbeitskampfmaßnahmen sollen erst als letztes Mittel (Ultima Ratio) nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten ergriffen werden. Die Rechtsprechung hat als Grenze der Arbeitskampffreiheit sich für ein sog. faire Arbeitskampfführung ausgesprochen, die hier nur exemplarisch aufgezählt werden.
- Ausfluss des Rechtsgedanken aus § 826 BGB
- Keine Anwendung von Gewalt
- Keine Betriebsblockade
- Erhaltungsarbeiten (z.B. Maschinen die durchlaufen müssen)
„Erhaltungsarbeiten, die auch während eines Arbeitskampfes zu leisten sind, sind diejenigen Arbeiten, die erforderlich sind, um die Anlagen und Betriebsmittel während des Arbeitskampfes so zu erhalten, dass nach Beendigung des Kampfes die Arbeit fortgesetzt werden kann“ (vgl. BAG v. 30.3.1982 – 1 AZR 265/80)
- Notdienstgewährleistung (z.B. Krankenhaus)
Exkurs Warnstreik
Der Warnstreik ist eine Sonderform des Streiks und beinhaltet – im Gegensatz zum richtigen Streik – eine relativ kurze Arbeitsniederlegung. Die Rechtmäßigkeit solcher Streiks während laufender Verhandlungen war lange umstritten. Solche kurzen Warnstreiks während Tarifverhandlungen nach Ablauf der Friedenspflicht sind jedoch zulässig, wenn diese von einer Gewerkschaft getragen sind und die Verhandlungen (vorerst) gescheitert sind. Warnstreiks sind ebenfalls umfasst vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit (BAG v. 17.12.1976 – 1 AZR 605/75). Das Verhältnismäßigkeit- und Ultima-Ratio-Prinzip gilt auch für Warnstreiks, ihnen muss so wie bei jedem anderen Streik der Versuch von druckfreien Verhandlungen vorangegangen sein.
III. Folgen eines rechtswidrigen Arbeitskampfes
1. Folgen eines rechtswidrigen Arbeitskampfes des Arbeitgebers
War eine Aussperrung rechtswidrig, so haben die Arbeitsnehmer Anspruch auf Zahlung des Lohnes wegen Annahmeverzug des Arbeitgebers nach § 615 BGB sowie einen einklagbaren Beschäftigungsanspruch.
Daneben steht den Gewerkschaften ein deliktischer Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB i. V. m. § 823 Abs. 1 BGB und Art. 9 Abs. 3 GG wegen unzulässigen Eingriffs in das Recht zur koalitionsmäßigen Betätigung zu. Zusätzlich kommen Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB sowie vertragliche Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 S. 1 BGB wegen der Verletzung des Tarifvertrages in Betracht.
2. Folgen eines rechtswidrigen Arbeitskampfes der Arbeitnehmer
War ein Arbeitskampfmittel/Streik rechtswidrig, so besteht wegen Verletzung der arbeitsvertraglichen Arbeitspflicht eine daraus resultierende Schadensersatzpflicht soweit auch ein Verschulden vorliegt. Ein Verschulden liegt beispielsweise nicht vor, wenn die Arbeitnehmer einem Streikaufruf der Gewerkschaft gefolgt sind, denn diese dürfen dann auf die Rechtmäßigkeit des Streikaufrufs vertrauen (vgl. BAG v. 21.3.1978 -1 AZR 11/76).
Die Verletzung der aus dem Arbeitsvertrag resultierenden Arbeitspflicht aufgrund einer Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik stellt dies grundsätzlich auch einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB dar (vgl. BAG v. 29.11.1983 – 1 AZR 469/81). Zumindest ist eine Abmahnung möglich, da das Arbeitsverhältnis nicht ruhte. Weiter in Betracht kommt eine Verletzung der Treuepflicht gem. § 241 BGB und letztlich § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. mit einem rechtswidrigen und schuldhaften Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbetriebs des Arbeitgebers.
3. Haftung der Gewerkschaft
Aus Vertragsverletzung haftet die Gewerkschaft nur bei einem schuldhaften Verstoß gegen die aus dem Tarifvertrag resultierende Friedenspflicht. Ansonsten kommt § 823 Abs. 1 BGB wegen eines schuldhaften und rechtswidrigen Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb in Betracht.
Aber beachte: Der Arbeitgeberverband hat mittels Unterlassungsklage vorbeugend beabsichtigten rechtswidrigen Streikaktionen entgegenzuwirken (vgl. BAG v. 26.4.1988 – 1 AZR 399/86). Er darf also nicht sehenden Auges die Haftung ins Uferlose laufen lassen.
Anmerkung: Prozessual werden kollektivrechtliche Streitigkeiten vor dem zuständigen Arbeitsgericht geltend gemacht und im Beschlussverfahren durchgeführt, vgl. §§ 80 ArbGG i.V.m. § 2a ArbGG, § 82 ArbGG. Im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren herrscht ein sog. Untersuchungsgrundsatz, § 83 Abs. 1 ArbGG.
B. Fazit
Das Arbeitskampfrecht in Deutschland ist nicht gesetzlich geregelt sondern wurde durch sog. Richterrecht entwickelt. Es gibt durch die Rechtsprechung entwickelte Voraussetzungen, die vorliegen müssen damit ein Arbeitskampf rechtmäßig ist. Während eines rechtmäßigen Arbeitskampfes ruhen die Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsvertrag. Bei der Ergreifung von Arbeitskampfmittel sind immer Verhältnismäßigkeit (Ultima Ratio) und ein faire Kampfführung (Erhaltung von Notdiensten, Erhaltungsarbeiten) zu beachten.
[1] Kittner/Zwanziger/Deinert, Arbeitsrecht, § 136 Rn. 1.
[2] Creifelds, Rechtswörterbuch, S.1321.
[3] BVerwG v. 27.02.2014 (2 C 1/13).
[4] BAG v. 19.6.1973.
[5] BAG v. 21.4.1971.