Das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis gehört zu den meistgeprüften Themengebieten des ersten Staatsexamens (vgl. dazu die Statistik in Preis/Prütting/Sachs/Weigend, Die Examensklausur, 6. Aufl. 2017, S. 7). Ein solides Grundlagenwissen ist hier unumgänglich (s. unseren Grundlagenbeitrag zum Eigentümer-Besitzer-Verhältnis). Zu diesem Grundlagenwissen zählt vor allem die Abschlussfunktion des EBV. Der gutgläubige und unverklagte, mit anderen Worten redliche Besitzer soll privilegiert werden, indem das Regelungssystem des EBV abschließende Geltung jedenfalls für Nutzungs- und Schadensersatzansprüche des Eigentümers bildet (streitig ist dies hinsichtlich etwaiger Verwendungsersatzansprüche). So gibt es § 993 Abs. 1 a.E. BGB vor. Gleichwohl sind auch Konstellationen denkbar, in denen diese Sperrwirkung zu unbilligen Ergebnissen führt. Dies deshalb, weil der unrechtmäßige Fremdbesitzer in einer derartigen Konstellation besser stünde als im Falle des bestehenden Besitzrechts, in dem keine Vindikationslage vorläge und die §§ 823 ff. BGB unstreitig Anwendung fänden. Die Problematik lässt sich in zwei Fallkonstellationen unterteilen und wie folgt ordnen:
I. Drei-Personen-Verhältnis
Im Drei-Personen-Verhältnis ist die Problematik durch § 991 Abs. 2 BGB geregelt: „War der Besitzer bei dem Erwerb des Besitzes in gutem Glauben, so hat er gleichwohl von dem Erwerb an den im § 989 bezeichneten Schaden dem Eigentümer gegenüber insoweit zu vertreten, als er dem mittelbaren Besitzer verantwortlich ist.“ Es handelt sich um eine eigene Anspruchsgrundlage; § 991 Abs. 2 BGB sollte also nicht im Rahmen der §§ 989, 990 BGB geprüft werden. Die Norm regelt den Fremdbesitzerexzess jedenfalls für Fälle, in denen der redliche Fremdbesitzer (der Besitzmittler) dem Oberbesitzer (also dem mittelbaren Besitzer) gegenüber wegen der Beschädigung der Sache verantwortlich ist. Es geht also um Fälle, in denen der Fremdbesitzer sein vermeintliches Besitzrecht gutgläubig nicht vom Eigentümer, sondern von einem Dritten ableitet. Dahinter steht letztlich der Rechtsgedanke der richterechtlich begründeten Drittschadensliquidation (a.A. BeckOK-BGB/Fritzsche, 46. Ed. 2018, § 991 BGB Rn. 12), denn der Vertragspartner hat keinen Schaden, da er nicht zugleich Eigentümer ist, aber einen Anspruch; der Eigentümer hingegen hat wegen der Sperrwirkung des EBV zwar einen Schaden, aber eigentlich keinen Anspruch; die zufällige Schadensverlagerung liegt in der unerwarteten Eigentumslage. Diese Konstellation lässt sich mit einem Blick in das Gesetz mithin relativ gut lösen – soweit man sie erkennt.
Beispiel 1: Albert (A) mietet von Berthold (B) einen schicken Porsche. Beide Parteien sind hinsichtlich der Eigentumslage gutgläubig; tatsächlich ist der Porsche allerdings der Clara (C) gestohlen worden. Durch eine Fahrlässigkeit des Mieters A, der den Porsche mit zu hoher Geschwindigkeit über den Nürburgring lenkte, wurde das Fahrzeug beschädigt. Es fragt sich nun, wie A gegenüber C haftet.
A ist im Verhältnis zu B unmittelbarer Fremdbesitzer; B dagegen ist mittelbarer Besitzer. Ansprüche der wahren Eigentümerin C gegen A lassen sich nicht auf die §§ 989, 990 BGB stützen, da zwar eine Vindikationslage gegeben ist – der Mietvertrag wirkt nur inter partes –, A aber im Zeitpunkt des Besitzerwerbs gutgläubig war, so dass nach § 993 Abs. 1 a.E. BGB auch deliktsrechtliche Ansprüche ausscheiden. Unter Heranziehung des § 991 Abs. 2 BGB kann C den Schaden aber dennoch von A ersetzt verlangen, da A dem B gegenüber verantwortlich wäre. Hier gilt es allerdings zu beachten, dass sich der Haftungsumfang nach diesem Innenverhältnis richtet, sodass auch vereinbarte Haftungsprivilegierungen greifen. Prütting fasst die dahinterstehende Wertung prägnant zusammen: § 991 Abs. 2 BGB beruht auf der Erwägung, „dass der Fremdbesitzer nur in dem Maße eine Haftungsfreistellung verdient, als er sich bei seinem Verhalten in den Grenzen des Rechts hält, das er zu haben glaubt.“ (Prütting, Sachenrecht, 36. Aufl. 2017, Rn. 539). Anders formuliert: „Der Fremdbesitzer wird nur insoweit von der Haftung freigestellt, als er im Rahmen des Schuldverhältnisses mit dem Dritten darauf vertrauen durfte, die schädigende Handlung entschädigungslos vornehmen zu können.“ (Vieweg/Werner, Sachenrecht, 8. Aufl. 2018, § 8 Rn. 16).
II. Zwei-Personen-Verhältnis
Schwieriger gestaltet sich dagegen das Zwei-Personen-Verhältnis, in dem der Fremdbesitzer sein vermeintliches Besitzrecht vom wahren Eigentümer herleitet. Dies lässt sich anhand eines kurzen Beispiels exemplifizieren:
Beispiel 2: Mieter M lebt in der Wohnung des Eigentümers und Vermieters V. Der geschlossene Mietvertrag ist jedoch unwirksam, was den Vertragsparteien unbekannt ist. Eines Abends entzündet sich in der besagten Wohnung ein Brand, der auf eine starke Unachtsamkeit des M im Umgang mit dem geschmückten Tannenbaum zurückzuführen ist und zu einer starken Beschädigung der Räumlichkeiten führt. Es fragt sich nun, inwieweit M dem V gegenüber haftet.
Ausgangspunkt der Überlegung ist wie bereits angedeutet, dass der unrechtmäßige Fremdbesitzer M allein auf Grund der Tatsache, dass der Vertrag zum Eigentümer und Vermieter V unwirksam ist, nicht besser stehen darf, als wenn der Vertrag wirksam wäre. Daraus folgt die Erkenntnis, dass der unrechtmäßige Fremdbesitzer dem Eigentümer genauso haften muss, wie er bei tatsächlich bestehendem Besitzrecht (dann als sog. Nicht-so-berechtigter Besitzer) gehaftet hätte. Einen Haftungsunterschied zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Fremdbesitzer zu Gunsten des letzteren darf es nicht geben. Es handelt sich also auch hier um einen Fremdbesitzerexzess, denn der Fremdbesitzer überschreitet sein vermeintlich bestehendes Besitzrecht und ist insoweit nicht schutzwürdig, denn er weiß, dass er im Besitz einer fremden Sache ist, mit der nicht nach Belieben umgehen kann. Nach den §§ 989 ff. BGB kann der Fremdbesitzer dem Eigentümer und Vermieter V jedoch auf Grund der gegebenen Gutgläubigkeit nach § 932 Abs. 2 BGB analog nicht haften. Da eine Vindikationslage im Sinne des § 985 BGB im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses aber dennoch gegeben war (V war Eigentümer, M war Besitzer, hatte aber wegen des unwirksamen Mietvertrages kein Recht zum Besitz gemäß § 986 BGB), sind deliktsrechtliche Ansprüche gesperrt, § 993 Abs. 1 a.E. BGB. Deshalb wird für derartige Fälle eine Ausnahme von der Sperrwirkung des EBV konstruiert. Schon das Reichsgericht hatte hier eine direkte Anwendung der §§ 823 ff. BGB bejaht (RGZ 157, 132, 135), der BGH war dem später gefolgt (BGHZ 31, 129, 132). Die heute ganz h.M. im Schrifttum konstruiert dies dogmatisch über eine teleologische Reduktion des Ausschließlichkeitsgrundsatzes, § 993 Abs. 1 a.E. BGB (näher BeckOK-BGB/Fritzsche, 46. Ed. 2018, § 993 BGB Rn. 10 m.w.N.). Gleichwohl kommt auch eine Herleitung über eine Analogie zu den §§ 989 ff. BGB in Betracht, die in der Lehre teilweise auf §§ 989, 990 Abs. 2 BGB gestützt wird (Baur/Stürner, SachenR, 18. Aufl. 2009, § 11 Rn. 32, wobei unklar bleibt, warum eine planwidrige Regelungslücke vorliegen soll, wenn der Gesetzgeber das Drei-Personen-Verhältnis mit § 991 Abs. 2 BGB doch eindeutig geregelt hat), teilweise aber auch über den Rechtsgedanken des § 991 Abs. 2 BGB begründet wird (MüKo-BGB/Raff, 7. Aufl. 2017, § 991 BGB Rn. 19; Wieling, MDR 1972, 650). Das heißt zusammengefasst: Bei bestehendem Besitzrecht müsste der Besitzer für die Überschreitung des Besitzrechts vertraglich und deliktisch haften, Nutzungen vertraglich bezahlen oder aber hilfsweise über die Regelungen der Geschäftsführung ohne Auftrag oder ungerechtfertigten Bereicherung herausgeben. Da eine Privilegierung des unrechtmäßigen Fremdbesitzers hier aber nicht angezeigt und eine Schutzwürdigkeit ebenso wenig erkennbar ist, ist eine Haftung aus Bereicherungs- und Deliktsrecht gegeben. Damit haftet M dem V etwa aus § 823 Abs. 1 BGB.
III. Summa
Der Fremdbesitzerexzess lässt sich also in Abhängigkeit von der zu Grunde liegenden Fallkonstellation entweder mit einem Blick in das Gesetz (im Drei-Personen-Verhältnis) oder aber durch eine Vergleichsbetrachtung mit der Haftung des rechtmäßigen Besitzers (im Zwei-Personen-Verhältnis) in den Begriff bekommen.
Zum Schluss sei allerdings noch auf zwei Feinheiten hingewiesen, die erst in der jüngeren Literatur herausgebildet wurden. Erstens: Besteht Erbenbesitz im Sinne des § 857 BGB an einer Sache, bleibt die Sperrwirkung des § 993 Abs. 1 a.E. BGB erhalten (str.; instruktiv Magnus, NJW 2017, 1201, 1206). Zweitens: Ist der zu Grunde liegende Vertrag zwischen Fremdbesitzer und vermeintlichem Eigentümer unwirksam, kann auch eine Haftung aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB diskutiert werden. Wiederum ist der tragende Gedanke dahinter, dass der unrechtmäßige Fremdbesitzer im Falle der Unwirksamkeit des Vertrages nicht schlechter stehen soll als der rechtmäßige Fremdbesitzer, bei dem eine Haftung aus culpa in contrahendo ebenfalls denkbar ist (s. Neuner, Sachenrecht, 5. Aufl. 2017, Rn. 106).
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