Anm. zu BGH, Urteil vom 14. März 2012 – 2 StR 547/11
1. Worum geht´s?
Nach den Feststellungen der Vorinstanz wurde das spätere Tatopfer Y am Vorabend der Tat der Diskothek J.-Club verwiesen, deren Betreiber der Angeklagte C war und in der die übrigen Angeklagten als Türsteher arbeiteten. Aus Verärgerung holte Y aus seiner Wohnung eine mit einer Reizgaspatrone geladene Schreckschusspistole. Er kehrte zurück und schoss im Vorraum der Diskothek eine Hartplastikkugel in Richtung eines der Türsteher, die diesen jedoch verfehlte. Durch das gleichzeitig austretende Reizgas erlitt ein anderer Türsteher Augenreizungen. Infolge des Vorfalls verließen die anwesenden Gäste sofort die Diskothek, ohne ihre Rechnungen zu begleichen. Am nächsten Tag traf sich Y mit den Angeklagten an der Diskothek, um sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Als Y sich an den C wandte, fragte dieser ihn, ob er ihn „verarschen“ wolle, versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige und forderte „wegen der Rufschädigung und als Ausgleich“ 80.000 Euro. Versuche des Y, sich telefonisch bei Bekannten Geld zu leihen, blieben erfolglos. Während er zusammengekauert auf einem Hocker saß, schlugen ihn mehrere Türsteher mit der flachen Hand ins Gesicht. Hierbei äußerte C: „Entweder kommen die 80 Mille oder deine Leiche geht hier raus!“ Ein weiterer Türsteher zog ihm die Hose so weit herab, dass das nackte Gesäß zu sehen war. Die Angeklagten kündigten Y an, er werde jetzt „gefickt“. Nunmehr hielt einer der Türsteher die Mitangeklagten von weiteren Bestrafungsaktionen ab. Im Laufe der Auseinandersetzung hatte C seine Forderung zunächst auf 50.000,- Euro und schließlich auf 10.000,- Euro reduziert, wobei Y noch am selben Abend 3.000,- Euro zahlen sollte. Sodann wurde ein gemeinsamer Bekannter zum J.-Club bestellt, der bereit war, für Y zu bürgen. Von dem Geschehen hatten die Angeklagten Handyvideos gefertigt, verbunden mit der Drohung, diese für den Fall der Nichtzahlung zu verbreiten. Y erlitt bei dem Vorfall u.a. Prellungen und Hämatome sowie eine Versteifung des Vordergliedes des rechten Zeigefingers. Da er um sein Leben fürchtete, flog er noch am gleichen Tag in die Türkei.
Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung gewertet. Einen versuchten erpresserischen Menschenraub (§ 239a StGB) hat es mit der Begründung verneint, die Angeklagten hätten in der Vorstellung gehandelt, ihnen stehe ein Zahlungsanspruch in Höhe von 80.000,- Euro gegen den Geschädigten Y zu. (Sachverhalt leicht gekürzt wiedergegeben.)
2. Was sagt der BGH?
a) Der BGH weist zunächst die Ansicht des Landgerichts zurück, wonach ein erpresserischer Menschenraub vorliegend bereits deswegen ausscheide, weil die Angeklagten von einem Zahlungsanspruch gegen den Geschädigten ausgegangen seien.
aa) Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für diese Wertung der Vorinstanz ist zunächst der Umstand, dass der erpresserische Menschenraub gem. § 239a Abs. 1 StGB als (unvollkommen) zweiaktiges Delikt ausgestaltet ist: Danach erfordert dieser neben einer „Entführungs-„ bzw. „Bemächtigungshandlung“ des Täters als „erstem Akt“ zusätzlich noch – „zweiter Akt“ –
- im subjektiven Tatbestand die von Anfang an geplante Ausführung einer Erpressung (Entführungstatbestand, Alt. 1);
- oder aber, wenn dieser Entschluss erst nach Beginn der Tathandlung reift, sogar eine (zumindest in den Versuchsbereich vorgerückte) objektive Verwirklichung derselben (Ausnutzungsvariante, Alt. 2).
In jedem Fall muss der Täter daher mit dem Vorsatz handeln, mithilfe der Entführung bzw. Bemächtigung eine tatbestandsmäßige Erpressung i.S.d. § 253 (§ 255) StGB zu begehen. Bei diesem Tatbestand wiederum ist u.a. gefordert, dass der Täter handelt, um sich oder einen Dritten „zu Unrecht zu bereichern“. Die Rechtswidrigkeit der Bereicherung stellt dabei im Rahmen des § 253 StGB (ebenso wie bei § 263 StGB oder auch – dort im Hinblick auf die Zueignungsabsicht – bei den §§ 242, 249 StGB) ein echtes normatives Tatbestandsmerkmal dar. Somit ist es von der allgemeinen Rechtswidrigkeit der Tat zu scheiden, bei der Fehlvorstellungen allenfalls zu einem Erlaubnistatbestandsirrtum führen können, welcher die Vorsatzschuld entfallen lässt (s. hierzu nur den „Hells-Angels“-Fall des BGH vom letzten Jahr – Aufbereitung hier). Für den (objektiven) Ausschluss der Rechtswidrigkeit der Bereicherung kommen dabei insbesondere bestehende zivilrechtliche Ansprüche des Täters in Betracht, die sich auf den Bereicherungsgegenstand beziehen. Vorliegend nun könnte man aufgrund der vergangenen Geschehnisse in der Diskothek an einen Schadensersatzanspruch des C gegen Y aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB denken oder auch – nach dem Sachverhalt allerdings eher fernliegend – an eine Forderung wegen Eingriffs in den ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 823 Abs. 1 BGB).
bb) Der BGH hat demgegenüber angenommen, dass eine ausreichende Vorstellung der Angeklagten im Hinblick auf einen zivilrechtlichen Anspruch gegen Y jedenfalls in Höhe des geforderten Betrages nicht hinreichend begründet gewesen sei. Er stellt insofern zunächst den generellen Maßstab dar:
Jedoch genügt es für den Erpressungsvorsatz, wenn der Täter es für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass die Forderung nicht oder nicht im Umfang des Nötigungsziels besteht oder aber von der Rechtsordnung nicht geschützt ist. Nur wenn der Täter klare Vorstellungen über Grund und Höhe des geltend gemachten Anspruchs hat, fehlt es ihm an dem Bewusstsein einer rechtswidrigen Bereicherung.
Sodann führt der BGH aus, warum dieser Maßstab nach Maßgabe der durch die Vorinstanz getroffenen Feststellungen nicht erfüllt ist:
Die Ausführungen des Landgerichts, der von dem Angeklagten C zunächst geforderte Betrag von 80.000 Euro erscheine angesichts des den Angeklagten neben einem Schmerzensgeld zustehenden Ausgleichsanspruchs für Umsatzverluste nicht abwegig, wenn es durch Rufverlust zur Schließung der Diskothek komme (…), belegen, dass das Landgericht den Prüfungsmaßstab für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bereicherung verkannt hat. (…) Feststellungen zur Höhe des entgangenen Gewinns aufgrund des fluchtartigen Verhaltens der Gäste enthält das Urteil nicht. Hinsichtlich möglicher künftiger Umsatzeinbußen, zu deren Höhe sich das Urteil ebenfalls nicht verhält, bestand kein fälliger Anspruch auf Zahlung (§ 252 BGB), sondern allenfalls ein zivilrechtlicher Feststellungsanspruch. (…) Naheliegende Umstände, die dagegen sprechen könnten, dass die Angeklagten nicht nur vage, sondern klare Vorstellungen über Grund und Höhe der von ihnen geltend gemachten Forderung hatten, hat das Landgericht nicht erkennbar in seine Überlegungen einbezogen. (…) Hinzu kommt, dass der Angeklagte C seine Forderung von ursprünglich 80.000 Euro im Laufe des Tatgeschehens zunächst auf 50.000 Euro und schließlich auf 10.000 Euro reduzierte.
cc) Ist daher nach dem BGH der Vorsatz zur Vornahme einer (räuberischen) Erpressung bei den Angeklagten nicht ausgeschlossen, sieht er allerdings aus einem anderen Grund den hiermit verknüpften Tatbestand des erpresserischen Menschenraubs als nicht erfüllt an: So führt er aus, dass es im Hinblick auf den vom Tatopfer letztendlich geforderten Betrag i.H.v. 10.000,- Euro jedenfalls an einem funktionalen Zusammenhang mit der Bemächtigungslage des § 239a StGB fehle:
Zwar hatten sich die Angeklagten des Geschädigten Y bemächtigt, jedoch wohl nicht in der Erwartung, dass die erpresserische Forderung noch innerhalb der Bemächtigungslage erfüllt werden sollte. Vielmehr kam es ihnen nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe darauf an, den Geschädigten während der Dauer der Zwangslage einzuschüchtern und seine entsprechende Bereitschaft zu einer späteren Zahlung nach erfolgter Freilassung zu wecken (…).
Das Erfordernis eines solch „funktionalen Zusammenhangs“ ergibt sich dabei nach h.M. aus der gebotenen restriktiven Auslegung des § 239a StGB: Danach muss gerade die durch die Bemächtigung geschaffene, gesicherte Zwangslage zur Verwirklichung des weiteren Nötigungsziels eingesetzt werden.
dd) Zuletzt ist bzgl. des erpresserischen Menschenraubs noch anzumerken, dass – entgegen der Vorinstanz – wohl nicht lediglich ein Versuch des § 239a StGB, sondern wenn überhaupt dessen Vollendung in Rede stand: Denn da die Erpressung in der Entführungsalternative des § 239a Abs. 1 StGB lediglich geplant, im Rahmen der Ausnutzungsalternative – zumindest nach der Rspr. – nur versucht sein muss (BGH, NStZ 2007, 32; krit. dazu Joecks, Studienkommentar StGB, 7. Aufl. 2007, § 239a Rn. 20a m.w.N.), steht das Ausbleiben des vom Täter erstrebten Nötigungserfolgs einer Vollendung nicht entgegen (vgl. auch § 239a Abs. 4 StGB, der bei „Verzicht auf die erstrebte Leistung“ lediglich eine fakultative Strafmilderung nach Art einer tätigen Reue formuliert).
b) Im Folgenden irritiert allerdings, dass der Senat im unmittelbaren Anschluss an die Verneinung des erpresserischen Menschenraubs auf die Möglichkeit der Verwirklichung des „Geschwister“-Tatbestandes zu § 239a StGB , nämlich der Geiselnahme nach § 239b StGB verweist:
Ob insoweit gegebenenfalls eine Geiselnahme (§ 239b Abs. 1 StGB) in Betracht kommt, wird der neue Tatrichter auf der Grundlage der neu zu treffenden Feststellungen zu erwägen haben.
aa) Irritierend ist diese Feststellung deshalb, da die Rspr. (jedenfalls bisher) auch für die Geiselnahme einen entsprechenden funktionalen Zusammenhang zwischen den dort ebenfalls zu findenden Tathandlungen der „Entführung“ bzw. „Bemächtigung“ mit der zumindest subjektiv anvisierten, weiteren Nötigung des Opfers gefordert hat. Dazu nur BGH, Urteil v. 20.09.2005 – 1 StR 86/05 (= NStZ 2006, 36 ff. m. insoweit zust. Anm. Jahn/Kudlich, NStZ 2006, 340):
Nach der Rechtsprechung des BGH ist es erforderlich, dass zwischen der Entführung eines Opfers und einer beabsichtigten Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang derart besteht, dass der Täter das Opfer während der Dauer der Entführung nötigen will (…) und die abgenötigte Handlung auch während der Dauer der Zwangslage vorgenommen werden soll (…). Denn der Zweck dieser Strafvorschrift, die schon wegen ihrer hohen Mindeststrafe der einschränkenden Auslegung bedarf, besteht gerade darin, das Sich-Bemächtigen oder die Entführung des Opfers deshalb besonders unter Strafe zu stellen, weil der Täter seine Drohung während der Dauer der Zwangslage jederzeit realisieren kann.
Die Annahme eines parallelen Erfordernisses des „funktionalen Zusammenhangs“ sowohl bei § 239a als auch bei § 239b StGB erscheint dabei insofern überzeugend, als beide Delikte im objektiven Tatbestand identisch sind und nur im Rahmen des subjektiv geplanten bzw. ins Versuchsstadium getretenen zweiten Handlungsakts divergieren: Während bei § 239a Abs. 1 StGB eine Erpressung mit entsprechender Bereicherungsabsicht gefordert ist, lässt § 239b StGB grds. jedwedes Nötigungsziel ausreichen – wobei der Tatbestand freilich die hierzu genutzten Nötigungsmittel auf besonders qualifizierte Drohungen bzw. Gewalteinwirkungen beschränkt (Drohung mit Tod, schwerer Körperverletzung oder Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer).
bb) Im Übrigen ist zu beachten, dass – abzüglich des wohl auch für § 239b StGB fehlenden funktionalen Zusammenhangs – in dem Fall, dass dem Diskothekenbesitzer C und seinen Kumpanen tatsächlich eine Forderung i.H.v. 800.000,- Euro zugekommen wäre, dies der Verwirklichung des Tatbestands der Geiselnahme dennoch nicht entgegengestanden hätte: Denn da diese Vorschrift sich nicht zu einer spezifisch rechtswidrigen Bereicherungsabsicht äußert, sondern grds. jedweden Nötigungszweck genügen lässt, ist auch das Ziel, das Opfer zur Begleichung einer tatsächlich bestehenden Forderungen zu zwingen, erfasst. Allenfalls im Rahmen der allgemeinen Rechtwidrigkeitsprüfung wäre dann noch zu untersuchen, ob ein berechtigtes Zahlungsbegehren den Tatbestand eines Rechfertigungsgrundes auszufüllen vermag bzw. die Verwerflichkeit der mit der Bemächtigung/Entführung verknüpften Nötigung nach § 240 Abs. 2 StGB ausschließt. Ein solches dürfe indes bereits im Hinblick auf den Einsatz der von § 239b StGB geforderten intensiven Nötigungsmittel (s.o.) stets ausscheiden.
c) Schließlich hat der BGH auch die Berücksichtigung einer vom Landgericht nicht bejahten Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) angemahnt. Geht man davon aus, dass sowohl der erpresserische Menschenraub als auch die Geiselnahme in Zwei-Personen-Verhältnissen eine gewisse „Stabilisierung“ der Bemächtigungslage verlangen, um diese Tatbestände von der „einfachen“ (räuberischen) Erpressung bzw. sonstigen Nötigungsdelikten abgrenzen zu können (vgl. dazu nur Kindhäuser, LPK, 4. Aufl. 2010, § 239a Rn. 26 m.w.N.), wird § 239 StGB regelmäßig (mit-)erfüllt sein – und tritt freilich bei gleichzeitiger Bejahung eines der vorgenannten Delikte zurück. Liegt hingegen (wie vom Landgericht angenommen) nur eine Nötigung im Tateinheit mit Körperverletzungsdelikten vor, kann der Freiheitsberaubung durchaus eine eigenständige Bedeutung zukommen.
3. Warum ist die Entscheidung wichtig?
Die Entscheidung lohnt sich zu merken, da – neben den eher in Nebenrollen auftretenden Körperverletzungsdelikten – einige bekannte Tatbestände aus dem Umfeld der Vermögens- und Freiheitsdelikte zur Debatte stehen. Demgemäß eignet sie sich sowohl für eine mündliche Prüfung als auch (als Teilstück) einer größer angelegten Examensklausur. Aus Prüfersicht ist dabei namentlich die Abgrenzung des § 239a StGB von einer „einfachen“ räuberischen Erpressung (Stichwort: Zweiaktigkeit, funktionaler Zusammenhang) interessant. Mit dem Vorbringen, dass die Täter von der Durchsetzung eines berechtigten Anspruchs ausgingen, kann außerdem das Verständnis des Prüflings bzgl. der Einordnung des Merkmals der „Rechtswidrigkeit“ der Bereicherungsabsicht abgeprüft werden. Schlussendlich ist das Erkennen der „Auffangfunktion“ des § 239b StGB in diesem Zusammenhang, der auch bei Abnötigung berechtigter Forderungen eingreifen kann, nicht uninteressant.