Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf.
Was genau verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Kriminologie“? Wie und durch welche prägenden Köpfe hat sich diese Wissenschaft entwickelt? Und wieso ist sie für uns als Jurist*innen, die wir eher dogmatisch mit dem Recht arbeiten, eine weitere wichtige Wissenskomponente?
I. Kriminologie und Kriminalstatistik
Diesen Fragen widmen wir uns im folgenden Beitrag und beginnen dabei zunächst ganze vorne – nämlich bei dem Wortursprung. „Kriminologie“ setzt sich zusammen aus dem Wort „crimen“ (lat. für Verbrechen) und dem Suffix „logos“ (griech. für Lehre). Die Kriminologie ist also zunächst einmal schlicht die „Lehre vom Verbrechen“. Eingeordnet wird sie in die nichtjuristischen Kriminalwissenschaften und verstanden als interdisziplinäre empirische Wissenschaft (vgl. Weber, Rechtswörterbuch, 29. Ed. 2022). In den nichtjuristischen Kriminalwissenschaften steht sie neben der Kriminalistik: Während sich die Kriminalistik als Wissenschaft von den Mitteln und Methoden der Verbrechensbekämpfung definiert, ist die Kriminologie die Wissenschaft vom abweichenden Verhalten und den darauffolgenden gesellschaftlichen Reaktionen (vgl. Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl. 2020, S. 22 Rn. 3; Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 1 Rn. 5f.). Kriminalist*innen klären konkrete Sachverhalte um konkrete Straftaten auf, wohingegen Kriminolog*innen ein weitergehendes Interesse haben und mittels eines sozialwissenschaftlichen Blicks Verbrechen in ihrer Allgemeinheit untersuchen. Gesucht wird in der Kriminologie nach Gesetzmäßigkeiten im strafrechtlichen Kontext. Untersucht werden die Ursachen von Verbrechen. Strafrechtssysteme werden kritisch hinterfragt und „von außen“ beäugt: Wer wird Verbrecher*in und wieso? Ist der Mensch in der Entscheidung Verbrecher*in zu werden autonom oder determiniert? Wie wirkt das Strafrecht und wie soll es wirken? Helfen das Strafrecht und seine Institutionen überhaupt im Rahmen der Verbrechensbekämpfung?
II. Untersuchungsgegenstände der Kriminologie
Im Fokus der Kriminologie steht also die Erforschung der Ursache kriminellen Verhaltens (vgl. Weber, Rechtswörterbuch, 29. Ed. 2022). Grundlage dieser Erforschung bilden soziologische und natürliche Ansätze und nicht nur der juristische Kriminalitätsbegriff, nach dem nur das kriminell ist, was der Staat aktuell verbietet. Denn dieser ist politisch und staatlich gebunden und bezieht sich ausschließlich auf Rechtsnormen. Es käme stets darauf an, was im „Hier und Jetzt“ strafbar ist. War beispielsweise Vergewaltigung in der Ehe bis 1997 nicht strafbar, war zu dieser Zeit nach dem juristischen Kriminalitätsbegriff solches Verhalten auch nicht kriminell. Heutzutage ist das (glücklicherweise) anders zu beurteilen. Soziologische und natürliche Ansätze sind auch orientiert an Moral- und Wertvorstellungen. Durch diese weiteren Ansätze kann die Kriminologie kritisch sein und ist nicht an die Beurteilungen des Gesetzgebers gebunden. Ebenso konträr zu der uns bekannten juristischen Definition, wird in der Kriminologie oftmals keine Differenzierung zwischen Vergehen und Verbrechen vorgenommen (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 1 Rn. 11). § 12 StGB bleibt regelmäßig ungeachtet und „Verbrechen“ als ein (leichter oder auch grober) Verstoß gegen die Rechtsordnung definiert. Der kriminologische und kriminalsoziologische Untersuchungsgegenstand ist mithin viel weiter und wird unter dem sogenannten abweichenden Verhalten zusammengefasst. Dieses bezeichnet alle Verhaltensoptionen, die alternativ zu den allgemeinen Kultur-, Norm-, oder Wertevorstellungen bestehen (vgl. Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl. 2020, S. 22 Rn. 3). Abweichend verhält sich folglich nicht nur, wer gegen ein Strafgesetz verstößt, sondern z.B. auch, wer im Straßenverkehr zu schnell fährt (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 1 Rn. 14).
III. Geschichte der Kriminologie
Die Genese der Kriminologie als eigenständige Wissenschaft geht auf die ersten Kriminalitätstheorien im 18. Jahrhundert zurück. Diese Kriminalitätstheorien speisten sich hauptsächlich aus einer prägenden Frage: „Ist der Mensch autonom und in seiner Entscheidung frei oder ist er determiniert und vorbestimmt?“ (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 1 Rn. 29, § 3 Rn. 1, 15ff.). Seit jeher versuchen Kriminolog*innen diese Frage zu beantworten und kommen dabei nicht immer zu demselben Schluss. Das geflügelte Wort „zwei Jurist*innen, drei Meinungen“ mag also auch auf Kriminolog*innen übertragbar sein.
Am Anfang steht die „klassische Schule“ mit ihren Hauptdenkern Cesare Beccaria (1738-1794) und Jeremy Bentham (1748-1832) (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 2 Rn.3ff.). Beide vertraten ein indeterministisches Menschenbild, nach dem jeder Mensch Verbrecher*in sein oder auch nicht sein könne; jeder Mensch ein frei und eigenverantwortlich handelndes Wesen sei und Kriminalität aus einer freien Erwägung heraus geschehe. Während Beccaria als Humanist die Vermeidung krimineller Taten durch Bildung, Erziehung und die Belohnung von regelkonformem Verhalten anstrebte (vgl. Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl. 2020, S. 26 Rn. 16), vertrat Bentham als Utilitarist das Prinzip der Abschreckung. Der Mensch als zweckorientiertes Wesen könne nur in seiner Abwägung zwischen Streben nach Lust und Vermeiden von Schmerz beeinflusst werden. Davon überzeugt entwickelte er auch Pläne für eine „perfekte“, total überwachte Strafanstalt – das Panopticon.
Im 19. Jahrhundert entstand die „positivistische Schule“, getragen von Cesare Lombroso (1835-1909) und seinen Schülern Enrico Ferri und Raffaele Garofalo. Mit dieser wurde dem zuvor vertretenen autonomem Menschenbild der Rücken gekehrt. Menschliches Verhalten, also auch die Begehung von Verbrechen, sei durch Faktoren determiniert, die jenseits individueller Kontrolle lägen. Gewisse Menschen seien von Geburt an vorbestimmt, kriminell zu werden (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 2 Rn. 8). Lombroso, beeinflusst vom Darwinismus, formulierte dazu eine biologische bzw. anthropologische Kriminalitätstheorie. Er befasste sich mit der Erstellung von „Verbrechertypen“ anhand biologischer Merkmale wie Körperbau, Gesichtsform oder Körperbehaarung (vgl. Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl. 2020, S. 27 Rn.17). Unter Anwendung wissenschaftlich bekannter Methoden, wie beispielsweise mittels Vermessung von Körpern, versuchte Lombroso die Ursachen und das Entstehen von Kriminalität zu erklären. Er suchte, aufgrund äußerlicher Auffälligkeiten Verbrecher*innen zu identifizieren. Ein korrektes Ergebnis vermochte er damit logischerweise nicht zu erzeugen. Seine Lehren standen schon damals als unhaltbar in der Kritik. Sein Gedankengut machte sich jedoch der Nationalsozialismus zu eigen. Ausprägungen dessen finden sich noch in § 211 StGB, dem die „Tätertypenlehre“ zugrunde liegt.
Auf der einen Seite die klassische Schule, auf der anderen die positivistische, entschied sich Franz von Liszt (1851-1919) für eine vermittelnde Position. Auf ihn geht die sogenannte „Anlage-Umwelt-Formel“ zurück (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 2 Rn. 13). Mit dieser Formel strebte von Liszt an, die isolierte Sichtweise beider Ansätze aufzuheben: Kriminalität sei danach das Resultat genetischer Ausstattung (Anlage) wie auch Prägung durch äußere Einflüsse (Umwelt). Nur die Kumulation beider Faktoren führe zu einem vollumfänglichen Erklärungsansatz. Niemand sei als Verbrecher*in geboren; keine äußeren Einflüsse seien für sich allein genommen genuin ursächlich. Auf dieser Überzeugung aufbauend äußerte von Liszt in seinem „Marburger Programm“ kriminalpolitische Forderungen nach neuen und an Täter*innen angepassten Strafformen und setzte sich so für ein individualpräventiv ausgerichtetes Strafrecht ein (vgl. Meier, Kriminologie, 6. Aufl. 2021, § 2 Rn. 13f.; Krüper, Grundlagen des Rechts, 3. Aufl. 2017, § 8 Rn.28).
IV. Strafzwecktheorien – die relativen Straftheorien
Die Strafzwecktheorien beschäftigen sich mit dem Sinn und Zweck des Strafens und sind wohl seit Semester 1 bekannt. Während nach der absoluten Straftheorie nach Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Strafen allein vergeltungsgerichtet ist, sehen die relativen Straftheorien die Aufgabe des Strafens darin, weiteren Verbrechen vorzubeugen (vgl. Krüper, Grundlagen des Rechts, 3. Aufl. 2017, § 8 Rn. 19). Diese Verbrechensvorbeugung spaltet sich auf in General- und Spezialprävention; so solle zum einen auf die Allgemeinheit und zum anderen auf den oder die jeweilige*n Täter*in eingewirkt werden (vgl. MüKo StGB/Radtke, 4. Aufl. 2020, Vorb. zu § 38 Rn. 34ff.). Nach der positiven Generalprävention soll durch Strafen die Rechtstreue der Allgemeinheit gefördert; nach der negativen Generalprävention potentielle Täter*innen abgeschreckt werden (vgl. Krüper, Grundlagen des Rechts, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn 12ff.; MüKo StGB/Radtke, 4. Aufl. 2020, Vorb. zu § 38 Rn. 35). Mittels positiver Spezialprävention soll durch individuelle Besserung der oder die Täter*in davon abgehalten werden, weitere Straftaten zu begehen; die negative Spezialprävention setzt dabei auf Individualabschreckung und Sicherung von Täter*innen (vgl. MüKo StGB/Radtke, 4. Aufl. 2020, Vorb. zu § 38 Rn. 41). Auf wen gehen nun diese Ansätze zurück? Nicht nur Paul Johann Anselm von Feuerbach sollte dabei ein bekannter Name sein (vgl. Krüper, Grundlagen des Rechts, 3. Aufl. 2017, § 8 Rn. 20): Ebenso die Kriminologen Cesare Beccaria und – dann differenzierter – Franz von Liszt haben die Ausrichtung des Strafrechts am Zweck- und Präventionsgedanken festgemacht (vgl. Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl. 2020, S. 26, 27 Rn. 16, 18). Nicht umsonst wird von Liszt auch „Vater der Spezialprävention“ genannt. Sein Gedankengut ist in die Strafrechtsreformen des 20. Jahrhunderts eingeflossen, wodurch es u.a. zu einem resozialisierendem Strafvollzug, zur Abschaffung kurzer Freiheitsstrafen, Strafaussetzung zur Bewährung und besonderen Maßnahmen gegenüber jugendlichen Straftäter*innen kam. Es galt das „Primat des Erziehungsgedanken“. Denn die Besserungsfähigen sollten auch gebessert werden (vgl. Krüper, Grundlagen des Rechts, 3. Aufl. 2017, § 8 Rn. 28). Sein Schüler Franz Exner (1881-1947) bereicherte seine Forderungen um das „zweispuriges Strafrecht“, das neben Strafen im herkömmlichen Sinne (Freiheits- und Geldstrafen) angepasst an die jeweiligen Bedürfnisse der Täter*innen auch „Sicherungsmittel“ (heute: Maßregeln der Besserung und Sicherung) vorsah.
V. Kritische Kriminologie: Abolitionismus und Punitivität
Der eingangs gestellten Frage, ob das Strafrecht und seine Institutionen überhaupt im Rahmen der Verbrechensbekämpfung helfen, widmen sich u.a. zwei kritische Strömungen kriminalpolitischer Diskussionen: Abolitionismus und Punitivität.
Die Lehre vom Abolitionismus ist die Lehre (oder auch Philosophie) von der Straffreiheit. Historische Ursprünge findet sie in der Forderung nach der Abschaffung der Sklaverei sowie der Abschaffung des Prostitutionsverbotes. In der Kriminologie ist der Abolitionismus als Begriff seit den 1980ern wieder geläufig und drückt ganz allgemein die Forderung nach Straffreiheit aus. Darunter fallen Forderungen, die sich auf die Entkriminalisierung und Legalisierung bestimmter Sachverhalte (zB Schwarzfahren oder Cannabis), auf die Abschaffung von Gefängnissen oder sogar die Abschaffung des gesamten Strafrechts beziehen. Es handelt sich teils um theoretische Konzepte und teils um praktische Kriminalpolitik. Der Gefängnisabolitionismus beispielsweise kritisiert bestehende Praxen des Strafvollzugs und fordert die Abschaffung von Gefängnissen. Kritisiert wird, dass der Strafvollzug nicht wirksam zur Rehabilitierung und Resozialisierung von Täter*innen beitragen würde. Als Alternative wird u.a. die außerstrafrechtliche Streitschlichtung vorgeschlagen.
Der Begriff „Punitivität“ stammt von dem lateinischen Wort „punire“ (bestrafen) ab. Gemeint sind die Bereitschaft und der Wunsch, Normabweichungen hart bzw. härter zu sanktionieren (vgl. Lautmann/Klimke, Punitivität als Schlüsselbegriff für eine Kritische Kriminologie, in: 8. Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim 2004, S. 9–29). Punitivität kann als eine Art Gegenpart zum Abolitionismus verstanden werden. Abgezielt wird auf mehr Gehorsam gegenüber staatlichen Institutionen und Normen durch mehr Sicherheitsmaßnahmen, wobei Freiheitsrechte Einzelner zurücktreten müssen und sollen. Dass die Geisteshaltung der Punitivität nach wie vor ein Teil des aktuellen Diskurses ist, zeigt sich nicht zuletzt auch an der (politischen) Debatte, die über das Handeln und Bestrafen von Klima-Aktivist*innen geführt wird.
Die Wissenschaft der Kriminologie bereicherte das Strafrecht nicht nur vor langer Zeit um das Verständnis von Kriminalität, die relativen Straftheorien und präventive Ansätze zur Verbrechensbekämpfung, sondern erweitert nach wie vor durch ihren kritischen und hinterfragenden Blick die aktuelle Strafrechtspraxis. Durch ihre Verbindung zu vielen weitere Wissenschaften wie Soziologie, Psychologie oder Anthropologie als Bezugswissenschaften, schafft sie einen vollumfänglichen Blick auf Kriminalität. Dieses Gesamtbild kann nicht nur sehr spannend, sondern auch im (Schwerpunkt-)Studium sowie der Praxis sehr hilfreich sein.