Kürzlich ist das viel beachtete Urteil des hessischen VGH (Kassel) vom 31.01.2013 (8 A 1245/12) zur Wohnungsprostitution in Frankfurt am Main veröffentlicht worden.
I. Sachverhalt
Der in erster Instanz vor dem VG Frankfurt am Main unterlegene Kläger begehrt die Aufhebung einer Untersagungsverfügung der Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main, mit der ihm verboten wurde, die Räumlichkeiten im Hinterhaus seines Grundstücks als bordellartigen Betrieb zur Verfügung zu stellen.
Untersuchungen des Ordnungsamts der Stadt Frankfurt am Main hatten ergeben,
dass in vom Kläger vermieteten, insgesamt 44,52 m² großen Räumen im Hinterhaus auf seinem Hausgrundstück A-Straße ein „XX-Massagestudio“ betrieben wurde, in dem gegen Entgelt sexuelle Handlungen mehrerer spärlich oder gar nicht bekleideter Frauen angeboten werden (sog. Handentspannung, auch den Genitalbereich erfassende Ganzkörpermassagen). Für diese Zwecke standen in dem freistehenden Hinterhaus drei – jeweils mit Bett, Nachttisch und Schrank ausgestattete – Zimmer zur Verfügung, außerdem befanden sich im Haus sanitäre Einrichtungen und eine Kochnische.
Das räumliche Umfeld des Hausgrundstücks ist bauplanungsrechtlich als Mischgebiet ausgewiesen. In der Nähe befinden sich u.a. zwei Kindertagesstätten (etwa 200 Meter Entfernung von dem betreffenden Grundstück), eine Realschule in etwa 100 Meter Entfernung, ein größeres Betriebsgelände der Frankfurter Entsorgungs- und Service GmbH, ein Müllheizkraftwerk der Stadt. Äußerlich war die Nutzungsart des Hauses nicht erkennbar. Die Untersuchungen des Ordnungsamtes hatten außerdem ergeben, dass für das Massagestudio in der Frankfurter Innenstadt (für Ortskundige: im Bereich Hauptwache) auf einer Werbetafel (unter Angabe von Lage und Kontaktdaten) und im Internet (unter Angabe intimer Details der dort tätigen Damen) geworben wurde.
Die Untersagungsverfügung stützte die Oberbürgermeisterin auf § 11 HSOG (Generalklausel) und einen Verstoß gegen die Verordnung des Regierungspräsidiums Darmstadt zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes in Frankfurt am Main (Sperrgebietsverordnung) vom 23.12.1986, in der derzeit gültigen Fassung. Die Berufung des Klägers auf das klageabweisende erstinstanzliche Urteil des VG Frankfurt am Main wurde wegen besonderer Schwierigkeiten rechtlicher Art und grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 3 VwGO) zugelassen. Der VGH hat nunmehr das erstinstanzliche Urteil, die Untersagungsverfügung der damaligen Oberbürgermeisterin und ihren im Verwaltungsverfahren erlassenen Widerspruchsbescheid aufgehoben.
II. Die Entscheidung des VGH
Die (zulässige) Anfechtungsklage ist begründet, soweit der Verwaltungsakt (die Untersagungsverfügung) rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Hinreichende Ermächtigungsgrundlage: § 11 HSOG iVm der Sperrgebietsverordnung von 1986?
Als belastender Verwaltungsakt bedurfte der Erlass der Untersagungsverfügung einer Ermächtigungsgrundlage.
In Betracht kommt insoweit § 11 HSOG wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit.
Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit sind, neben den Individualrechtsgütern (insbesondere individuelle Grundrechtspositionen), der Schutz der Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung sowie der Schutz des Bestands und der Veranstaltungen des Staates und anderer Hoheitsträger (zu den wichtigsten Begriffen des Polizei- und Ordnungsrechts siehe hier).
- Verstoß gegen die Sperrgebietsverordnung
Ein Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung – und damit eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit – könnte in einem Verstoß gegen die Sperrgebietsverordnung liegen. § 1 der Sperrgebietsverordnung enthält ein allgemeines Prostitutionsverbot für bestimmte Frankfurter Stadtgebiete. Die §§ 3 und 4 enthalten Ausnahmen von dem allgemeinen Prostitutionsverbot (sog. Toleranzzonen). Im Übrigen, also auch für das Grundstück des Klägers, gilt § 2:
In dem übrigen Stadtgebiet ist es mit Ausnahme der in den Abs. 3 und 4 bezeichneten Gebiete verboten, auf öffentlichen Straßen, Wegen, Plätzen, in öffentlichen Anlagen und an sonstigen Orten, die von dort aus eingesehen werden können, sowie in Prostituiertenwohnheimen, Prostituiertenunterkünften und ähnlichen Einrichtungen (unter anderem in sogenannten Massagesalons und sonstigen überwiegend von Prostituierten genutzten Häusern) der Prostitution nachzugehen.
Dass die als „Massagesalon“ genutzten Räumlichkeiten des Klägers mit dem Wortlaut dieser Frankfurter Sperrgebietsverordnung nicht vereinbar sind, dürfte jedem klar sein. Fraglich ist allerdings, ob eine Sperrgebietsverordnung aus dem Jahre 1986 (die zuletzt 1993 überarbeitet wurde) auch heute noch uneingeschränkt zur Unterbindung der Wohnungsprostitution herangezogen werden kann. Wie vom Kläger schon im Verwaltungsverfahren geltend gemacht, hat sich die gesellschaftliche Akzeptanz der Prostitution einem Wandel unterzogen. Dieser Wandel hat sich auf Bundesebene in dem Erlass des Prostitutionsgesetzes im Jahre 2002 auch rechtlich manifestiert. Dass Sperrgebietsverordnungen gleichwohl im Grundsatz weiterhin zulässig und zur Gefahrenabwehr auch notwendig sind, zeigt der bundesrechtliche Hintergrund:
- Bundesgesetzliche Ermächtigungsgrundlage Art. 297 Abs. 1 EGStGB
Die bundesgesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Sperrgebietsverordnung enthält Art. 297 Abs. 1 EGStGB und lautet (auszugsweise):
Die Landesregierung kann zum Schutze der Jugend oder des öffentlichen Anstandes
(…)
durch Rechtsverordnung verbieten, der Prostitution nachzugehen.
- Bundesrechtskonforme Auslegung
Der VGH ist der Ansicht, dass diese Verordnungsermächtigung vor dem beschriebenen Hintergrund einer Einschränkung bedarf:
Die weitgehende Legalisierung der Prostitution durch das am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Prostitutionsgesetz hat allerdings eine Beschränkung der Ermächtigungsreichweite bei der Anwendung dieser Vorschrift zur Folge, die im vorliegenden Fall entscheidungsrelevant ist.
Was bedeutet dieser Befund nun für das rechtliche Schicksal der Sperrgebietsverordnung und den Bestand der Untersagungsverfügung? Der VGH rezitiert dazu eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. April 2009 – 1 BvR 224/07, die sich mit den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes auf Art. 297 Abs. 1 EGStGB befasst. Danach ist die
weiterhin gültige Verordnungsermächtigung in Art. 297 Abs. 1 S.1 Nr. 2 EGStGB nicht obsolet; dieses Gesetz und der darin manifestierte Wandel der gesellschaftlichen Akzeptanz der Prostitution verbieten es jedoch, bei der Anwendung dieser Bestimmung allein ihre Ausübung außerhalb ausgewiesener Toleranzzonen ohne konkrete Bewertung daraus resultierender schädlicher Auswirkungen auf die Nachbarschaft, insbesondere auf dort lebende Jugendliche und Kinder, als Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung einzustufen.
Der Schutz des öffentlichen Anstandes, den Art. 297 Abs. 1 EGStGB bezweckt, meint eben nicht den Schutz herrschender sittlicher Moralvorstellungen. Vielmehr dient die Verordnungsermächtigung der Gefahrenabwehr. Sie verfolgt das Ziel, das Zusammenleben der Menschen zu ordnen, soweit ihr Verhalten sozialrelevant ist. Soziale Relevanz hat ein Verhalten, wenn es nach außen in Erscheinung tritt und (deshalb) das Allgemeinwohl beeinträchtigen kann. Bei Handlungen und Zuständen, die eine enge Beziehung zum Geschlechtsleben haben, sind Belange des Allgemeinwohls nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann beeinträchtigt, wenn andere Personen, die von diesen Handlungen und Zuständen unbehelligt bleiben wollten, erheblich belästigt werden. Dies gilt insbesondere für die Begleitumstände der Prostitution.
Für den vorliegenden (wie für jeden vergleichbaren) Fall bedeutet dies,
dass eine öffentlich nicht wahrnehmbare Prostitutionsausübung, wie sie hier vorliegt, nicht mehr durch den Vollzug einer Sperrgebietsverordnung unterbunden werden kann, die keine konkrete Belästigung der Öffentlichkeit durch Begleiterscheinungen der Prostitution voraussetzt.
In eine auf Art. 297 Abs. 1 EGStGB gestützte Sperrgebietsverordnung ist also das Erfordernis einer konkreten Belästigung der Öffentlichkeit durch Begleiterscheinungen der Prostitution hineinzulesen. Mittel zu diesem Zweck ist eine bundesrechtskonforme Auslegung der Verordnung.
2. Formelle Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung
Zur formellen Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung musste der VGH keine Ausführungen machen. Natürlich ließen sich an dieser Stelle in einer Klausur die üblichen Probleme einbauen (zur unterlassenen Anhörung siehe etwa hier).
3. Materielle Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung
Der VGH legt § 2 Sperrgebietsverordnung bundesrechtskonform unter Berücksichtigung der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts aus und prüft, ob die außerhalb der Toleranzzonen liegende Prostitutionsausübung in den Räumlichkeiten des Klägers eine konkrete Belästigung der Öffentlichkeit darstellt.
- Definition: weitere Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht
Wann eine solche konkrete Belästigung der Öffentlichkeit anzunehmen ist, hat das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung weiter veranschaulicht. Danach kann eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange vorliegen, wenn die Eigenart des betroffenen Gebietes durch eine besondere Schutzbedürftigkeit und Sensibilität, z.B. als Gebiet mit hohem Wohnanteil sowie Schulen, Kindergärten, Kirchen und sozialen Einrichtungen gekennzeichnet ist und wenn eine nach außen in Erscheinung tretende Ausübung der Prostitution typischerweise damit verbundene Belästigungen Unbeteiligter und milieubedingte Unruhe, wie zum Beispiel das Werben von Freiern und anstößiges Verhalten gegenüber Passantinnen und Anwohnerinnen, befürchten lässt.
- Subsumtion des VGH
Der VGH verneint im vorliegenden Fall eine konkrete Belästigung der Öffentlichkeit mit folgenden Argumenten:
Prostitution tritt nach außen nicht in Erscheinung
Die Wohnungsprostitution wird in Räumlichkeiten ausgeübt, die sich in einem der Straße abgewandten Hinterhaus befinden. Wegen der beschränkten Zahl der dort tätigen Prostituierten tritt zudem allenfalls geringer Publikumsverkehrs auf. Vor diesem Hintergrund tritt die Prostitution ohne jeden Hinweis auf die konkrete Nutzung des Gebäudes schon nicht – wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert –nach außen in Erscheinung.
Jugendschutz nicht tangiert – nicht jede Möglichkeit der Kenntnisnahme ausgeschlossen
Kindertagesstätten und Realschule sind von dem betreffenden Grundstück so weit entfernt, dass die konkreten, äußerlich wahrnehmbaren Begleiterscheinungen der dortigen Prostitutionsausübung – wie etwa die An- und Abfahrt von Kunden – von den dort betreuten Kindern und Jugendlichen nicht als solche wahrgenommen werden können. Anders wäre es allenfalls dann, wenn sie anders – namentlich durch die Werbetafel in der Innenstadt – von der Prostitutionsausübung erfahren würden. Im Hinblick auf die Kinder der Kindertagesstätte besteht diese Möglichkeit aber schon faktisch nicht. Eine zufällige Kenntnisnahme von der Prostitutionsausübung im Massagestudio kommt für die Realschüler zwar grundsätzlich in Betracht. Die Ermächtigung in Art. 297 EGStGB verfolgt aber nach Ansicht des Gerichts auch nicht den Zweck, Jugendliche vor jeder Kenntnisnahme von dem Phänomen der Prostitution zu bewahren.
Kein seelischer Schaden zu befürchten
Der VGH geht offenbar davon aus, dass öffentliche Belange beeinträchtigt werden, wenn bei Kenntniserlangung von der betriebenen Prostitution die Gefahr eines seelischen Schadens Jugendlicher bestünde. Bezogen auf Jugendliche (jedenfalls solche aus einer Großstadt wie Frankfurt am Main (!)) verneint er dies aber im vorliegenden Fall:
Dass die in erster Linie „gefährdeten“ Schülerinnen und Schüler der nahe gelegenen L.-Realschule bei Kenntnisnahme von der Werbung für das „C.-Massagestudio“ seelischen Schaden nehmen könnten, ist auszuschließen, da Kinder und Jugendliche in dieser Altersgruppe – zumal in einer Großstadt wie Frankfurt – jederzeit durch allgemein zugängliche Quellen und geradezu zwangsläufig mit Prostitution konfrontiert werden und sich im Zuge ihres Reifeprozesses mit diesem mittlerweile gesellschaftlich als unvermeidlich akzeptierten Phänomen auch auseinandersetzen sollten.
III. Fazit
Entscheidungen zum behördlichen Einschreiten gegen Wohnungsprostitution im Lichte der gewandelten gesellschaftlichen Anschauung der Prostitution sind keine Seltenheit. Wir berichteten kürzlich etwa zu einem Fall, in dem es um die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines „nichtmedizinischen“ Massagesalons in einem reinen Wohngebiet ging. Da sich die Räumlichkeiten im vorliegenden Fall in einem bauplanungsrechtlich als Mischgebiet (§ 6 BauNVO) ausgewiesenen Bereich befinden, wäre ein bauordnungsrechtliches Einschreiten gemessen an den insoweit entwickelten Kriterien wohl nicht in Betracht gekommen (siehe dazu ebenfalls die bereits zitierte Entscheidung). In einer Klausur ließe sich je nach Konstellation eine solche Prüfung aber gut einbauen. Die Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt am Main musste auf die Generalklausel (in Hessen: § 11 HSOG) zurückgreifen und zur Konkretisierung die Gebote und Verbote der Sperrgebietsverordnung heranziehen. Diese ist allerdings bundesrechtskonform dahin auszulegen, dass die Wohnungsprostitution nur untersagt werden darf, wenn eine konkrete Belästigung der Öffentlichkeit durch Begleiterscheinungen der Prostitution vorliegt. Der VGH verneint zwar im vorliegenden Fall eine solche Beeinträchtigung, seine Argumente zeigen aber, dass ein anders gelagerter Sachverhalt durchaus eine abweichende Entscheidung zugelassen hätte. Es bedarf also in einer Klausur stets einer sorgfältigen Auswertung sämtlicher angebotener Fakten.
Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht auch noch ein Blick auf die wesentlichen Inhalte des viel zitierten Prostitutionsgesetzes: Diese umfassen einen rechtswirksamen Anspruch der Prostituierten auf das vereinbarte Entgelt (§ 1 ProstG), dessen fehlende Abtretbarkeit und den weitgehenden Ausschluss von Einwendungen gegen den Anspruch (§ 2 ProstG) sowie den Zugang zur Sozialversicherung (§ 3 ProstG). Darüber hinaus wurde die Strafbarkeit der Förderung der Prostitution und der Zuhälterei durch Art. 2 ProstG eingeschränkt. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich zudem, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die Vereinbarung über ein Entgelt für sexuelle Leistungen und auch die Tätigkeit selbst nicht gegen die guten Sitten verstoßen, vgl. BT-Drucks. 14/5958, Seite 4, 6.