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Schlagwortarchiv für: Feststellungsklage

Philip Musiol

VG Berlin zum Carsharing: Gemeingebrauch oder Sondernutzung?

Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verwaltungsrecht

Das VG Berlin hatte am 01.08.2022 über einen Eilantrag von zwei Carsharing-Unternehmen zu entscheiden (Az. 1 L 193/22). Inhaltlich befasst sich die Entscheidung mit der Frage, ob es sich beim Abstellen von für stationsungebundenes Carsharing genutzten Fahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum um erlaubnisfreien straßenrechtlichen Gemeingebrauch oder um genehmigungspflichtige Sondernutzung handelt.

I. Sachverhalt

Die antragstellenden Carsharing-Unternehmen bieten in Berlin stationsungebundenes Carsharing an. Sie stellen also ihren Kunden die Pkw ohne festen Abhol- und Rückgabeort zur Verfügung. Die Kunden mieten die Pkw dabei über eine App, über die sich die Pkw auch lokalisieren, öffnen und nach Ende der Benutzung wieder schließen lassen. Nach Ende der Nutzung werden die Pkw im öffentlichen Verkehrsraum (auf Parkplätzen) abgestellt.

Nach dem zum 1. September 2022 geänderten Berliner Straßengesetz sollen auf das gewerbliche Anbieten von Carsharing-Fahrzeugen, die selbstständig reserviert und genutzt werden können, die Vorschriften über die Sondernutzung öffentlicher Straßen anwendbar sein. Danach wären die antragstellenden Unternehmen unter anderem verpflichtet, eine Sondernutzungserlaubnis zu beantragen und Gebühren zu entrichten. Mit ihrem Antrag begehrten die Antragstellerinnen im vorläufigen Rechtsschutz die Feststellung, dass das von ihnen betriebene Carsharing keine erlaubnispflichtige Sondernutzung öffentlicher Straßen darstellt.

II. Die Entscheidung

Das VG Berlin gab den Antragstellerinnen Recht. Die Vorschriften über die Sondernutzung öffentlicher Straßen seien nicht anwendbar, weil es sich bei stationsungebundenem Carsharing um erlaubnisfreien Gemeingebrauch handele. Dies gelte auch für das Abstellen der Pkw im öffentlichen Raum. Denn zu der bestimmungsgemäßen Nutzung der öffentlichen Straßen gehöre neben dem fließenden Verkehr auch der ruhende Verkehr (also das Parken), solange das betreffende Fahrzeug zum Verkehr zugelassen und betriebsbereit sei. Nach Ansicht des VG Berlin überwiegt der gewerbliche Zweck, den die Antragstellerinnen mit dem Abstellen der Pkw verfolgen, auch nicht den Zweck der Benutzung der Straßen zum Verkehr.

III. Einordnung der Entscheidung

Es handelt sich zwar „nur“ um eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz, gegen die zudem Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht eingelegt werden kann. Aber dennoch lohnt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Entscheidung: Denn die Frage, ob die (teilweise) gewerbliche Nutzung von öffentlichen Straßen Gemeingebrauch oder Sondernutzung ist, lässt sich auf vielerlei Fallkonstellationen (u.a. E-Scooter, Mietfahrräder) übertragen. Außerdem lassen sich sämtliche Fragestellungen hierzu ohne vertieftes Spezialwissen argumentativ beantworten, was die Thematik besonders examensrelevant macht.

Die Frage, ob es sich bei der Nutzung öffentlicher Straßen und Wege um Sondernutzung oder Gemeingebrauch handelt, richtet sich nach dem Landesrecht (s. etwa §§ 14, 18 StrWG NRW; §§ 16, 19 HmgWG). Nach den landesrechtlichen Vorschriften, die sich im Wesentlichen entsprechen, fällt unter den erlaubnisfreien Gemeingebrauch jeder Gebrauch der öffentlichen Straßen im Rahmen der Widmung und der verkehrsrechtlichen Vorschriften. Kein Gemeingebrauch liegt demgegenüber vor, wenn die Straße nicht vorwiegend zum Verkehr benutzt wird, dem sie zu dienen bestimmt ist. Die Bestimmung des Zwecks, zu dem die Straße benutzt wird, erfolgt dabei nach dem äußeren Erscheinungsbild der Straßennutzung. Sofern die Verkehrszwecke mit anderen Zwecken zusammentreffen, kommt es darauf an, was der vorrangige Zweck der Straßennutzung ist (BVerwG, Beschl. v. 28.08.2012 − 3 B 8/12, NVwZ 2012, 1623 Rn. 9 ff.). So viel zu der Ausgangslage.

In einem zweiten Schritt ist Arbeit am Fall gefragt: Es muss konkret herausgearbeitet werden, welchen Zweck der Anbieter (Carsharing/E-Scooter/Fahrräder) durch das Abstellen seiner Fortbewegungsmittel im öffentlichen Raum vorrangig verfolgt. Klar ist dabei, dass der Anbieter stets zumindest auch gewerbliche Zwecke verfolgt, da er die Nutzung der Fortbewegungsmittel nur gegen Abschluss eines Mietvertrags anbietet. Anerkannt ist, dass mit dem Anbieten von Waren oder Dienstleistungen (Aufstellen von Kaugummiautomaten oder Altkleidercontainern) verkehrsfremde Zwecke verfolgt werden. Gleichzeig liegt es in der Natur der Sache, dass die Pkw oder E-Scooter von den Kunden der Unternehmen zu Fortbewegungszwecken und damit zur Ortsveränderung genutzt werden. Für die Annahme, dass die Pkw zur Benutzung der Straßen zum Verkehr im öffentlichen Raum abgestellt werden, spricht weiterhin der Umstand, dass sie nach jedem Abstellen wieder zu Zwecken der Ortsveränderung in Betrieb genommen werden sollen. Wie gesehen fällt sowohl der fließende als auch der ruhende Verkehr unter den Begriff des Gemeingebrauchs. Entscheidend kommt es also auf eine Abwägung zwischen den verfolgten Zwecken an.

Hier gibt es wohl keine eindeutig richtige oder falsche Lösung: So hat OVG Münster entschieden, dass das Abstellen von Mietfahrrädern im öffentlichen Straßenraum eine erlaubnispflichtige Sondernutzung sei (Beschluss vom 20.11.2020 – 11 B 1459/20, NJW 2020, 3797), zehn Jahre zuvor ordnete das OVG Hamburg das Abstellen von Mietfahrrädern auf öffentlichen Wegeflächen dem Gemeingebrauch zu (Beschluss vom 19. 6. 2009 – 2 Bs 82/09, NVwZ-RR 2010, 34). Das OVG Münster begründete seine Entscheidung damit, dass die im öffentlichen Straßenraum abgestellten Fahrräder nicht nur Mietgegenstand seien, sondern vielmehr eine Aufforderung zum Abschluss eines Vertrages enthielten (wobei es offenlässt, ob es sich um eine invitatio ad offerendum oder eine offerta ad incertas personas handelt). Dieses Argument gilt für Mietfahrräder und E-Scooter gleichermaßen: Es liegt nahe, dass potenzielle Kunden den Entschluss zur Nutzung eines Mietfahrrads oder eines E-Scooters erst spontan fassen, nachdem sie im öffentlichen Verkehrsraum auf das abgestellte und betriebsbereite Fortbewegungsmittel aufmerksam werden. Damit kommt im öffentlichen Raum abgestellten Fahrrädern und Rollern eine nicht unerhebliche Werbewirkung zu. Hiervon ist die Konstellation des Carsharings zu unterscheiden: Kunden eines Carsharing-Unternehmens werden einen Pkw typischerweise nicht aufgrund eines spontanen Entschlusses in Anspruch nehmen. Vielmehr liegt nahe, dass sie einen Pkw nur dann nutzen – und ggf. zuvor mittels der App lokalisieren – wenn sie schon zuvor den Entschluss zur Nutzung gefasst haben. Vor diesem Hintergrund ließe sich vertreten, dass insoweit der gewerbliche Zweck – verglichen mit den zuvor genannten anderen Beispielen – gegenüber der Nutzung der Straße zu Verkehrszwecken weiter in den Hintergrund rückt.

Wichtig ist, dass die beiden möglichen Zwecksetzungen erkannt, benannt und sauber gegenübergestellt werden. Aufgrund der „Flut“ von E-Scootern in den Innenstädten und der wachsenden Beliebtheit von Carsharing-Angeboten handelt es sich sicherlich um eine Thematik, die in Zukunft noch häufiger die Gerichte und Prüfungsämter beschäftigen wird.

08.08.2022/1 Kommentar/von Philip Musiol
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Philip Musiol https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Philip Musiol2022-08-08 07:02:162022-10-24 14:49:28VG Berlin zum Carsharing: Gemeingebrauch oder Sondernutzung?
Carlo Pöschke

Brandschutz nur vorgeschoben: Räumung und Abriss von Baumhäusern im Hambacher Forst rechtswidrig

Baurecht, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verwaltungsrecht

Mit Urteil vom 08.09.2021 (Az.: 23 K 7046/18, BeckRS 2021, 25334) hat sich das Verwaltungsgericht Köln zur Rechtmäßigkeit der Räumung und des Abrisses von Baumhäusern im Hambacher Forst geäußert. Der Tenor des Urteils dürfte hinreichend bekannt sein, schließlich hat die Entscheidung des VG Köln den vergangenen Bundestagswahlkampf maßgeblich mit beeinflusst. Inzwischen ist das Urteil im Volltext verfügbar. Eine eingehende Beschäftigung mit der Entscheidung ist vor allem für fortgestrittene Studenten ratsam. Die nachfolgenden Ausführungen wurden an das geltende Baurecht angepasst. Freilich bezieht sich die Darstellung auf das nordrhein-westfälische Landesrecht. Angesichts der Tatsache, dass die entscheidenden Aussagen des VG Köln solche des allgemeinen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrechts sind und das Verwaltungsvollstreckungsrecht in den Ländern an §§ 6 ff. BVwVG angelehnt und damit strukturell weitgehend parallel ist, dürfte der Fall insbesondere aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit auch außerhalb der Landesgrenzen von Nordrhein-Westfalen in Prüfungsaufgaben einziehen.
 
A. Sachverhalt (dem Tatbestand des Urteils entnommen, vereinfacht und leicht abgewandelt)
In den Jahren 2012 bis 2018 errichteten Gegner des Braunkohlebergbaus in den verbliebenen Teilflächen des Hambacher Forstes eine Vielzahl von Baumhäusern, Plattformen in Bäumen, Holzunterständen und Zelten auf dem Erdboden, Lagerflächen und anderen Anlagen. Im Laufe des Jahres 2018 beabsichtigte das dort tätige Energieunternehmen die Rodungen im Hambacher Forst mit Beginn der Rodungsperiode ab Oktober 2018 fortzusetzen, zugleich verstärkten sich die Proteste gegen dieses Vorhaben. Im Juli 2018 beantragte das dort tätige Energieunternehmen bei der großen kreisangehörigen Stadt Kerpen, die Räumung von Waldbesetzungen in Teilbereichen der Reste des Hambacher Forstes zum Zwecke der planmäßigen Fortsetzung des genehmigten Braunkohletagebaus Hambach zu verfügen und zwangsweise durchzusetzen. Diesen Antrag lehnte der Bürgermeister der Stadt Kerpen mit bestandskräftigem Bescheid ab. In der Folge fanden Besprechungen im Ministerium des Innern NRW unter Beteiligung von Vertretern des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung NRW (im Folgenden: Bauministerium), des Verfassungsschutzes, des Kreises Düren und der Stadt Kerpen statt. Ausweislich der in den Akten der Stadt Kerpen befindlichen Niederschriften über diese Besprechungen befürworteten insbesondere die Vertreter der Polizei und des Ministeriums des Innern NRW ein baurechtliches Vorgehen gegen die Anlagen im Hambacher Forst. Die Vertreter der unteren Bauaufsichtsbehörden lehnten dies weit überwiegend ab. In einer E-Mail vom 06.09.2019 erklärte der zuständige Abteilungsleiter an mehrere Beteiligte, das mit Blick auf ein Verfahren beim OVG NRW die geplanten Rodungen im Hambacher Forst nicht vor Ablauf der zweiten Oktoberwoche beginnen würden, sodass spätestens bis zu diesem Zeitpunkt die Räumung erfolgt sein müsse.
Am 12.09.2018 erließ das Bauministerium eine Weisung gegenüber den oberen Bauaufsichtsbehörden (Bezirksregierung Köln und Rhein-Erft-Kreis). Hiermit gab das Ministerium den oberen Bauaufsichtsbehörden unter anderem auf, im Wege der Aufsicht die betroffenen unteren Bauaufsichtsbehörden umgehend anzuweisen, die folgende Maßnahme zu treffen: „Im Wege des Sofortvollzuges sind beginnend ab Donnerstag, dem 13. September 2018, 7:00 Uhr, auf Grundlage von § 20 Abs. 1 S. 2 OBG NRW i.V.m. § 82 Abs. 1 BauO NRW die baulichen Anlagen in Gestalt der Baumhäuser im Hambacher Forst unter vorheriger Ankündigung zu räumen und diese baulichen Anlagen zu beseitigen.“ Zur Begründung führte das Ministerium im Kern aus, im Rahmen der durchgeführten Ortsbesichtigung seien Wohn- und Lagerstrukturen entdeckt worden, die offenkundig der längerfristigen Unterbringung von Menschen dienen sollten. Es seien Verstöße gegen das materielle Bauordnungsrecht gegeben, insbesondere seien Bestimmungen des Brandschutzes verletzt. Die Entscheidung berücksichtige die überragende Rolle der bauordnungsrechtlichen Brandschutzvorschriften. Bei der Einschätzung der Dringlichkeit einer Gefahr mit Bezug auf den Brandschutz seien auch die örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Insoweit bestehe die eindeutige Einschätzung, dass bei einem Brand- und Unglücksfall im Hambacher Forst eine zeitnahe Rettung der im Forst befindlichen Personen nicht gewährleistet sei. Aufgrund des Zustands und der Lage der baulichen Anlagen bestehe eine akute Lebensgefahr, sodass die weitere Nutzung der baulichen Anlagen nicht vertretbar sei. Der Abriss der Anlagen sei auch verhältnismäßig, insbesondere sei die alleinige Untersagung der Nutzung nicht hinreichend effektiv, da mit einer Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen sei. Nach Erkenntnissen der Polizei- und Verfassungsschutzbehörden sei die Nutzerstruktur im Hambacher Forst zu einem signifikanten Anteil von gewaltbereiten Personen durchsetzt. Bei erneuter Aufnahme der Nutzung sei davon auszugehen, dass sich Vorfälle wie in der Vergangenheit, bei denen Polizisten angegriffen und zum Teil durch den Beschuss mit „Zwillen“ schwer verletzt worden seien, wiederholen würden. Dies gelte es zu verhindern. Schließlich sei es auch erforderlich, im Wege des Sofortvollzugs zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr vorzugehen. Dies gelte gerade mit Blick auf die erheblichen brandschutzrechtlichen Gefahren.
Am Morgen des 13.09.2018 begann die Räumung der Anlagen im Hambacher Forst, gefolgt von der Beseitigung der Anlagen. So widerfuhr es auch X, der eines der Baumhäuser seit längerer Zeit bewohnte. Zuvor verlas ihm der Bürgermeister der Stadt Kerpen folgenden Text: „Das von Ihnen genutzte Baumhaus ist zu räumen und muss beseitigt werden. Ich untersage Ihnen die weitere Nutzung des Baumhauses. Es besteht Gefahr für Leib und Leben. Es liegen schwerwiegende Verstöße gegen geltendes Bauordnungsrecht vor. Ihr Baumhaus verfügt nicht über die erforderlichen Rettungswege. Es wurde entgegen der einschlägigen brandschutzrechtlichen Vorschriften errichtet, die erforderliche Erschließung ist nicht sichergestellt, die Verkehrssicherheit ist nicht gegeben und die Standsicherheit ist nicht sicher gewährleistet. Sofern Sie das Baumhaus nicht freiwillig innerhalb der nächsten 30 Minuten räumen und dessen Nutzung unterlassen, werde ich die Räumung in Anwendung des unmittelbaren Zwangs vornehmen. Bitte nehmen sie beim Verlassen des Baumhauses ihre persönlichen Gegenstände mit.“
K erhob daraufhin Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht Köln mit dem Antrag, den von der Stadt Kerpen durchgeführten Sofortvollzug zur Räumung und Beseitigung seines Baumhauses aufzuheben.
Hat die Klage des X Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass das Baumhaus des K mit dem materiellen Bauordnungsrecht nicht vereinbar ist. Der Falllösung zugrunde zu legen ist die BauO NRW 2018 (im Folgenden: BauO NRW).
 
B. Gutachterliche Falllösung
Die Klage des X hat Erfolg, soweit diese zulässig und begründet ist.
 
I. Die Klage müsste zulässig sein.
 
1. Für eine Klage vor dem Verwaltungsgericht müsste der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Mangels aufdrängender Sonderzuweisung bestimmt sich die Eröffnung der Verwaltungsrechtswegs nach der Generalklausel des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit diese Streitigkeiten nicht durch Bundesrecht einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind.
Öffentlich-rechtlich ist eine Streitigkeit, wenn die streitentscheidenden Normen dem öffentlichen Recht angehören. Streitentscheidend sind vorliegend §§ 55 VwVG NRW, die die Vollzugsbehörde einseitig berechtigen, Mittel des Verwaltungszwangs gegenüber dem Bürger anzuwenden. Somit gehören §§ 55 ff. VwVG nach Maßgabe der modifzierten Subjektstheorie dem öffentlichen Recht an.
Weder X noch die Stadt Kerpen sind Verfassungsorgane. Auch geht es vorliegend schwerpunktmäßig um die Anwendung und Auslegung verwaltungsrechtlicher und nicht verfassungsrechtlicher Norm, weshalb die Streitigkeit mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art ist.
Eine abdrängende Sonderzuweisung ist ebenfalls nicht ersichtlich, sodass der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet ist.
 
2. Die statthafte Klageart bestimmt sich gemäß § 88 VwGO nach dem klägerischen Begehren; an die Fassung der Anträge ist das Gericht jedoch nicht gebunden. K hat die Aufhebung des von der Stadt Kerpen durchgeführten Sofortvollzugs zur Räumung und Beseitigung seines Baumhauses beantragt.
 
a) Möglicherweise ist eine Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Dies würde voraussetzen, dass es sich bei den durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen um Verwaltungsakte i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG handelt.
Problematisch ist insofern vor allem das Merkmal der Regelungswirkung. Eine Maßnahme zeitigt eine Regelungswirkung, wenn sie unmittelbar auf Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist. Die Wirkung einer Vollstreckungsmaßnahme erschöpft sich jedoch im rein tatsächlichen Bereich; der Stadt Kerpen kam es auf den Abriss des Baumhauses und nicht auf die Setzung einer Rechtsfolge an. Zwar begründete insbesondere die frühere Rechtsprechung die Regelungswirkung unter Rückgriff auf die Figur der konkludenten Duldungsverfügung. Dieses auf das Preußische Recht zurückgehende Vorgehen wirkt jedoch bereits vom äußeren Geschehensablauf her konstruiert. Zudem ist unter Geltung der VwGO der Rückgriff auf die Figur der konkludenten Duldungsverfügung nicht erforderlich, da mit der Feststellungsklage und der allgemeinen Leistungsklage auch ein effektiver Rechtsschutz gegen Realakte gewährt wird. Mithin stellt die Vollstreckungsmaßnahme mit der heute ganz herrschenden Meinung mangels Regelungswirkung keinen Verwaltungsakt dar.
Möglicherweise ist, obwohl es sich bei der Räumung und der Beseitigung des Baumhauses um einen Realakt handelt, dennoch eine Anfechtungsklage statthaft. Zu diesem Ergebnis kommt – unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung der OVG NRW – auch das VG Köln:

Denn ungeachtet der Verwaltungsaktsqualität sind gemäß § 18 Abs. 2 BVwVG gegen die Anwendung von Zwangsmitteln ohne vorausgehenden Verwaltungsakt die Rechtsmittel zulässig, die gegen Verwaltungsakte allgemein gegeben sind. Jedenfalls in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift für landesrechtliche Vollstreckungsmaßnahmen kann damit die Aufhebung der Versiegelung wegen Rechtswidrigkeit begehrt werden.
(OVG NRW, Urt. v. 16.10.2008 – 7 A 696/07 – juris Rn. 35)

Fraglich ist, ob dieses Vorgehen Zustimmung verdient. Vorliegend wurde nicht durch eine Bundesbehörde vollstreckt, sodass das BVwVG jedenfalls keine direkte Anwendung findet. Eine Parallelvorschrift zu § 18 Abs. 2 BVwVG findet sich im VwVG NRW nicht. In Betracht kommt somit lediglich eine analoge Anwendung des § 18 Abs. 2 BVwVG. Die analoge Anwendung einer Norm setzt das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage voraus. Aufgrund des Fehlens einer Parallelvorschrift zu § 18 Abs. 2 BVwVG im VwVG NRW besteht eine Regelungslücke. Diese wäre planwidrig, wenn anzunehmen ist, dass der nordrhein-westfälische Gesetzgeber eine derartige Regelung schlichtweg übersehen hat, wobei insbesondere auch auf verfassungsrechtliche Wertungen zu rekurrieren ist. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven Rechtsschutz. Wie bereits dargelegt vermittelt das Rechtsschutzsystem der VwGO jedoch auch auf anderem Wege als über eine Anfechtungsklage effektiven Rechtsschutz. Deshalb erscheint zumindest aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel die Annahme einer Anfechtungsklage nicht zwingend geboten. Bei § 18 Abs. 2 BVwVG handelt es sich vielmehr um eine spezifische Entscheidung des Bundesgesetzgebers. Mangels eines anderweitig zutage getretenen Willens darf das ausdifferenzierte Rechtsschutzsystem der VwGO nicht durch die analoge Anwendung des § 18 Abs. 2 BVwVG unterlaufen werden.
Aus diesem Grund ist die Anfechtungsklage nicht die statthafte Klageart.
 
b) In Betracht kommt weiterhin eine Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO. Eine Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO ist statthaft, wenn der Kläger die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt und der Subsidiaritätsgrundsatz des § 43 Abs. 2 VwGO gewahrt ist. Unter einem Rechtsverhältnis versteht man die sich aus einem konkreten Sachverhalt aus einer öffentlich-rechtlichen Norm ergebenden Rechtsbeziehungen einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache. Der Kläger muss also die gerichtliche Beantwortung einer konkreten streitigen Rechtsfrage begehren. Zur Konkretheit der Rechtsfrage gehört es, dass sie sich auf einen fest umrissenen und überschaubaren Sachverhalt bezieht. Um konkrete Rechtsfragen handelt es sich insbesondere dann, wenn zwischen Bürger und Behörde einzelne Rechte oder Pflichten, die sich aus einer Rechtsvorschrift ergeben, umstritten sind. Hier steht in Frage, ob der Bürgermeister der Stadt Kerpen in dem konkreten Lebenssachverhalt auf Grundlage der §§ 55 ff. VwVG NRW berechtigt war, X gegenüber Verwaltungszwang auszuüben. X begehrt also die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Wie bereits dargelegt kommt eine Gestaltungsklage in Form einer Anfechtungsklage nicht in Betracht, weshalb auch der Subsidiaritätsgrundsatz des § 43 Abs. 2 VwGO gewahrt wird. Dass die Räumung und der Abriss des Baumhauses bereits abgeschlossen sind und daher ein vergangenes Rechtsverhältnis in Rede stehen könnte, schadet nicht. Nach einhelliger Auffassung ist nämlich auch ein vergangenes Rechtsverhältnis nach § 43 Abs. 1 VwGO feststellungsfähig.
 
c) Statthafte Klageart ist somit eine Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO.
 
3. X müsste über ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung verfügen. Unter das Feststellungsinteresse fällt jedes schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Sollte das Rechtsverhältnis, dessen Nichtbestehen X festgestellt wissen will, ein vergangenes sein, müsste es über seine Beendigung hinaus anhaltende Wirkungen äußern. In diesem Fall kämen mit dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse vergleichbare Fallgruppen zum Tragen. Zu klären ist daher, ob vorliegend ein vergangenes Rechtsverhältnis in Rede steht, wovon auszugehen wäre, wenn sich die Rechtsbeziehung zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits erledigt hätte. Nach Ansicht des VG Köln habe sich die angegriffene Maßnahme noch nicht erledigt:

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, […], der sich die Kammer anschließt, tritt eine Erledigung einer Vollstreckungsmaßnahme nicht ein, so lange diese noch Grundlage einer Kostenforderung sein kann. Dies ist vorliegend der Fall, weil nach § 77 VwVG NRW i.V.m. § 20 Abs. 2 Nr. 7 und 8 VwVG-VO NRW die Beträge, die bei der Ersatzvornahme oder der Anwendung unmittelbaren Zwangs an Beauftrage und an Hilfspersonen zu zahlen sind sowie sonstige Kosten der Ausführung des unmittelbaren Zwangs vom Ordnungspflichtigen zu erstatten sind.

Selbst wenn man entgegen der Rechtsprechung Erledigung annehmen würde, stünde dies der Zulässigkeit der Klage jedoch nicht entgegen, da sich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse jedenfalls aus dem Gesichtspunkt einer sich kurzfristig erledigenden Eingriffsmaßnahme ergibt.
 
4. Nach herrschender Meinung muss der Kläger auch bei Feststellungsklage analog § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt sein. Demnach müsste nach den substantiierten Behauptungen des Klägers die Möglichkeit bestehen, dass er durch die angegriffenen Maßnahmen in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt ist. Hier ergibt sich die Klagebefugnis jedenfalls unter dem Gesichtspunkt eines Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Ob angesichts der Tatsache, dass sich X in dem betreffenden Bereich des Hambacher Forsters „wohnmäßig“ aufgehalten hat, auch ein Eingriff in Art. 13 GG im Raum steht, könne – so die Kölner Richter – offenbleiben.
 
5. Unter Zugrundelegung des allgemeinen Rechtsträgerprinzips ist die Klage gegen die Stadt Kerpen zu richten.
 
6. X ist gem. §§ 61 Nr. 1 Alt. 1, 63 Nr. 1, 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO beteiligungs- und prozessfähig. Als Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts ist die Stadt Kerpen nach §§ 61 Nr. 1 Alt. 2, 63 Nr. 2 VwGO beteiligungsfähig und nach § 62 Abs. 3 VwGO, vertreten durch den Bürgermeister (§ 63 Abs. 1 S. 1 GO NRW), prozessfähig.
 
7. Die Klage des X ist zulässig.
 
II. X wendet sich sowohl gegen die Räumung als auch gegen die Beseitigung seines Baumhauses. Er verfolgt also mehrere Klagebegehren. Die Voraussetzungen der objektiven Klagehäufung gemäß § 44 VwGO sind vorliegend erfüllt, sodass die Begehren zusammen verfolgt werden können.
 
III. Die Klage des X ist begründet, soweit die zu den Vollstreckungsmaßnahmen berechtigenden Rechtsverhältnisse nicht bestanden. Dies wäre dann der Fall, wenn die Vollstreckungsmaßnahmen rechtswidrig waren.
 
1. Die Räumung des Baumhauses ist rechtmäßig, soweit diese auf einer Ermächtigungsgrundlage beruht, von der in formell und materiell rechtmäßiger Weise Gebrauch gemacht wurde.
 
a) Rechtsgrundlage für die Räumung des Baumhauses ist §§ 55, 57 Abs. 1 Nr. 3, 62 VwVG NRW.
 
b) Die Räumung müsste formell rechtmäßig sein.
 
aa) Die Zuständigkeit des Bürgermeisters zur Räumung des Baumhauses ergibt sich aus § 56 Abs. 1 VwVG NRW.
 
bb) Mangels Verwaltungsaktsqualität der Räumung musste X nicht gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG NRW angehört werden.
 
cc) Somit ist die Räumung formell rechtmäßig.
 
c) Die Maßnahme müsste auch materiell rechtmäßig sein.
 
aa) Dann müsste der Verwaltungszwang gemäß § 55 VwVG NRW zulässig sein.
 
(1) In Betracht kommt zunächst das gestreckte Verfahren nach § 55 Abs. 1 VwVG NRW.
 
(a) Dann müsste zunächst ein Verwaltungsakt vorliegen, der auf die Vornahme einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet ist. Ein solcher Verwaltungsakt ist in der Aufforderung des Bürgermeisters zu erblicken, das von X genutzte Baumhaus zu räumen.
 
(b) Der Verwaltungsakt müsste vollziehbar gewesen sein. Die Aufforderung, das Baumhaus zu räumen, und die Räumung erfolgten am selben Tag. Somit war die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO noch nicht abgelaufen. Möglicherweise hatte die Aufforderung des Bürgermeisters jedoch keine aufschiebende Wirkung. Der Bürgermeister ist nicht Polizeivollzugsbeamter, sodass die aufschiebende Wirkung nicht bereits gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO entfallen ist. Fraglich ist, ob die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordnet wurde. Jedenfalls ordnete der Bürgermeister die sofortige Vollziehung nicht ausdrücklich an. Mit den gewählten Formulierungen („Gefahr für Leib und Leben“, „innerhalb der nächsten 30 Minuten“) bringt der Bürgermeister jedoch eine besondere Dringlichkeit zum Ausdruck. Zu klären ist daher, ob hierin eine konkludente Anordnung der sofortigen Vollziehung liegt. Aus den unmissverständlichen gesetzlichen Anforderungen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO („besonders angeordnet“) und § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO („schriftlich zu begründen“) folgt jedoch, dass die Vollziehungsanordnung nicht konkludent möglich ist. Somit war der Verwaltungsakt nicht vollziehbar.
 
(c) Der Bürgermeister der Stadt Kerpen konnte also auch nicht nach dem gestreckten Verfahren gemäß § 55 Abs. 1 VwVG vorgehen.
 
(2) Damit stellt sich die Frage, ob der Verwaltungszwang im gekürzten Verfahren gemäß § 55 Abs. 2 VwVG NRW zulässig war.
 
(a) Dann müsste der Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet worden sein. Problematisch erscheint hier, dass der Bürgermeister zuvor einen Verwaltungsakt mit dem Inhalt erließ, das Baumhaus zu räumen. Hat die Behörde schon eine Grundverfügung erlassen, ist sie deshalb jedoch nicht automatisch auf das gestreckte Verfahren festgelegt. Zwar hat dieser Fall keine gesetzliche Regelung gefunden, es wäre jedoch sinnwidrig, wenn die Behörde nach dem Erlass der Grundverfügung die Dringlichkeit der Gefahrenlage erkennt, aber im gestreckten Verfahren vollziehen müsste. Wenn die Behörde im Sofortvollzug gänzlich ohne Grundverfügung vollstrecken kann, so muss ihr dies – bei Vorliegen der anderen Tatbestandsvoraussetzungen des Sofortvollzuges – vielmehr erst recht möglich sein, wenn sie vorher eine Grundverfügung erlassen hat. Auch droht keine Umgehung der Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 VwVG NRW, da die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 VwVG NRW strenger sind als die des § 55 Abs. 1 VwVG NRW. Dass der Bürgermeister der Vollstreckung vorausgehend eine Räumungsverfügung erlassen hat, steht der Zulässigkeit des Verwaltungszwangs gemäß § 55 Abs. 2 VwVG NRW nicht entgegen.
 
(b) Weiterhin verlangt § 55 Abs. 2 VwVG, dass die Vollzugsbehörde innerhalb ihrer Befugnisse gehandelt hat. Mit dem Handeln innerhalb der Befugnisse meint § 55 Abs. 2 VwVG NRW dabei die Rechtmäßigkeit eines hypothetischen Grundverwaltungsakts. Hier hat der Bürgermeister der Stadt Kerpen sogar einen Grundverwaltungsakt erlassen, sodass die Rechtmäßigkeit dieser Verfügung zu prüfen ist. Auch bezüglich des Grundverwaltungsakts gilt, dass dieser rechtmäßig wäre, soweit dieser auf einer formell und materiell ordnungsgemäß angewendeten Ermächtigungsgrundlage beruht.
 
(aa) Ermächtigungsgrundlage für die Verfügung, das Baumhaus zu räumen, ist § 82 Abs. 1 S. 2 BauO NRW.
 
(bb) Der Grundverwaltungsakt müsste formell rechtmäßig sein.
 
(aaa) Der Bürgermeister der Stadt Kerpen war gemäß § 57 Abs. 1 S. 2 i.V.m. S. 1 Nr. 3 lit. a) BauO NRW für den Erlass der Räumungsverfügung zuständig.
 
(bbb) Grundsätzlich hätte der Bürgermeister X gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG NRW vor Erlass der Räumungsverfügung anhören müssen. Angesichts der Tatsache, dass wegen Missachtung der Brandschutzvorschriften bei einem Brand- und Unglücksfall im Hambacher Forst eine zeitnahe Rettung der im Forst befindlichen Personen nicht gewährleistet gewesen ist, bestand akute Lebensgefahr. Somit war eine Anhörung wegen Gefahr im Verzug gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW entbehrlich.
 
(ccc) Grundsätzlich hätte der Bürgermeister gemäß § 58 Abs. 1 S. 1 BauO NRW, §§ 12, 20 Abs. 1 S. 1 OBG NRW eine schriftliche Ordnungsverfügung erlassen müssen. Wegen Gefahr im Verzug bedurfte es gemäß § 20 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 OBG NRW ausnahmsweise nicht der Schriftform.
 
(ddd) Der Grundverwaltungsakt ist formell rechtmäßig.
 
(cc) Der Grundverwaltungsakt müsste auch materiell rechtmäßig sein.
 
(aaa) Zunächst müsste es sich bei dem Baumhaus um eine Anlage handeln. § 2 Abs. 1 S. 4 BauO NRW legaldefiniert den Begriff der Anlagen als bauliche Anlagen und sonstigen Anlagen und Einrichtungen im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 2 BauO NRW. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 S. 1 BauO NRW ist eine bauliche Anlage wiederum eine mit dem Erdbunden verbundene, aus Bauprodukten hergestellte Anlage. Daran, dass das Baumhaus aus Bauprodukten hergestellt wurde, bestehen keine Zweifel. Allerdings wirft die Tatsache, dass das Baumhaus nicht unmittelbar mit dem Erdboden verbunden ist, Probleme auf. Ob auch eine mittelbare Verbindung mit dem Erdboden ausreicht, ist durch Auslegung des § 2 Abs. 1 S. 1 BauO NRW zu ermitteln. Zweck der bauordnungsrechtlichen Begriffsbestimmungen ist es, Anlagen zu erfassen, von denen für Bauwerke typische Gefahren ausgehen können. Das Baumhaus ist für den dauerhaften Aufenthalt von Menschen geeignet und wird hierfür auch genutzt. Auch von einem Baumhaus gehen daher Gefahren aus, die typischerweise mit Mitteln des Bauordnungsrechts abgewehrt werden. Insbesondere eine am Telos des § 2 Abs. 1 BauO NRW orientierte Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Baumhaus um eine Anlage handelt.
 

Anmerkung: In seinem Urteil ließ das VG Köln dahinstehen, ob es sich bei einem Bauhaus um eine bauliche Anlage im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 BauO NRW handelt. In einer gutachterlichen Fallbearbeitung wird jedoch erwartet, dass auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen eingegangen wird. Hier wurde – ebenso wie im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsakts – der Argumentation des Bauministerium gefolgt, um zu dem Hauptproblem des Falles zu gelangen, ohne ein Hilfsgutachten anfertigen zu müssen.

 
(bbb) X müsste das Baumhaus im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt haben. Ausweislich des Bearbeitervermerks ist von der materiellen Bauordnungsrechtswidrigkeit des Baumhauses auszugehen, sodass diese Voraussetzung erfüllt ist.
 
(ccc) Als Bewohner des Baumhauses ist X jedenfalls Verhaltensverantwortlicher im Sinne des § 58 Abs. 1 S. 1 BauO NRW, §§ 12, 17 Abs. 1 OBG NRW.
 
(ddd) Auf Rechtsfolgenseite eröffnet § 81 S. 2 BauO NRW einen Ermessensspielraum. Zu prüfen ist daher, ob beim Erlass der Räumungsverfügung Ermessensfehler im Sinne des § 114 S. 1 VwGO begangen wurden.
 
Eine Besonderheit ergibt sich im vorliegenden Fall daraus, dass der Bürgermeister der Stadt Kerpen nicht aufgrund einer autonomen Entscheidung handelte, sondern vielmehr eine an ihn gerichtete Weisung ausführte. Zwar eröffnet § 81 S. 1 BauO NRW der unteren Bauaufsichtsbehörde Ermessen, allerdings wollen die Ermessensnormen die Verwaltungshierarchie nicht außer Kraft setzen. Daraus hat das VG Köln gefolgert:
 

Die Weisung verschiebt daher nur die Anforderungen an eine rechtmäßige Ermessensausübung „eine oder zwei Stufen höher“, ohne sie inhaltlich zu verändern. Die angewiesene Behörde hat somit die Ermessenserwägungen, die die anweisende Behörde vorgenommen hat, zu übernehmen und zur Grundlage ihres Handelns zu machen.

 
Vorliegend könnte das Bauministerium das ihr zustehende Ermessen zweckwidrig i.S.d. § 114 S. 1 Alt. 2 VwGO ausgeübt haben:
 

Ein besonderer Fall der zweckwidrigen Ermessensausübung ist dabei die „Vorwegbindung“ der Behörde. Voraussetzung jeder Ermessensausübung ist der unvoreingenommene Blick auf den Sachverhalt. Die Unbefangenheit des entscheidenden Verwaltungsbeamten ist eine wesentliche allgemeine Voraussetzung des Verwaltungsverfahrens und muss es wegen des größeren Freiraums erst recht für die Ermessensentscheidung sein. Die bewusste Berücksichtigung unsachlicher Motive ist daher nicht nur ein beachtlicher Verfahrensfehler, sondern zugleich zumindest Fehler der Ermessensausübung. Vorwerfbare subjektive Motive oder Haltungen des konkreten Amtswalters, der den Verwaltungsakt erlässt, widersprechen der aus der Ermessensnorm entstehenden Pflicht zur Berücksichtigung der maßgeblichen einschlägigen Gesichtspunkte.
[…]
Weiter ist zu berücksichtigen, dass es bei mehreren Ermessensgründen für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes ausreicht, wenn der maßgebliche Grund dem Gesetz entspricht. Dieser Grund muss jedoch wirklich tragend und nicht nur Vorwand sein. Umgekehrt führt es zum Ermessensfehler, wenn ein zweckwidriger Grund für die im Ermessensweg getroffene Entscheidung gewichtige Bedeutung hatte.
[…]
Gemessen hieran ist die Ermessenausübung in der Weisung vom 12. September 2018 in tragenden Teilen zweckwidrig und damit fehlerhaft.
Zweck der hier herangezogenen Ermächtigungsnorm […] [ist], das formelle und materielle Baurecht (Bauordnungsrecht wie Bauplanungsrecht) durchzusetzen. Hiervon ausgehend muss die Ermessenausübung darauf bezogen sein, ob bauordnungs- und/oder bauplanungsrechtliche Ziele verfolgt bzw. Missstände beseitigt werden sollen.
In der Weisung vom 12. September 2018 wird […] zunächst – dem Zweck der Ermächtigungsnorm entsprechend – der hohe Stellenwert des Brandschutzes und der damit verbundene Schutz von Leib und Leben der Bewohner betont. Sodann folgen jedoch umfangreiche Ausführungen dazu, welche Personen nach Erkenntnissen der Polizei und des Verfassungsschutzes zu der Waldbewohnerszene gehören, welche Art von erheblichen Angriffen (z.B. Zwillenbeschuss) von diesen Personen gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte […] ausgegangen sind und dass diese Personen nach Angriffen immer wieder in den „Wohn- und Lagerstrukturen im Wald“ untergetaucht sind. Dieser gewichtige Teil der Ermessenserwägungen weist keinen Bezug zu [§ 82 BauO NRW] auf. Schon der sprachliche Wechsel von „baulichen Anlagen“ zu „Wohn- und Lagerstrukturen“ führt klar vor Augen, dass es hier nicht mehr um Bauplanungs- und/oder Bauordnungsrecht geht, sondern dass die Räumungsmaßnahme der allgemeinen Gefahrenabwehr dient. […] Damit lösen sich die Ermessenserwägungen vollständig vom dem Zweck der Ermächtigungsnorm.
Darüber hinaus zeigt der Inhalt der Akte deutlich, dass hier – mit Blick auf die gewählte Eingriffsnorm aus dem Bauordnungsrecht – ein Fall der „inneren Vorwegbindung“ gegeben ist. Schon in der ersten Besprechung im Ministerium des Innern NRW am 25. Juli 2018 bestand am gewünschten Ergebnis, nämlich der Beseitigung sämtlicher Anlagen im Hambacher Forst, kein Zweifel. […] Letztlich ging es erkennbar darum, für die polizeilichen Aktionen eine Rechtsgrundlage zu finden, die – aus Gründen, die sich der Akte nicht entnehmen lassen – nicht im Polizei- und Ordnungsrecht liegen sollte.
Dass der dem Schutz der Bewohner dienende Brandschutz lediglich als „Vehikel“ genutzt wurde, um [§ 82 BauO NRW] als Ermächtigungsgrundlage heranziehen zu können, zeigt auch die E-Mail des zuständigen Abteilungsleiters des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung NRW […] an die Bezirksregierung Köln, den Kreis Düren und die Beklagte […]. Während in den Weisungen die besondere Dringlichkeit des Eingreifens mit dem hohen Stellenwert des Brandschutzes und den akuten Gefahren für die Bewohner der Baumhäuser begründet wurde, führt der Abteilungsleiter in dieser E-Mail u.a. aus, da sich das Land aufgrund eines Verfahrens beim Oberverwaltungsgericht NRW dafür einsetze, dass die Rodungen nicht vor Ablauf der zweiten Oktoberwoche beginnen, komme eine Verschiebung der Fristen (für die Räumung) um wenige Tage in Betracht. Damit wird in bemerkenswerter Klarheit zum Ausdruck gebracht, dass die besondere Eile und das Ziel des schnellen Eingreifens nicht den Brandgefahren geschuldet waren.

 
(eee) Mithin ist die Grundverfügung ermessensfehlerhaft und damit materiell rechtswidrig.
 
(d) Die Räumungsverfügung ist rechtswidrig. Damit handelte der Bürgermeister der Stadt Kerpen nicht innerhalb seiner Befugnisse.
 
(c) Die Anwendung von Verwaltungszwang im gekürzten Verfahren gemäß § 55 Abs. 2 VwVG NRW war nicht zulässig.
 
(3) Der Verwaltungszwang war nicht gemäß § 55 VwVG NRW zulässig.
 
bb) Die Räumung des Baumhauses war materiell rechtswidrig.
 
d) Die Räumung des Baumhauses war rechtswidrig.
 
2. Zu beantworten bleibt schließlich die Frage, ob auch die Beseitigung des Baumhauses rechtswidrig war. Als Ermächtigungsgrundlage für die Beseitigung des Baumhauses kommen §§ 55 Abs. 2, 57 Abs. 1 Nr. 1, 59 VwVG NRW in Betracht. Die der Vollstreckung zugrunde liegende, auf § 82 Abs. 1 S. 1 BauO NRW gestützte Beseitigungsverfügung leidet allerdings unter denselben Ermessensfehlern wie die Räumungsverfügung. Somit war auch die Beseitigung des Baumhauses rechtswidrig.
 
3. Demzufolge waren sowohl die Räumung als auch die Beseitigung des Baumhauses rechtswidrig. Die zu den Vollstreckungsmaßnahmen berechtigenden Rechtsverhältnissen bestanden also nicht. Die Klage des X ist begründet.
 
III. Die Klage des X hat Erfolg.
 
C. Summa
Angesichts der Länge der Ausführungen soll die Summa umso knapper ausfallen: Der vom VG Köln entschiedene Fall erscheint wie gemalt für eine Examensklausur. Er kombiniert Probleme aus dem Baurecht mit solchen aus dem Verwaltungsvollstreckungs-, allgemeinen Verwaltungs- sowie Verwaltungsprozessrecht. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die angesprochenen Zulässigkeitsprobleme sowie die Frage, auf wessen Ermessenserwägungen abzustellen ist, wenn eine Behörde eine Maßnahme in Ausführung einer an sie gerichteten Weisung anordnet. Auch sollte man sich vergegenwärtigen, dass die „Vorwegbindung“ der Behörde einen Unterfall der Zweckverfehlung darstellt.
Insgesamt bietet der Fall einen Anlass, die Grundzüge des Verwaltungsvollstreckungsrechts zu wiederholen. Bei Prüfungsaufgaben im Verwaltungsvollstreckungsrecht ist es – wie der vorliegende Fall zeigt – besonders wichtig, den Überblick zu bewahren.  Dies gilt insbesondere dann, wenn statt der Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme die Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheids zu prüfen ist, wodurch der Prüfungsaufbau durch eine weitere Ebene weiter verkompliziert wird.

08.11.2021/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2021-11-08 08:39:542021-11-08 08:39:54Brandschutz nur vorgeschoben: Räumung und Abriss von Baumhäusern im Hambacher Forst rechtswidrig
Dr. Yannik Beden, M.A.

Verwaltungsrecht / Verwaltungsprozessrecht: Die 15 wichtigsten Definitionen für Klausur und Examen

Für die ersten Semester, Lerntipps, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Für die Klausur im Öffentlichen Recht ist eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen schnell abrufen können sollte, zu beherrschen. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Klausur im Verwaltungsrecht bzw. Verwaltungsprozessrecht notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Öffentlich-rechtliche Streitigkeit
Nach der modifizierten Subjektstheorie liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor, wenn die streitentscheidende Norm dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist. Eine Norm ist dann öffentlich-rechtlicher Natur, wenn sie einen Träger öffentlicher Gewalt in seiner Funktion als solcher in jedem Anwendungsfall berechtigt oder verpflichtet.
(2) Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art
Eine Streitigkeit ist jedenfalls dann nichtverfassungsrechtlicher Art, wenn die Streitbeteiligten nicht unmittelbar am Verfassungsleben teilnehmen und auch im Wesentlichen nicht um die Anwendung oder Auslegung von Verfassungsrecht gestritten wird (sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit)
(3) Klagebefugnis Anfechtungsklage
Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Anfechtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein. Die Rechtsverletzung muss tatsächlich möglich erscheinen (sog. Möglichkeitstheorie). Eine Rechtsverletzung kommt insbesondere bei einem Adressaten eines belastenden Verwaltungsakts in Betracht (sog. Adressatentheorie), wobei im Einzelfall stets zu begründen ist, weshalb der Verwaltungsakt möglicherweise rechtswidrig sein und den Adressaten in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzen könnte.  
(4) Klagebefugnis Verpflichtungsklage
Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Verpflichtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein. Das ist der Fall, wenn der Kläger möglicherweise einen Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes hat, der Anspruch also nicht offensichtlich ausgeschlossen ist.
(5) Feststellungsfähiges Rechtsverhältnis i.S.v. § 43 Abs. 1 VwGO
Unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt auf Grund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht.
(6) Feststellungsinteresse
Der Kläger muss ein berechtigtes Interesse an einer baldigen Feststellung des Rechtsverhältnisses haben. Ein berechtigtes Interesse kann dabei jedes als schutzwürdig anzuerkennende Interesse, insbesondere rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein.
(7) Fortsetzungsfeststellungsinteresse
Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern. Anerkannt ist ein solches Interesse jedenfalls für folgende Fälle: (1) Konkrete Wiederholungsgefahr, (2) Rehabilitationsinteresse, (3) präjudizielle Wirkung einer Feststellung und (4) tiefgreifende Grundrechtseingriffe.
(8) Erledigung eines Verwaltungsakts
Nach § 43 Abs. 2 VwVfG bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Er verliert folglich seine Wirksamkeit, wenn eine der in § 43 Abs. 2 VwVfG genannten Voraussetzungen eingetreten ist. Die Erledigung eines Verwaltungsaktes tritt erst ein, wenn dieser nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen oder wenn die Steuerungsfunktion, die ihm ursprünglich innewohnte, nachträglich entfallen ist.
(9) Subsidiarität i.S.v. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO
Die Feststellung eines Rechtsverhältnisses kann gem. § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Die Feststellungsklage ist demnach insbesondere gegenüber der Anfechtungs-, Verpflichtungs- und allgemeinen Leistungsklage subsidiär.
(10) Rechtsschutzbedürfnis
Das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses folgt dem allgemeinen Grundsatz, dass die begehrte Leistung bzw. Handlung zunächst bei der Behörde zu beantragen ist. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt insbesondere, wenn der Kläger sein Ziel einfacher als durch Klageerhebung erreichen kann, die Klage keinen anzuerkennenden Zweck verfolgt, missbräuchlich ist oder der Kläger sein Klagerecht verwirkt hat.
(11) Sicherungsanordnung
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO ist statthaft, wenn der Antragsteller die vorläufige Sicherung eines von ihm behaupteten Rechts gegenüber einer drohenden tatsächlichen oder rechtlichen Änderung eines bereits bestehenden Zustands begehrt.
(12) Regelungsanordnung
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO ist statthaft, wenn der Antragsteller die vorläufige Erweiterung seines Rechtskreises begehrt, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder ein solche Regelung aus anderen Gründen nötig erscheint.
(13) Anordnungsanspruch
Der Anordnungsanspruch im Verfahren nach § 123 VwGO bezieht sich auf den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird. Der Anordnungsanspruch entspricht folglich dem materiell-rechtlichen Anspruch, der im Hauptsacheverfahren geltend gemacht wird. Dies gilt sowohl für die Sicherungs- als auch Regelungsanordnung.
(14) Anordnungsgrund
Der Anordnungsgrund betrifft den Umstand, aus dem sich die Eilbedürftigkeit des Antragstellers ergibt, dieser mithin nicht bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren abwarten kann. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
(15) Objektive Klagehäufung
Nach § 44 VwGO können vom Kläger mehrere Klagebegehren in einer Klage zusammen verfolgt werden, wenn sie sich gegen denselben Beklagten richten, im Zusammenhang stehen und dasselbe Gericht zuständig ist. Mehrere Klagebegehren liegen vor, wenn mehrere selbständige prozessuale Ansprüche in Rede stehen, mithin unterschiedliche Streitgegenstände in einer Klage adressiert werden.
 
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26.11.2020/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
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Redaktion

Schema: Allgemeine Feststellungsklage, § 43 I Fall 1 VwGO

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Schema: Allgemeine Feststellungsklage, § 43 I Fall 1 VwGO

A. Zulässigkeit der Klage vor dem Verwaltungsgericht

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

1. Aufdrängende Sonderzuweisung

2. Generalklausel, § 40 I 1 VwGO

a) Öffentlich-rechtliche Streitigkeit
b) Nichtverfassungsrechtlicher Art
c) Keine abdrängende Sonderzuweisung

II. Statthafte Klageart
Richtet sich nach dem Antrag bzw. Begehren des Klägers, § 88 VwGO.

1. Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines hinreichend konkreten öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses

2. Keine Subsidiarität, § 43 II 1 VwGO

III. Klagebefugnis, § 42 II VwGO (analog)

Es muss zumindest die Möglichkeit bestehen, dass der Kläger in einem ihm zustehenden subjektiven Recht verletzt ist.

IV. Feststellungsinteresse, § 43 I VwGO
– Bei gegenwärtigen Rechtsverhältnissen genügt jedes berechtigte Interesse an der baldigen Feststellung. Dies kann jedes schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein.
– Bei bereits erledigen Rechtsverhältnissen ist ein qualifiziertes Feststellungsinteresse erforderlich. Fallgruppen: Wiederholungsgefahr, Rehabilitationsinteresse, Präjudizität, tiefgreifender Grundrechtseingriff.
– Bei zukünftigen Rechtsverhältnissen bedarf es eines qualifizierten Feststellungsinteresses. Erforderlich ist, dass der Verweis auf nachgehenden Rechtsschutz für den Kläger unzumutbar ist.

V. Vorverfahren, § 68 VwGO
Grundsätzlich entbehrlich, ausnahmsweise erforderlich, wenn der Kläger aus einem Beamtenverhältnis klagt.

VI. Frist, § 74 VwGO

Grundsätzlich entbehrlich, ausnahmsweise erforderlich, wenn der Kläger aus einem Beamtenverhältnis klagt.

VII. Richtiger Beklagter
Rechtsträger zu dem das behauptete Rechtsverhältnis beseht.

VIII. Beteiligen- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO

B. Begründetheit

(+), soweit das vom Kläger geltend gemachte Rechtsverhältnis besteht bzw. das von ihm verneinte Rechtsverhältnis nicht besteht.
Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

19.10.2017/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-10-19 10:00:182017-10-19 10:00:18Schema: Allgemeine Feststellungsklage, § 43 I Fall 1 VwGO
Dr. David Saive

Die Fortsetzungsfeststellungsklage und ihre analoge Anwendung

Examensvorbereitung, Startseite, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

Einer der examensrelevantesten Klagearten im öffentlichen Recht ist die Fortsetzungsfeststellungsklage (FFKl) gem. § 113 I 4 VwGO. Gerade in polizeirechtlichen Klausuren wird häufig die FFKl als prozessuale Einkleidung gewählt.
Grund genug für uns, sich einmal näher mit den wichtigsten Problemen und Aufbaufragen zu befassen.
 

  1. Statthaftigkeit der FFKl

Die Statthaftigkeit der FFKl richtet sich gem. § 88 VwGO nach dem Begehren des Klägers. Dieses muss im Falle der FFKl zu erkennen geben, dass der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts begehrt, der sich nach Klageerhebung, aber vor dem Ende der letzten mündlichen Verhandlung erledigt hat, § 113 I 4 VwGO.
 
Der Wortlaut des § 113 I 4 VwGO ist insoweit etwas missverständlich formuliert. Aus der Formulierung „vorher“ lassen sich noch keine Schlüsse über den entscheidenden Zeitpunkt ziehen. Jedoch hilft dabei ein Blick auf die systematischen Stellung des § 113 VwGO im 10. Abschnitt „Urteile und andere Entscheidungen“. Folglich muss sich „vorher“ auf einen Zeitpunkt vor Urteilsverkündung, aber nach Klageerhebung beziehen.
 
a) Exkurs: Erledigung eines VA
Die Erledigung eines Verwaltungsakts tritt entweder mit Rücknahme, Widerruf, Zeitablauf oder auf sonstige Weise – insbesondere Vollzug mit irreparablen Folgen – ein, § 42 II VwVfG.
 
b) Statthaftigkeit bei Anfechtungsklagen 
Erhebt der Kläger zunächst Anfechtungsklage gem. § 42 I 1.Alt VwGO und erledigt sich der VA während der Verhandlung, so kann er sein Klagebegehren unproblematisch in ein Fortsetzungsfeststellungsbegehren umformulieren, da hiermit genau die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines VA begehrt wird, § 113 I 4 VwGO.
 
c) Statthaftigkeit bei Verpflichtungsklagen 
Der Wortlaut des § 113 I 4 VwGO ist eindeutig. Im Falle einer Verpflichtungsklage gem. § 42 I 1 2.Alt VwGO kann das Klagebegehren nicht ohne weiteres auf eine FFKL gerichtet werden.
Folglich wäre für die Feststellung, ob die Ablehnung oder Unterlassung der Behörde einen VA zu erlassen, rechtswidrig gewesen ist, die Feststellungklage aus § 43 VwGO die statthafte Klageart.[1] Allerdings beschränkt sich die Feststellungsklage auf die Feststellung der Nichtigkeit von Verwaltungsakten.
Da die die Verpflichtungsklage das prozessuale Gegenstück zur Anfechtungsklage darstellt, muss sich diese derart enge Verknüpfung der beiden Klagen auch im nachträglichen Feststellungsverfahren fortsetzen, sodass für den Fall der Erledigung im Rahmen der Verpflichtungsklage die FFKl über § 113 I 4 VwGO analog dennoch Anwendung findet.[2] Vertretbar sind jedoch beide Ansätze.
 
 

  1. Anwendbarkeit der FFKl bei Erledigung des VA vor Klageerhebung / „Doppelte“ Analogie

Problematisch ist der Fall der Erledigung des VA vor Klageerhebung. Hier spricht erneut der Wortlaut des § 113 I 4 VwGO gegen eine Anwendung der FFKl.
Daher sei in solchen Fällen die Feststellungsklage gem. § 43 VwGO die statthafte Klageart.
Allerdings wäre es somit allein dem Zufall überlassen, die Statthaftigkeit der Klage zu bestimmen. Daher soll um die Einheitlichkeit und Effektivität des Rechtsschutzes zu wahren, weiterhin die FFKl statthaft sein. Dies allerdings in analoger Anwendung des § 113 I 4 VwGO.
Handelt es sich um ein Verpflichtungsbegehren des Klägers und erledigt sich der VA noch vor Klageerhebung, steht dies der FFKl nicht im Wege. Diese wird vielmehr „doppelt“ analog angewendet.
 

  1. Feststellungsinteresse

Besondere Voraussetzung der Fortsetzungsfeststellungsklage ist das Feststellungsinteresse des Klägers i.S.d. § 113 I 4 VwGO. Hier haben sich insbesondere drei Fallgruppen herausgebildet:

  • Wiederholungsgefahr
  • Diskriminierende Wirkung des VA bzw. dessen Ablehnung oder Unterlassung
  • Präjudizielle Wirkung, also Vorbereitung eines Staatshaftungsanspruchs

Zu beachten ist jedoch, dass im Falle der Erledigung des VA vor Klageerhebung die Präjudizwirkung kein Feststellungsinteresse begründet. Hier muss der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit im Rahmen des Staatshaftungsprozesses vor den ordentlichen Gerichten klären lassen. Einen Anspruch auf den sachnäheren Richter besteht nicht.[3] Zudem bestand zu diesem Zeitpunkt noch kein prozessualer Aufwand, der ein Feststellungsinteresse begründen könnte.
 

  1. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen der FFKl

Problematisch ist allerdings, ob noch weitere besondere Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sein müssen.
 
a) Notwendigkeit eines Vorverfahrens gem. §§ 68 ff. VwVfG
Für die Notwendigkeit eines Vorverfahrens i.S.d. §§ 68 ff. VwVfG spricht die Nähe der FFKl zur Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage. Eine von vornherein unzulässige Anfechtungs-/Verpflichtungsklage soll nicht im Gewand einer FFKl wieder zulässig werden. Dies ist allerdings nur insoweit unumstritten, als dass die Erledigung nach Ablauf der Widerspruchsfrist eingetreten ist.
Anders verhält es sich im Falle der Erledigung vor oder während des Widerspruchsverfahrens.
Für das Erfordernis eines Vorverfahrens spricht zum einen der Sinn und Zweck des Vorverfahrens. Hierdurch soll der Verwaltung die Möglichkeit eingeräumt werden, Selbstkontrolle auszuüben. Unterstrichen wird dies auch von § 44 V VwVfG, der der Verwaltung die Möglichkeit eröffnet, die Rechtswidrigkeit des VA festzustellen.
Andererseits hat diese Entscheidung der Behörde keinerlei Bindungswirkung für den Staatshaftungsprozess, sodass dem Bürger somit nur bedingt geholfen wird. Zudem kann der Selbstkontrolle der Verwaltung nicht mehr Rechnung getragen werden, wenn sich der Verwaltungsakt während des Vorverfahrens erledigt, da nach Erledigung keinerlei Gestaltungsmöglichkeit für die Behörde verbleibt.
 
b) Klagefrist
Umstritten ist auch das Erfordernis einer Klagefrist. Einerseits könnten die §§ 74, 58 I, II VwGO analog herangezogen werden. Es wird insofern auf die Klagefrist bei fehlerhafter oder fehlender Rechtsmittelbelehrung abgestellt, da die Verwaltung nur in äußerst seltenen Fällen auf die Möglichkeit der FFKl hingewiesen hat.[4]
Andererseits solle auf das Fristerfordernis gänzlich verzichtet werden. Klagefristen dienen generell der Herstellung von Rechtssicherheit. Bei bereits erledigten Verwaltungsakten spielt dies allerdings keine Rolle mehr, da der Verwaltungsakt seine Regelungsfunktion bereits verloren hat.[5]
Zudem dient das Feststellungsinteresse schon als Filter für offensichtlich unzulässige Klagen, da bei zu langem Abwarten nur schwer ein solches Interesse an einer Feststellung nachzuweisen ist.
 
Fazit
Für die Examensvorbereitung ist die Auseinandersetzung mit der FFKl unersetzlich. Keine andere Verfahrensart vor den Verwaltungsgerichten bietet derart viele Probleme schon in der Zulässigkeit.
Hinsichtlich der vorprozessualen Erledigung von Verwaltungsakten lassen sich beide Ansichten vertreten, ob hier nun die FFKl oder die Feststellungsklage die statthafte Klageart ist. Bei der Bearbeitung muss allerdings darauf geachtet werden, Inkonsequenzen zu vermeiden. Entscheidet man sich für die Feststellungsklage, so werden weder Klagefrist noch Vorverfahren nicht geprüft, folgt man der analogen Anwendung von § 113 I 4 VwGO müssen diese beiden Punkte mit den entsprechenden Problemen angesprochen werden.
 
 
_____________________________________________________
 
[1] BVerwG 109, 203.
[2] BVerwGE 26, 161 (165 ff.)
[3] BVerwGE 81, 226 (228).
[4] VGH Mannheim, DVBl 1998, 835 (836).
[5] BVerwGE 109, 203; Besprechung durch Rozek, JuS 2000, 1162 (1164).

14.03.2016/4 Kommentare/von Dr. David Saive
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. David Saive https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. David Saive2016-03-14 09:30:452016-03-14 09:30:45Die Fortsetzungsfeststellungsklage und ihre analoge Anwendung
Zaid Mansour

Fotografierverbot von SEK-Polizeibeamten rechtswidrig – BVerwG Urteil vom 28.03.2012 – 6 C 12.11

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner heutigen Entscheidung geurteilt, dass ein von der Polizei gegenüber Zeitungsmitarbeitern ausgesprochenes Verbot der Anfertigung von Fotos der an einem Einsatz beteiligten Beamten eines Spezialeinsatzkommandos rechtswidrig war.
A. Sachverhalt (vereinfacht)
Die in zivil gekleideten Beamten des Einsatzkommandos waren damit beauftragt, den mutmaßlichen Sicherheitschef einer russischen Gruppierung, die dem Bereich der organisierten Kriminalität zuzuordnen ist (russische Mafia), aus der Untersuchungshaft bei einer Augenarztpraxis in der Fußgängerzone der Stadt X in NRW vorzuführen.
Der Einsatz wurde von zwei Journalisten, darunter ein Fotoreporter, bemerkt. Als sich der Fotoreporter anschickte Bilder der Einsatzfahrzeuge und der am Einsatz beteiligten Beamten anzufertigen, wurde er von dem Einsatzleiter in formell rechtmäßiger Weise aufgefordert sein Vorhaben zu unterlassen. Der Journalist unterließ es daraufhin, Bilder anzufertigen. Begründet wurde das Verbot damit, dass die beteiligten Einsatzkräfte durch eine Veröffentlichung der Bilder hätten enttarnt werden können, was ihrer Einsetzbarkeit in Zukunft nicht zuträglich gewesen wäre. Zudem hätten sie auch persönlich durch etwaige Racheakte gefährdet werden können.
Der Zeitungsverlag, für den die Journalisten tätig, sind klagte vor dem zuständigen Verwaltungsgericht gegen das Fotografierverbot.
B. Rechtliche Würdigung
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
Die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 I VwGO ist zu bejahen, da die streitentscheidende Norm vorliegend dem Polizeirecht, mithin einer Materie des öffentlichen Rechts, zuzuordnen ist.
II. Zulässigkeit
1. Im Rahmen einer Klausurbearbeitung des Falles stellt sich zunächst bei der Zulässigkeitsprüfung die Frage nach der statthaften Klageart. Hierbei könnte angenommen werden, dass eine Anfechtungsklage statthaft sei. Dazu müsste es sich bei dem Fotografierverbot um einen Verwaltungsakt gehandelt haben. Ein solcher lag vorliegend mithin vor, insbesondere war das Verhalten des Einsatzleiters darauf gerichtet eine einzelfallbezogene Rechtsfolge zu setzen. Es sollte dem Bearbeiter allerdings auffallen, dass sich die rechtliche Beschwer dieses Verwaltungsaktes durch Zeitablauf erledigt hat (§ 43 Abs. 2 VwVfG NW) und folglich eine Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft ist.
2. Der Zeitungsverlag ist als Drittbetroffener möglicherweise in seinem aus der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) folgenden Recht auf Informationsbeschaffung durch eigenes Personal verletzt und folglich klagebefugt.
3. Ein Vorverfahren i. S. von § 68 VwGO ist jedenfalls in NRW nach § 110 Abs. 1 JustG NW nicht erforderlich. Darüber hinaus hätte es seine Aufgabe (Selbstkontrolle der Verwaltung und Zweckmäßigkeitsprüfung) vorliegend ohnehin nicht mehr erfüllen können.
4. Die Klageerhebung bei vorprozessualer Erledigung des Verwaltungsakts vor Eintritt der Bestandskraft unterliegt keiner Fristbindung.
5. Das erforderliche Fortsetzungsfestellungsinteresse, welches in Fällen vorprozessualer Erledigung mit dem Feststellungsinteresse in § 43 Abs. 1 VwGO identisch ist und alle schützenswerten Interessen rechtlicher, wirtschaftlicher und ideeller Art umfasst, ergibt sich vorliegend aus der Tatsache, dass sich polizeiliche Maßnahmen typischerweise kurzfristig erledigen und die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit der Klageeröffnung gebietet (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.07.1999 – 6 C 7.98; s. auch BVerwG, Urt. v. 06.02.1986 – 5 C 4/84). Des Weiteren ist ein Fortsetzungsfestellungsinteresse auch aufgrund der möglich erscheinenden Verletzung des Zeitungsverlags in seiner Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegend zu bejahen.
III. Begründetheit
Die Klage ist begründet, wenn und soweit die polizeiliche Maßnahme rechtswidrig war und der Kläger (der Zeitungsverlag) dadurch in seinen Rechten verletzt ist (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog). Die polizeiliche Maßnahme war rechtmäßig, wenn sie auf einer Ermächtigungsgrundlage basierte von der in formell und materiell rechtmäßiger Weise Gebrauch gemacht wurde.
1. Als Ermächtigungsgrundlage kommt vorliegend, mangels Einschlägigkeit spezieller Befugnisnormen, die polizeiliche Generalklausel aus § 8 Abs. 1 PolG NW in Betracht.
2. Die polizeiliche Maßnahme ist laut Sachverhalt in formell rechtmäßiger Weise ergangen.
3. Voraussetzung für ein polizeiliches Einschreiten ist das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Maßgeblich ist dabei die Prognose aus der ex-ante Perspektive.
Eine Gefahr ist zu bejahen, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf ein Schadenseintritt für ein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Als Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit gelten, die objektive Rechtsordnung, Individualrechte des Einzelnen sowie die Funktionsfähigkeit von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und anderer Hoheitsträger.
Vorliegend sah der Einsatzleiter eine Enttarnung der am Einsatz beteiligten Beamten und eine Gefährdung von Leib und Leben eben jener durch das Anfertigen von Fotografien des Einsatzes, sowie eines damit einhergehenden Verlustes der zukünftigen Einsatzfähigkeit des Sondereinsatzkommandos als wahrscheinlich an. Aus der Sicht eines einsichtigen und unbefangenen Polizeibeamten lässt sich damit das Vorliegen einer Gefahr für Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit, namentlich den Individualrechten der beteiligten Polizeibeamten, sowie
(mit Blick auf die eventuelle Gefährdung der Einsatztauglichkeit für zukünftige Einsätze) der Funktionsfähigkeit staatlicher Veranstaltungen, bejahen.
Die Einschreitungsvoraussetzungen der polizeilichen Generalklausel sind damit im vorliegenden Fall zu bejahen.
4. Das vom Einsatzleiter ausgesprochene Anfertigungsverbot müsste auch dem aus dem Rechtsstaatsprinzip erwachsenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Die Maßnahme müsste hinsichtlich der Erreichung des mit ihr verfolgten legitimen Zwecks also geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Das Verbot Bilder vom Einsatz anzufertigen ist nicht schlichtweg untauglich die damit verfolgten Zwecke zu erreichen und folglich geeignet.
Weiterhin müsste die Maßnahme erforderlich gewesen sein, was dann der Fall ist, wenn es kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Zweckerreichung gab. Dazu heißt es in der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts:

„[…]Die Polizei durfte nicht schon das Anfertigen der Fotografien untersagen. Der Einsatz von Polizeibeamten, namentlich ein Einsatz von Kräften des Spezialeinsatzkommandos stellt im Sinne der einschlägigen Bestimmung des Kunsturhebergesetzes ein zeitgeschichtliches Ereignis dar, von dem Bilder auch ohne Einwilligung der abgelichteten Personen veröffentlicht werden dürfen. Ein berechtigtes Interesse der eingesetzten Beamten kann dem entgegenstehen, wenn die Bilder ohne den erforderlichen Schutz gegen eine Enttarnung der Beamten veröffentlicht werden. Zur Abwendung dieser Gefahr bedarf es aber regelmäßig keines Verbots der Anfertigung von Fotografien, wenn zwischen der Anfertigung der Fotografien und ihrer Veröffentlichung hinreichend Zeit besteht, den Standpunkt der Polizei auf andere, die Pressefreiheit stärker wahrende Weise durchzusetzen. Eine solche Lage war hier gegeben.“

Danach hätte ein Hinweis der Einsatzleitung auf die bei ohne Unkenntlichmachung der Polizeibeamten bestehenden Gefahr genügt, um einer Enttarnung und den damit einhergehenden Gefahren entgegenzuwirken.
Im Ergebnis war das Verbot der Anfertigung von Bildern rechtswidrig und verletzte den Zeitungsverlag in seinen Rechten. Folglich ist die Fortsetzungsfeststellungsklage begründet.
Anmerkung: Die Bearbeitung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll den Lesern ein Leitfaden für die Lösung des Falles, wie er beispielsweise im Rahmen einer mündlichen Prüfung auftauchen könnte, gegeben werden.

29.03.2012/9 Kommentare/von Zaid Mansour
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Zaid Mansour https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Zaid Mansour2012-03-29 15:20:532012-03-29 15:20:53Fotografierverbot von SEK-Polizeibeamten rechtswidrig – BVerwG Urteil vom 28.03.2012 – 6 C 12.11

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