Im zweiten Teil seines Beitrags (den ersten Teil findet ihr hier) weist unser Gastautor Marvin Granger heute auf typische Fehler in den Klausuren im Öffentlichen Recht hin.
I. Öffentliches Recht:
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Verfahren vor dem BVerfG: Vorsicht mit den Formulierungen in der Zulässigkeit! Häufig liest man Begriffe wie „Klagegegenstand“, „Klagebefugnis“ etc.
Vor dem BVerfG gibt es (von der Präsidentenanklage abgesehen) keine Klageverfahren, sondern laut dem BVerfGG Beschwerde- und Antragsverfahren. Dementsprechend muss man jeweils die Terminologie wählen, also „Beschwerdegegenstand/Antragsgegenstand“, „Beschwerdebefugnis/Antragsbefugnis“ usw.
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Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde:
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Wenn sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz richtet: „Gegen Gesetze steht kein Rechtsweg offen. Daher ist der Rechtsweg erschöpft.“
So eine Formulierung ist schlicht falsch. Zutreffend ist zwar der erste Satz, dass gegen Gesetze (von § 47 VwGO abgesehen geä. d. Red.) kein Rechtsweg offen steht. Das heißt nichts anderes, als dass kein Rechtsweg existiert. Einen Rechtsweg, den es nicht gibt, kann man aber nicht beschreiten, geschweige denn erschöpfen. Es gibt bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze schlicht kein Rechtswegerschöpfungsgebot. Schreibt also in der Klausur besser: „Gegen Gesetze steht kein Rechtsweg offen, sodass ein solcher nicht zu erschöpfen war.“
Übrigens: Rechtsweg i.S.d. § 90 II 1 BVerfGG ist nur der Rechtsweg zu den Fachgerichten1, nicht jedoch der Rechtsweg zu den Landesverfassungsgerichten2. Auch wenn also eine Verfassungsbeschwerde zu den Landesverfassungsgerichten möglich ist, kann man sofort das BVerfG anrufen (vgl. § 90 III BVerfGG).
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„Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist gewahrt.“
Grundsätze/Regeln kann man nicht wahren, sondern nur beachten oder missachten/verletzen. Schreibt also anstelle des o.g. Satzes zum Beispiel: „Der Grundsatz der Subsidiarität wurde beachtet.“ Oder: „Es wurde nicht gegen den Subsidiaritätsgrundsatz der Verfassungsbeschwerde verstoßen.“
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Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde:
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„Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn das angegriffene Gesetz formell oder materiell verfassungswidrig ist.“
Das stimmt nicht. Dieser Obersatz gehört zur (abstrakten oder konkreten) Normenkontrolle. Für die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde lautet der richtige Obersatz: „Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.“ Dieser Satz gilt unabhängig davon, was der Beschwerdegegenstand ist.
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„Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn das angegriffene Gesetz gegen das Grundgesetz verstößt. Dabei ist die Prüfung nicht nur auf die Grundrechte des Beschwerdeführers beschränkt, sondern alle in Betracht kommenden Grundrechte sind zu prüfen.“ [Anm.: Der Bearbeiter prüfte sodann konsequent auch die Grundrechte anderer Personen, die überhaupt keine Verfassungsbeschwerde erhoben hatten.]
Das ist nicht richtig. Der Beschwerdeführer kann sich immer nur auf seine eigenen Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte berufen, aber niemals auf die Grundrechte anderer Personen. Daher sind bei der Verfassungsbeschwerde auch nur die Grundrechte des Beschwerdeführers zu prüfen.
Bitte beachtet hier die Parallele zur Beschwerdebefugnis: Diese liegt vor, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Beschwerdeführer selbst, d.h. in seinen eigenen Grundrechten, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist. In der Begründetheit geht es darum, festzustellen, ob der Beschwerdeführer tatsächlich in seinen Grundrechten verletzt ist. Dies gilt i.Ü. für alle Klagen (nicht nur vor dem BVerfG), sofern sie eine Klagebefugnis voraussetzen: In der Klagebefugnis geht es um die Möglichkeit einer Verletzung der Rechte des Klägers, in der Begründetheit um die tatsächliche Rechtsverletzung (vgl. etwa § 42 II und § 113 I 1 VwGO).
Bei Leistungsklagen gilt dies entsprechend.
Klagebefugnis: Der Kläger hat möglicherweise einen Anspruch.
Begründetheit: Der Kläger hat tatsächlich den Anspruch (oder er hat ihn tatsächlich nicht).
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Wichtig ist auch zu definieren, wann ein Grundrecht verletzt ist, nämlich: „Ein Grundrecht ist verletzt, wenn sein Schutzbereich eröffnet ist und der Staat ungerechtfertigt darin eingegriffen hat.“
Daraus folgt, dass nicht jeder Grundrechtseingriff eine Grundrechtsverletzung darstellt, sondern das nur dann der Fall ist, wenn für den Eingriff keine Rechtfertigung vorliegt. Bevor man dies geprüft hat, sollte man daher bloß von „Grundrechtsbetroffenheit“ o.Ä. sprechen. Dies gilt auch, wenn man keine Verfassungsbeschwerde, sondern z.B. eine verwaltungsrechtliche Klage prüft.
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„Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz und prüft daher nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.“
Das ist im Grundsatz zwar richtig, spielt aber nur bei Urteilsverfassungsbeschwerden eine Rolle. Deswegen ist der o.g. Satz auch nur bei solchen zu schreiben, nicht hingegen bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze oder Handlungen der Exekutive.
Der Grund dafür ist, dass das BVerfG nicht prüft, ob die Fachgerichte, deren Urteile nun mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden, das Fachrecht (z.B. BGB, StGB) korrekt angewendet haben. Dies ist vielmehr nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG allein die Aufgabe der Fachgerichte. Deswegen ist das Verfassungsgericht auch keine Superrevisionsinstanz; eine Revision gegen die falsche Anwendung des Fachrechts findet nicht statt. Das BVerfG prüft ausschließlich, ob die Fachgerichte bei ihrer Urteilsfindung die Grundrechtsrelevanz des Falles entweder komplett verkannt haben oder ob sie sie zwar gesehen, die Grundrechte des (jetzigen) Beschwerdeführers aber nicht hinreichend berücksichtigt haben. Dies wäre eine Verletzung des sog. spezifischen Verfassungsrechts (Grundrechte), die das BVerfG nunmehr prüft.
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Grundrechtsprüfung:
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Bei der Prüfung, ob der Staat in ein Grundrecht eingegriffen hat, werden gelegentlich der klassische und der moderne Eingriffsbegriff vermischt. Oft wird auch mit der Prüfung des klassischen Eingriffs begonnen und nach dessen – u.U. langwierigen – Verneinung mit dem modernen Eingriff fortgefahren.
Diese Vorgehensweise ist unklug, denn der klassische Eingriffsbegriff ist deutlich enger als der moderne. Beide Begriffe müssen voneinander getrennt werden. Für einen Grundrechtseingriff im klassischen Sinn ist erforderlich eine
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rechtsförmige,
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unmittelbare,
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finale und
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imperative
Maßnahme.3
Einen Eingriff im modernen Sinn (oft als „Beeinträchtigung“4 bezeichnet) stellt dagegen jede Handlung dar, welche die Ausübung der grundrechtlich gewährten Freiheiten erschwert oder sogar ganz unmöglich macht. Da dies schon ausreicht, um einen Grundrechtseingriff zu bejahen, ist es unnötig und verfehlt, zuvor lang und breit zu diskutieren, ob die strengen Voraussetzungen des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllt sind. Das kostet wertvolle Zeit und wird den Korrektor nicht erfreuen. Man ziehe in der Klausur also stets den modernen Eingriffsbegriff heran und prüfe dessen Voraussetzungen. Falls die staatliche Maßnahme auch noch die Kriterien des klassischen Eingriffs erfüllt, kann man dies anschließend in einem Satz kurz feststellen, etwa (neutral formuliert): „… Der Beschwerdeführer ist folglich in seinem Grundrecht beeinträchtigt. Darüber hinaus hat der Hoheitsakt rechtsförmigen, unmittelbaren, finalen und imperativen Charakter, sodass auch ein klassischer Eingriff vorliegt.“
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Schwierigkeiten treten gelegentlich auf, wenn es darum geht zu beurteilen, ob und wann ein Grundrecht Sperrwirkung ggü. einem anderen Grundrecht, insbesondere ggü. der allgemeinen Handlungsfreiheit, erzeugt.
Generell gilt auch bei Grundrechten die lex specialis-Regel.5 Ein Grundrecht, das einen spezielleren Schutzbereich hat, verdrängt das allgemeinere Grundrecht. Eine Sperrwirkung – v.a. ggü. Art. 2 I GG – wird erzeugt, wenn das spezielle Grundrecht betroffen ist, d.h. wenn sein Schutzbereich eröffnet ist und ein Eingriff in denselben vorliegt.6 Stellt man bspw. bei der Prüfung der Verletzung der Berufsfreiheit fest, dass der Schutzbereich eröffnet und beeinträchtigt ist, ist Art. 2 I GG gesperrt und darf nicht mehr geprüft werden. Stellt man bei der Prüfung von Art. 12 I GG jedoch fest, dass zwar der Schutzbereich eröffnet ist, jedoch kein Eingriff vorliegt, weil die belastende Maßnahme keine berufsregelnde Tendenz aufweist, ist Art. 2 I GG nicht gesperrt.
Grund für die Sperrwirkung von Grundrechten ist, dass spezielle Grundrechte besondere Rechtfertigungsanforderungen für Eingriffe aufstellen. Diese Anforderungen dürfen nicht ausgehebelt werden. Wenn sich also ein Eingriff in Art. 12 I GG als gerechtfertigt und damit die Berufsfreiheit als nicht verletzt erweist, darf man dieses Ergebnis nicht dadurch umgehen, dass man eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit annimmt.
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:
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Nachdem man im Obersatz gesagt hat, dass die staatliche Maßnahme verhältnismäßig sein müsse, muss man definieren, wann sie verhältnismäßig wäre. Diese Definition fehlt leider oft!
Sie lautet: „Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Zieles geeignet, erforderlich und angemessen ist.“
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Auch die Definition der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.) fehlt meistens und es wird wild drauflos argumentiert.
Die Definition lautet etwa (neutral formuliert) so: „Die staatliche Maßnahme ist angemessen, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Staates an der Durchführung dieser Maßnahme das Interesse des Betroffenen an der Unterlassung der Maßnahme überwiegt.“
Diese widerstreitenden Interessen müssen sodann argumentativ gegeneinander abgewogen werden. Die Maßnahme kann z.B. der Erlass einer Abrissverfügung sein. Diese Verfügung (bzw. der dahinter stehende Abriss der baulichen Anlage) ist angemessen, wenn das Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung das Interesse des Bauherrn am Erhalt der Anlage überwiegt.
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Gesetzgebungskompetenzen: Manchen Klausurbearbeitern scheint das Verhältnis von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen unbekannt zu sein, v.a. wann man eine Annexkompetenz annehmen darf. Oft wird vorschnell eine ungeschriebene Kompetenz bejaht.
Zunächst: Da i.d.R. die Länder gesetzgebungsbefugt sind, kommen geschriebene Gesetzgebungskompetenzen nur für den Bund in Betracht (Art. 70 I GG). Die Kompetenzen der Länder sind folglich stets ungeschrieben, sodass es bei der Abgrenzung von geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzgebungszuständigkeiten nur um solche des Bundes geht.
Hierbei sind ungeschriebene Rechtsetzungskompetenzen, zu denen auch Annexkompetenzen zählen, immer nur ein „Notanker“. Das heißt, sie kommen nur dann in Betracht, wenn kein geschriebener Kompetenztitel einschlägig ist. Das muss stets sorgfältig geprüft werden. Erst wenn jede erdenkliche Auslegungsvariante einer Kompetenznorm des Grundgesetzes versagt, um eine – geschriebene – Gesetzgebungskompetenz des Bundes bejahen zu können, darf man überlegen, ob eine ungeschriebene Kompetenz (Annexkompetenz, Kompetenz kraft Natur der Sache, Kompetenz kraft Sachzusammenhangs) infrage kommt. Ist auch dies zu verneinen, sind die Länder gem. Art. 70 I GG zuständig.
Noch einmal kurz und knapp: geschriebene vor ungeschriebenen Kompetenzen!
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Gesetzgebungsverfahren: Ebenfalls scheint vielen Bearbeitern nicht klar zu sein, wann und v.a. warum ein Bundesgesetz der Zustimmung des Bundesrats bedarf.
Bundesgesetze sind nur dann zustimmungsbedürftig, wenn das Grundgesetz es ausdrücklich vorschreibt. Dies ist der Fall, wenn durch das Gesetz Interessen der Länder betroffen werden. Damit der Bund den Ländern nicht einseitig Verpflichtungen auferlegen bzw. Rechte entziehen kann, müssen die Länder sich damit einverstanden erklären. Das ist eine wichtige Konsequenz aus dem Föderalismusprinzip.
