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Schlagwortarchiv für: EuGH

Gastautor

Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Über die Vorlagepflicht der nationalen Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV habe ich hier schon vor einigen Monaten berichtet anlässlich der Entscheidung des BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005): Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
 
I. Nun gibt es neue Impulse vom EuGH. Generalanwalt Bobek setzt sich mit den bisherigen Maßstäben ausführlich auseinander und schlägt ein Umdenken der insb. im Urteil in der Rs. CIFLIT (v. 6.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335) niedergelegten Maßstäbe vor (Schlussanträge v. 14.4.2021 – C-561/19, EU:C:2021:291). Weniger, dafür bessere Vorlagen. Nehme man die bisherigen Maßstäbe ernst, dann droht die Überlastung der Gerichte. Er begründet seine Ansicht in seiner ihm sehr eigenen, sehr narrativen Weise, mit der er sich gerade auch an Studenten wendet:
 

„Anders als die nationalen letztinstanzlichen Gerichte werden Studierende des Europarechts für das Urteil CILFIT u. a. vermutlich immer eher Sympathie gehabt haben. Im Lauf der letzten ein oder zwei Jahrzehnte werden die Herzen vieler Europarechtsstudenten wahrscheinlich mit einem plötzlichen Anflug von Freude und Erleichterung geklopft haben, wenn sie „Urteil CILFIT“, „Ausnahmen von der Vorlagepflicht“ und „Diskussion“ auf ihrem Prüfungs- oder Übungsblatt gelesen haben. Die Frage nach der Durchführbarkeit der nach dem Urteil CILFIT geltenden Ausnahmen von der Verpflichtung, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einzureichen, insbesondere der Ausnahme in Bezug auf das Fehlen eines vernünftigen Zweifels des nationalen letztinstanzlichen Gerichts, ist nämlich vielleicht nicht die anspruchsvollste Erörterungsaufgabe. Müssen diese Gerichte wirklich (alle) gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen des Unionsrechts miteinander vergleichen? Wie sollen sie, praktisch betrachtet, bestimmen, ob die Frage für die Gerichte anderer Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof gleichermaßen offenkundig ist?

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die Ausnahmen von dieser Pflicht und vor allem ihre Durchsetzung sind seit Jahren, bildlich gesprochen, schlafende Hunde des Unionsrechts. Wir wissen alle, dass sie da sind. Wir können alle über sie diskutieren oder gar akademische Aufsätze über sie schreiben. Im echten Leben aber weckt man sie am besten nicht. Pragmatisch (oder zynisch) gesagt, funktioniert das gesamte Vorabentscheidungssystem, weil niemand das Urteil CILFIT wirklich anwendet, jedenfalls nicht wörtlich. Oft ist es besser, sich einen Hund vorzustellen, als es mit dem lebenden Tier zu tun zu haben.

Aus einer Reihe von Gründen, die ich in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen werde, trage ich dem Gerichtshof den Vorschlag vor, dass es an der Zeit ist, die Rechtssache CILFIT zu überprüfen. Mein Vorschlag hierfür ist eher einfach und geht dahin, die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie die von ihr geltenden Ausnahmen so anzupassen, dass sie den Anforderungen des gegenwärtigen unionsrechtlichen Gerichtssystems entsprechen und dann realistisch angewendet (sowie möglicherweise zu gegebener Zeit durchgesetzt) werden können.

Der vorgeschlagene Anpassungsvorgang erfordert jedoch einen erheblichen Paradigmenwechsel. Die Grundgedanken und Ausrichtung der Vorlagepflicht und der von ihr geltenden Ausnahmen sollten sich wegbewegen vom Fehlen eines vernünftigen Zweifels im Hinblick auf die richtige Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall, der in Form eines subjektiven gerichtlichen Zweifel bestehen und festgestellt werden muss, hin zu einem objektiveren Gebot der Gewährleistung einer in der gesamten Union einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Mit anderen Worten sollte die Vorlagepflicht nicht in erster Linie auf die richtigen Antworten, sondern vielmehr auf die Ermittlung der richtigen Fragen ausgerichtet sein.“

 
II. Neugierig geworden? Einfach lesen. Es lohnt sich wirklich (und man erfährt auch noch was über den braven Soldat Schwjk). Und wer dann noch Lust und Energie hat, das Thema zu vertiefen, dann kann man sich auch mit dem Gegenteil beschäftigen: Wann nicht vorgelegt werden kann, selbst wenn man wollte. Auch Bobek betont: Vorgelegt werden kann nur, was entscheidungserheblich ist (nicht anders als bei der konkreten Normenkontrolle nachkonstitutionellen Rechts durch das BVerfG nach Art. 100 GG, s. hierzu BVerfG v. 28.1.1092, BVerfGE 85, 191). Hierbei ist anerkannt „dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; vgl. u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08 bis C-80/08, EU:C:2011:550 Rn. 30 und die dort angeführte Rspr.). Es gilt eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit von zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen. Daher kann der Gerichtshof eine Entscheidung nur in begrenzten Fällen ablehnen, insbesondere dann, wenn die Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs nicht erfüllt sind oder wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung der betreffenden Unionsregelung in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht oder wenn die Fragen hypothetischer Natur sind (Generalanwalt Bobek, Schlussantrag v. 13.1.2021 – C-645/19, EU:C:2021:5 Rn. 33). Die Frage ist unzulässig, „wenn das Problem hypothetischer Natur ist“ (EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105; in diesem Sinne u. a. EuGH v. 8.9.2011 – C-78/08, EU:C:2011:550 Rn. 31 und die dort angeführte Rspr.). Denn der Gerichtshof sieht die ihm durch Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe im Kern darin, „[…] zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben“ (wiederum EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, EU:C:2013:105).
 
Manche Gerichte haben offensichtlich Freude an der Vorlage, zu der sie gar nicht verpflichtet sind. So gibt es z.B. ein Gericht mit acht Vorlagen desselben Richters innerhalb von etwas mehr als 20 Monaten (Vorlagebeschluss vom 27.3.2019 – 6 K 1016/15.Wi, entschieden durch den Gerichtshof am 9.7.2020 – Rs. C‑272/19; Vorlagebeschluss v. 27.6.2019 – 6 K 565/17, entschieden durch den Gerichtshof am 12.5.2021 – C-505/19; Vorlagebeschluss vom 13.5.2020 – 6 K 805/19.WI, anhängig Rs. C-215/20; Vorlagebeschluss vom 15.5.2020 – 6 K 806/19.WI, anhängig als Rs C-222/20; Vorlagebeschluss vom 17.12.2020 – 23 K 1360/20.WI.PV, anhängig als Rs. C-34/21; Vorlagebeschluss vom 30.7.2021 – 6 K 421/21.WI, anhängig als Rs. C-481/21; Vorlagebeschluss vom 31.8.2021 – 6 K 226/21.WI, anhängig als Rs. C-552/21; Vorlagebeschluss vom 1.10.2021 – 6 K 788/20.WI; vor einigen Jahren schon Vorlagebeschluss vom 27.2.2009 – 6 K 1045/08.WI, entschieden EuGH v. 9.11.2010 Rs. C-93/09). Sie betreffen alle – wie die anderen Vorlagen – auch diesmal den Datenschutz. Dieses Rechtsgebiet ist wohl das „Steckenpferd“ des Richters, zu dem er in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche engagierte, durchaus kluge und auch rechtspolitisch ausgerichtete Beiträge veröffentlicht hat. Dabei kommentiert er auch seine eigenen Vorlagen, in denen er das gewünschte Ergebnis der Prüfung des Gerichtshofs vorwegnimmt (s. ZD-Aktuell 2021, 05470), oder im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs das Ergebnis, von dem er dann ggf. auch deutlich macht, wo er anders denkt (ZD 2021, 426).
 
III. Das mag man auch rechtspolitisch bewerten. Ich habe schon vor mehr als 15 Jahren geschrieben, ohne dass sich meine Meinung geändert hätte: Nicht alles muss nach Luxemburg (Thüsing, BB Editorial, Heft 35/2005). Die deutschen Gerichte bleiben vorlagefreudig und das ist gut so, weil es in den meisten Fällen der größeren Rechtssicherheit dient. Nicht alle diese Vorlagen verfolgen freilich dieses Ziel (s. auch Thüsing, BB-Editorial, Heft 25/2007). Zuweilen spielen die Instanzgerichte über Bande und versuchen, ihre Rechtsprechung, die das BAG nicht überzeugt, über den Umweg des EuGH zu erzwingen (s. hierfür exemplarisch die Vorlage im Verfahren Schultz-Hoff Rs. C-350/06 durch das LAG Düsseldorf v. 21.8.2006). So etwas hat einen faden Beigeschmack, insbesondere wenn die europarechtlichen Anknüpfungspunkte gering sind und die erhoffte Antwort nur richtig sein könnte, wenn nicht nur Deutschland, sondern sehr viele andere Länder auch irren würden. Allgemein gilt: respice finem! Wer vorlegt, muss sorgsam die Folgen berechnen, die seine Vorlage haben könnte.

18.11.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-11-18 08:27:472021-11-18 08:27:47Vorlagepflicht der nationalen Gerichte – Generalanwalt Bobek schlägt neue Perspektiven für Art. 267 Abs. 3 AEUV vor
Gastautor

EuGH als gesetzlicher Richter – Acte clair und éclairé darf nicht willkürlich angenommen werden

Europarecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Verfassungsrecht

Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
 
Das BVerfG (v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19) hat eine alte Frage erneut entschieden: Wann ein letztinstanzliches Gericht eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem EuGH vorlegen muss, ist eine Sache, eine andere aber, wann die Nichtvorlage trotz Vorlagepflicht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist und vor dem BVerfG gerügt werden kann.
Der Sachverhalt betraf eine höchst spannende Frage des Datenschutzes: Verpflichtet eine rechtswidrige Datenverarbeitung nach Art. 82 DSGVO auch bei relativ geringfügiger Beeinträchtigung zum Schadensersatz für Nichtvermögensschäden oder nur – Rechtsprechung Caroline von Monaco und Co. – ab einer gewissen Erheblichkeitsschwelle? Die Frage ist hoch umstritten (wer es nachlesen will, s. z.B. Fuhlrott/Oltmanns, ArbRAktuell 2020, 565; Ernst, BB 2020, 2164) – und dennoch ging das Amtsgericht Goslar davon aus, selbst entscheiden zu können, dass dem nicht der Fall ist. Ein Rechtsanwalt erhielt eine Werbe-E-Mail und mit Schreiben vom gleichen Tag mahnte der Beschwerdeführer den Beklagten des Ausgangsverfahrens ab. Einen Monat später verklagte er den Versender der E-Mail und beantragte u.a. die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes zu verurteilen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, das aber den Betrag von 500 Euro nicht unterschreiten solle.
500 Euro ist schon happig – für ein HWS-Syndrom mit Schädelprellung bekommt man manchmal auch nicht mehr (s. LG Mannheim v. 20.9.2013 – 8 O 82/12). Und so schlimm war das ja vielleicht gar nicht mit der Mail. Dennoch hob das BVerfG die Entscheidung auf. Denn ohne Frage hätte das AG Goslar vorlegen müssen:

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15. September 2005, C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005, C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; stRspr) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. auch BVerfGE 82, 159 <193>; 128, 157 <187>; 129, 78 <105 f.>; 140, 317 <376 Rn. 125>; 147, 364 <378 f. Rn. 37>). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).

Aber nicht in jeder falschen Anwendung einfachen Rechts – und mag es auch Europarecht sein – liegt schon ein Entzug des gesetzlichen Richters (ausführlich Thüsing/Pötters/Traut, NZA 2010, 930). Das BVerfG ist auch hier keine „Superrevisionsinstanz“ und auch kein „oberstes Vorlagenkontrollgericht“. Das macht auch das BVerfG nun deutlich:

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 181>; 147, 364 <380 Rn. 41>). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 75, 223 <245>; 82, 159 <195>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 182>; 147, 364 <381 Rn. 42>).

Und dann fügt es einen anderen bereits bekannten Textbaustein an:

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>)“.

Aber was ist vertretbar, und was ist unvertretbar? Das BVerfG gibt Hinweise:

Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; BVerfGK 10, 19 <29>). Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten (vgl. BVerfGE 135, 155 <232 f. Rn. 183>; 147, 364 <381 Rn. 43>).

Und dann wird es präziser, und gibt wiederum Hinweise, die man schon in verschiedenen anderen Entscheidungen bekommen hat:

In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 <234>; 128, 157 <188>; 129, 78 <107>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>). Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfGE 147, 364 <380 f. Rn. 41>; BVerfGK 8, 401 <405>; 10, 19 <30 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 – 1 BvR 2722/06 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 – 1 BvR 230/09 -, Rn. 19).

Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts – hier der DSGVO – an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 157 <188>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 – 1 BvR 230/09 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 – 1 BvR 1631/08 -, Rn. 48).
Es geht also darum: Sieht das Gericht die mögliche Vorlagepflicht, macht es sich kundig, und begründet es seine Meinung – dann darf es auch in der Subsumtion irren, ohne dass ein Verfassungsverstoß vorliegt. Willkür liegt vor, wenn es mehr oder wenig deutlich macht: Das entscheide ich jetzt selbst, mag es der EuGH auch noch nicht entschieden haben. Das BVerfG hat damit Spielraum im Einzelfall. Letztlich dürfte das in der Prüfung der Entscheidung eher ein gradueller als ein essentieller Unterschied sein.
Apropos: Die Rechtsfrage, die der EuGH jetzt bekommen könnte, ist wirklich spannend. Hoffen wir, dass er dies dann auch tatsächlich vorgelegt bekommt. Wenn das der Fall ist, dann wird die Vorlage hier besprochen werden. Versprochen.

25.02.2021/4 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-02-25 10:00:552021-02-25 10:00:55EuGH als gesetzlicher Richter – Acte clair und éclairé darf nicht willkürlich angenommen werden
Carlo Pöschke

Alles auf Anfang: (Doch) kein Verbraucherwiderrufsrecht des Bürgen

Examensvorbereitung, Kreditsicherung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht

Mit Urteil vom 22.09.2020 (Az.: XI ZR 219/19, BeckRS 2020, 27470) hat der BGH entschieden, dass einem Bürgen kein Widerrufsrecht gemäß §§ 355 Abs. 1, 312g Abs. 1, 312 Abs. 1, 312b Abs. 1 BGB zusteht. Die Frage der Widerruflichkeit von Bürgschaftserklärungen ist seit jeher zwischen Rechtsprechung und Literatur hoch umstritten. Mit seinem aktuellen Urteil haben die Karlsruher Richter nun zum zweiten Mal eine Hundertachtzig-Grad-Wende hingelegt: 1991 hat der BGH die Widerruflichkeit einer Bürgschaftserklärung zunächst abgelehnt, da eine Bürgschaft kein auf eine entgeltliche Leistung gerichteter Vertrag i.S.d. § 1 Abs. 1 des damals geltenden Haustürwiderrufsgesetzes darstelle (BGH NJW 1991, 2905). Diese Rechtsprechung hat der BGH später mit Blick auf die Haustürgeschäfterichtlinie 85/577/EWG, die eine Beschränkung auf entgeltliche Verträge nicht vorsah, und Erwägungsgrund 1 der Präambel, wonach auch einseitige Verpflichtungserklärungen erfasst werden sollten, korrigiert. Im Anschluss an den EuGH (NJW 1998, 1295) forderte der BGH jedoch zunächst das Vorliegen einer sog. „doppelten Haustürsituation“ (NJW 1998, 2356). Die Literatur hat das doppelte Haustürgeschäftserfordernis zu Recht massiv kritisiert: Denn die Schutzbedürftigkeit des Bürgen hängt nicht von der Lage des Hauptschuldners bei dessen Vertragsschluss ab. In der Folge gab der BGH auch das doppelte Haustürgeschäftserfordernis auf (NJW 2006, 845). Mit seiner Entscheidung vom 22.09.2020 hat der BGH nun alles wieder auf Anfang gesetzt: Mangels Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs des § 312 Abs. 1 BGB können Bürgschaftserklärungen nicht nach Verbraucherwiderrufsrecht widerrufen werden.
„How puzzling all these changes are!” schrieb bereits Lewis Caroll in dem 1865 erstmals erschienen weltberühmten Kinderbuch Alice’s Adventures in Wonderland. Dass diese zickzack verlaufende rechtliche Entwicklung für den ein anderen oder anderen „verwirrend“ sein mag, werden auch die Justizprüfungsämter erkennen. Insbesondere weil sowohl Bürgschafts- als auch Verbraucherwiderrufsrecht beliebte Examensthemen sind, ist es nur eine Frage der Zeit, wann diese Entscheidung auch im Examen geprüft wird.
 
A. Sachverhalt (vereinfacht und leicht abgewandelt)
Die G-Bank (im Folgenden: G) hat der S-GmbH (im Folgenden: S) ein Darlehen über 100.000 € gewährt. B war geschäftsführender Alleingesellschafter der S und übernahm zugunsten der G eine selbstschuldnerische Bürgschaft, die sämtliche Aspekte aus dem Kreditvertrag sicherte. Die Bürgschaftserklärung unterzeichnete B in Anwesenheit eines Mitarbeiters der G am 22.12.2015 in den Geschäftsräumen der S. Über ein Widerrufsrecht wurde er nicht belehrt. Nachdem ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Hauptschuldnerin gestellt worden war, kündigte die G wirksam mit Schreiben vom 26.04.2016 den Darlehensvertrag fristlos und stellte die 100.000 € zur Rückzahlung fällig. B wiederum widerrief seine auf den Abschluss des Bürgschaftsvertrags gerichtete Willenserklärung mit Schreiben vom 21.09.2016.
Die G fordert B zur Zahlung von 100.000 € auf. Zu Recht?
 
B. Gutachterliche Falllösung
Der G könnte gegen den B ein Anspruch auf Zahlung von 100.000 € aus einem wirksamen Bürgschaftsvertrag (§ 765 Abs. 1 BGB i.V.m. § 488 Abs. 1 S. 1 BGB) zustehen.
 
I. Anspruch entstanden
Dann müsste ein solcher Anspruch zunächst entstanden sein. Dies setzt aufgrund der Akzessorietät der Bürgschaft (§ 767 Abs. 1 S. 1 BGB) neben dem Abschluss eines wirksamen Bürgschaftsvertrags auch den Bestand der Hauptverbindlichkeit voraus.
 
1. Wirksamer Bürgschaftsvertrag
G und B müssten einen Bürgschaftsvertrag geschlossen haben. Ein Vertrag besteht aus zwei übereinstimmenden, in Bezug aufeinander abgegebenen Willenserklärungen, namentlich Angebot und Annahme. Vorliegend ist in dem Unterzeichnen der Bürgschaftserklärung ein Angebot des B auf Abschluss des Vertrags zu sehen. Dabei wurde auch das Schriftformerfordernis des § 766 S. 1 i.V.m. § 126 Abs. 1 BGB eingehalten, sodass die Willenserklärung des B nicht nach § 125 S. 1 BGB nichtig ist. Schließlich hat die G das Angebot des B jedenfalls konkludent angenommen. Somit wurde zwischen B und G ein wirksamer Bürgschaftsvertrag geschlossen.
 
2. Bestand der Hauptverbindlichkeit
Darüber hinaus müsste die G eine wirksame Hauptverbindlichkeit gegen die S haben. G und S haben einen Darlehensvertrag (§ 488 Abs. 1 BGB) über 100.000 € geschlossen, an dessen Wirksamkeit mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt keine Zweifel bestehen. Diesen Darlehensvertrag hat die G durch fristlose Kündigung gem. § 490 Abs. 1 BGB fällig gestellt. Es besteht eine Hauptverbindlichkeit aus dem Darlehensvertrag.
 
3. Zwischenergebnis
Der Anspruch der G gegen den B auf Zahlung von 100.000 € ist entstanden.
 
II. Anspruch nicht erloschen
Der Anspruch könnte jedoch durch wirksamen Widerruf gem. §§ 355 Abs. 1 S. 1 BGB mit ex nunc-Wirkung erloschen sein. Dazu müsste dem B ein Widerrufsrecht zustehen, welches er fristgerecht ausgeübt hat.
 
1. Bestehen eines Widerrufsrechts
Zu prüfen ist somit zunächst, ob dem B ein Widerrufsrecht zusteht. Im vorliegenden Fall könnte sich ein gesetzliches Widerrufsrecht aus §§ 312g Abs. 1, 312b Abs. 1 BGB ergeben. Das Bestehen eines Widerrufsrechts setzt zunächst voraus, dass dessen Anwendungsbereich eröffnet ist.
 
a) Persönlicher Anwendungsbereich, § 312 Abs. 1 BGB
In persönlicher Hinsicht erfasst § 312 Abs. 1 BGB Verbraucherverträge i.S.d. § 310 Abs. 3 BGB.
Nach der Legaldefinition des § 310 Abs. 3 BGB sind unter Verbraucherverträgen Verträge zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher zu verstehen.
Die G handelte bei Abschluss des Bürgschaftsvertrags in Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit und damit als Unternehmerin i.S.d. § 14 BGB.
Fraglich ist indes, ob auch B als Verbraucher zu qualifizieren ist. Nach der Legaldefinition des § 13 BGB ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu Zwecken abschließt, die überwiegend weder ihrer gewerblichen noch ihrer beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können. Dies ist vorliegend insoweit zweifelhaft, als dass B geschäftsführender Alleingesellschafter der S ist. Es ist daher davon auszugehen, dass B den Bürgschaftsvertrag nur eingegangen ist, um sicherzustellen, dass die G „seiner“ S-GmbH das Darlehen gewährt. Es könnte daher argumentiert werden, dass der Bürgschaftsvertrag der selbständigen Tätigkeit des B zuzurechnen ist. Dagegen spricht jedoch, dass die Verwaltung eigenen Vermögens, wozu auch das Halten eines GmbH-Anteils gehört, grds. keine gewerbliche Tätigkeit darstellt. Dies gilt selbst dann, wenn die Person geschäftsführender Alleingesellschafter der GmbH ist. Das Motiv der Bürgschaftsübernahme, durch Übernahme der persönlichen Haftung für die Rückzahlung des Darlehens den Fortbestand des Unternehmens und die eigene wirtschaftliche Existenzgrundlage zu sichern, ist dabei unerheblich (BGH NJW 2006, 431; OLG Hamburg WM 2020, 1066; MüKo-BGB/Micklitz, 8. Aufl. 2018, § 13 Rn. 57 m.w.N.). V handelte als Verbraucher, sodass der Bürgschaftsvertrag als Verbrauchervertrag zu qualifizieren ist und der persönliche Anwendungsbereich nach § 312 Abs. 1 BGB eröffnet ist.
 
b) Sachlicher Anwendungsbereich
In sachlicher Hinsicht verlangt § 312 Abs. 1 BGB – anders als noch § 312 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. –, dass der Verbrauchervertrag eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand hat. Erforderlich ist, dass der Unternehmer aufgrund eines Verbrauchervertrages die vertragscharakteristische Leistung zu erbringen hat.
 
aa) Enges Verständnis des Wortlauts des § 312 Abs. 1 BGB
Bei einem Bürgschaftsvertrag handelt es sich um einen einseitig den Bürgen verpflichtenden Vertrag. Eine entgeltliche Leistung des Verbrauchers fällt ihrem eindeutigen Wortlaut nach jedoch nicht unter die Vorschrift des § 312 Abs. 1 BGB. Legt man dieses enge Verständnis des Wortlauts des § 312 Abs. 1 BGB an, bestünde mangels Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs gem. § 312 Abs. 1 BGB kein Widerrufsrecht nach § 312g Abs. 1 BGB.
 
bb) Weites Verständnis des Wortlauts des § 312 Abs. 1 BGB
Das ganz überwiegende Schrifttum legt das Erfordernis, dass der Unternehmer die vertragscharakteristische Leistung zu erbringen hat, hingegen sehr weit aus. Es wird argumentiert, ein Bürgschaftsvertrag verpflichte zwar nur den Bürgen. Dieser leiste die Sicherheit aber gerade im Hinblick auf die Kreditgewährung durch den Sicherungsnehmer, sodass eine ausreichende Verknüpfung zur Leistung des Unternehmers bestehe (Staudinger/Thüsing, Neubearb. 2019, § 312 Rn. 9; BeckOK BGB/Martens, 55. Ed. 2020, § 312 Rn. 12; vgl. auch MüKo-BGB/Wendehorst, 8. Aufl. 2019, § 312 Rn. 35; Erman/Koch, 16. Aufl. 2020, § 312 Rn. 19).
Diese weite Auslegung hat der BGH allerdings nun abgelehnt: Die entgeltliche Leistung des Unternehmers müsse aus dem Verbrauchervertrag geschuldet werden, für welchen das Widerrufsrecht nach § 312g Abs. 1 BGB in Anspruch genommen wird. Dazu führt der BGH weiter aus:

Dies ergibt sich aus § 312 Abs. 1 BGB, der einen Verbrauchervertrag nach § 310 Abs.  3 BGB als Rechtsgrund für die Leistung voraussetzt. Dass die Leistung des Unternehmers aufgrund eines separaten, nicht dem § 310 Abs. 3 BGB unterfallenden Vertrags an einen Dritten erbracht wird, reicht danach nicht […].

 
cc) Analogie
Das Widerrufsrecht nach § 355 Abs. 1 i.V.m. §§ 312b Abs. 1, 312 Abs. 1, 312g Abs. 1 BGB könnte jedoch im Wege einer Analogie auf außerhalb von Geschäftsräumen gestellte Verbraucherbürgschaften ausgeweitet werden. Eine analoge Anwendung des § 312 Abs. 1 BGB kommt dann in Betracht, wenn eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage besteht.
Somit gilt es zunächst zu untersuchen, ob der § 312 Abs. 1 BGB eine planwidrige Regelungslücke aufweist. In diesem Zusammenhang stellt der BGH auf den aus den Gesetzgebungsmaterialien hervortretenden Willen des Gesetzgebers ab, wonach die Neuregelung der §§ 312 ff. BGB ausschließlich Verbraucherverträge erfassen sollte, die als Austauschvertrag mit einer Gegenleistungspflicht des Verbrauchers ausgestaltet sind. Verträge, in denen der Verbraucher die für den Vertragstypus charakteristische Leistung schuldet, sollten demgegenüber ausdrücklich nicht erfasst werden (BT-Drucks. 17/12637, S. 45; BT-Drucks. 17/13951, S. 72; BR-Drucks. 817/12, S. 73).
Ebenfalls könne man nicht davon ausgehen, dass der Gesetzgeber schlichtweg vergessen habe, die Widerruflichkeit auf den Bürgschaftsvertrags zu erstrecken. Denn:

Die Diskussion über die Widerruflichkeit von Bürgschaften war aufgrund der Entscheidung des EuGH […] [in der Rs. Dietzinger] […], die einen jahrelangen Meinungsstreit in Rechtsprechung und Literatur nach sich zog […], allgemein bekannt. Zudem ist der Gesetzgeber während des Gesetzgebungsverfahrens ausdrücklich auf die Gefahr einer Wiederholung dieser Diskussion für den Fall hingewiesen worden, dass das Gesetz eine entgeltliche Leistung des Unternehmers als Vertragsgegenstand des Verbrauchervertrages fordere […]. Der Gesetzgeber hat dies bei der Neufassung des § 312 Abs. 1 BGB nicht zum Anlass genommen, das Widerrufsrecht auf den einseitig den Verbraucher verpflichtenden Bürgschaftsvertrag zu erstrecken […].

Somit ist § 312 Abs. 1 BGB mangels planwidriger Regelungslücke nicht analog auf Verbraucherbürgschaftsverträge anzuwenden.
 
dd) Richtlinienkonforme Auslegung / Rechtsfortbildung
§ 312 ff. BGB setzen die RL 2011/83/EU um. Insoweit könnte daher eine richtlinienkonforme Auslegung des § 312 Abs. 1 BGB bzw. eine Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs im Wege der Rechtsfortbildung geboten sein. Dafür spricht der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL 2011/83/EU, wonach die RL für „jegliche Verträge, die zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher geschlossen werden“ gilt. Das Erfordernis, dass der Verbrauchervertrag eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand hat, findet sich in der RL hingegen nicht. Allerdings erfordere – so der BGH – der der RL zugrundeliegende Schutzzweck eine einschränkende Auslegung des Wortlauts des Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL 2011/83/EU:

Mit dem Widerrufsrecht zum Außergeschäftsraumvertrag sollte der Nachteil ausgeglichen werden, dass die Initiative zu den Vertragsverhandlungen in der Regel vom Gewerbetreibenden ausgeht und der Verbraucher auf die Verhandlungen außerhalb der Geschäftsräume des Gewerbetreibenden nicht vorbereitet ist oder psychisch unter Druck steht. Dies birgt die Gefahr, dass der Verbraucher Waren kauft oder Dienstleistungen in Anspruch nimmt, die er ansonsten nicht kaufen oder in Anspruch nehmen würde, beziehungsweise Verträge über Waren und Dienstleistungen zu überhöhten Preisen schließt, weil er keine Möglichkeit hat, Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen […]. Mit dem Widerrufsrecht zum Fernabsatzgeschäft wurde dem Verbraucher eine angemessene Bedenkzeit eingeräumt, damit er die gekaufte Ware prüfen und ausprobieren bzw. die Eigenschaften der Dienstleistung zur Kenntnis nehmen kann. Alle Überlegungen stellen danach auf eine Leistung des Unternehmers ab. Hieran knüpfen die Informationspflichten des Unternehmers nach Art. 6 und die Pflichten des Verbrauchers nach Art. 14 der Richtlinie an […].

Somit erfordert die RL 2011/83/EU nach Ansicht des BGH keine Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs des § 312g Abs. 1 BGB auf Bürgschaftsverträge.
 
ee) Zwischenergebnis
Mithin handelt es bei dem Bürgschaftsvertrag nicht um einen Verbrauchervertrag, der eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand hat. Der persönliche Anwendungsbereich nach § 312 Abs. 1 BGB ist nicht eröffnet.
 
c) Zwischenergebnis
Mangels Eröffnung des Anwendungsbereichs des  nach § 312 Abs. 1 BGB steht B kein Widerrufsrecht gem. §§ 312g I, 312b I BGB zu.
 
2. Zwischenergebnis
Der Anspruch ist nicht durch wirksamen Widerruf erloschen.
 
III. Anspruch durchsetzbar
Der Durchsetzbarkeit des Anspruchs steht auch nicht die Einrede der Vorausklage gem. § 771 BGB entgegen. Einerseits hat sich der B selbstschuldnerisch verbürgt (§ 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB), andererseits wurde über das Vermögen der S bereits das Insolvenzverfahren eröffnet (§ 773 Abs. 1 Nr. 3 BGB).
 
IV. Ergebnis
G steht gegen B ein Anspruch auf Zahlung von 100.000 € aus einem wirksamen Bürgschaftsvertrag (§ 765 Abs. 1 BGB i.V.m. § 488 Abs. 1 S. 1 BGB) zu.
 
C. Stellungnahme
Die Entscheidung des BGH enthält viel Kluges: Die Karlsruher Richter argumentieren sauber am Wortlaut des § 312 Abs. 1 BGB entlang und schließen nicht – wie Teile der Literatur –  vorschnell von der Schutzbedürftigkeit eines Bürgen auf das Bestehen eines Widerrufsrechts nach § 355 Abs. 1 i.V.m. §§ 312g Abs. 1, 312 Abs. 1, 312b Abs. 1 BGB. Des Weiteren wird mustergültig dargelegt, weshalb das Widerrufsrecht nach § 355 Abs. 1 i.V.m. §§ 312g Abs. 1, 312 Abs. 1, 312b Abs. 1 BGB nicht im Wege einer Analogie auf außerhalb von Geschäftsräumen gestellte Verbraucherbürgschaften auszuweiten ist.
Der BGH ist davon überzeugt, dass sich die RL 2011/83/EU ihrem Telos nach nicht auf Verbraucherbürgschaftsverträge beziehen kann. Dabei ist sich der BGH seiner Sache ganz sicher: Schließlich hat es der XI. Senat nicht einmal für nötig empfunden, den Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV anzurufen. Aufgrund „des Wortlauts, der Regelungssystematik und des Regelungszwecks der Richtlinie“ bleibe nämlich kein Raum für Zweifel, sodass es sich um einen sog. acte clair, der eine Vorlagepflicht entfallen lässt, gehandelt habe.
Angesichts der zahlreichen Gegenstimmen in der Literatur und des eindeutigen Wortlauts des Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL 2011/83/EU erscheint die Annahme eines acte clair verwunderlich: Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL 2011/83/EU verlangt nämlich keine entgeltliche Leistung des Unternehmers, sondern lediglich einen Verbrauchervertrag. Auch der Schutzzweck der Richtlinie erfordert keine teleologische Reduktion seines Wortlauts. Denn Zweck der Richtlinie ist es, wie der BGH richtig dargelegt hat, Verbraucher vor Verhandlungen außerhalb von Geschäftsräumen zu schützen, auf die sie nicht vorbereitet sind und bei denen sie unter Umständen psychisch unter Druck stehen. Wenn Verbraucher davor geschützt werden sollen, Waren zu kaufen oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, dann muss erst recht der Bürge geschützt werden, der eine Verbindlichkeit eingeht, ohne eine Gegenleistung dafür zu erhalten. Auch das Argument, die Informationspflichten des Unternehmers nach Art. 6 RL 2011/83/EU sowie die Pflichten des Verbrauchers nach Art. 14 RL 2011/83/EU knüpfen an eine Leistung des Unternehmers an, vermag nicht zu überzeugen. Richtig ist zwar, dass sich sowohl die Informationspflichten des Unternehmers als auch die Pflichten des Verbrauchers vorwiegend auf Waren und Dienstleistungen beziehen. Allerdings umfasst die Richtlinie laut Art. 3 Abs. 1 S. 2 ausdrücklich auch die Lieferung von Wasser, Gas, Strom oder Fernwärme. Teile der Informationspflichten des Unternehmers und der Pflichten des Verbrauchers passen aber beispielsweise auch nicht auf die Lieferung von Wasser, Gas, Strom oder Fernwärme: So würde es weder Sinn machen, dem Verbraucher Informationen zu den wesentlichen Eigenschaften (Art. 6 Abs. 1 lit. a) RL 2011/83/EU) von Wasser, Gas, Strom oder Fernwärme zur Verfügung zu stellen, noch können Wasser, Gas, Strom oder Fernwärme an den Anbieter zurückgesendet werden (Art. 6 Abs. 1 lit. i), Art. 14 Abs. 1 RL 2011/83/EU). Die in Art. 6 und Art. 14 RL 2011/83/EU aufgezählten Pflichten finden also nur Anwendung, soweit sie für den konkreten Vertrag einschlägig sind; sie schließen die Einbeziehung von einseitig den Verbraucher verpflichtenden Verträgen in den Anwendungsbereich des Verbraucherwiderrufsrecht jedoch nicht aus.
All dies zeigt: Es spricht viel dafür, dass die vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene Einschränkung in § 312 Abs. 1 BGB gegen die RL 2011/83/EU verstößt (so auch Maume, NJW 2016, 1041). Dies hätte zur Folge, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts die Beschränkung in § 312 Abs. 1 BGB auf Verbraucherverträge, die eine entgeltliche Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben, unangewendet bleiben müsste. Jedenfalls aber hätte der BGH den EuGH um Auslegung des Art. 3 Abs. 1 S. 1 RL 2011/83/EU ersuchen müssen.
 
D. Summa
In einem Satz lässt sich diese bemerkenswerte Entscheidung des BGH wie folgt zusammenfassen: Bürgschaftsverträge fallen nicht in den Anwendungsbereich des Verbraucherwiderrufsrechts nach § 312 Abs. 1 BGB – weder unmittelbar, noch analog oder aufgrund richtlinienkonformer Auslegung. Nun muss man diese Entscheidung nicht für richtig halten, vertieft auseinandersetzen sollte sich der Examenskandidat mir ihr dennoch. Bei dieser Gelegenheit ist es ratsam, sich die Grundsätze des Bürgschaftsrechts noch einmal vor Augen zu führen. Denn es ist ein Leichtes, diese Entscheidung mit typischen Problemen aus dem Bürgschaftsrecht – von der Form des Bürgschaftsversprechens, über die Sittenwidrigkeit einer Bürgschaft bis hin zur formularmäßigen Vereinbarung von Globalbürgschaften (Stichwort: Anlassrechtsprechung) – zu einem Examensfall „anzufetten“.
Um die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs des Verbraucherwiderrufsrechts ging es auch in BAG NZA 2019, 688. Das BAG hat die Widerrufbarkeit von arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträgen nach §§ 312g I, 312b I BGB abgelehnt und gleichzeitig das Gebot fairen Verhandelns, das in der Literatur zuvor bereits vereinzelt Anklang gefunden hat, ausdrücklich anerkannt. Eine Besprechung dieser ebenfalls examensrelevanten Entscheidung findet ihr hier.

09.11.2020/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2020-11-09 08:35:002020-11-09 08:35:00Alles auf Anfang: (Doch) kein Verbraucherwiderrufsrecht des Bürgen
Dr. Melanie Jänsch

EuGH: Neues zum Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts bei individuell angefertigter Ware

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Mit aktuellem Urteil vom 21.10.2020 (Az.: C-529/19) hat der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV entschieden, dass ein Widerrufsrecht bei individuell anzufertigender Ware auch dann ausgeschlossen ist, wenn mit der Produktion noch gar nicht begonnen wurde. Die Normen zum Verbraucherwiderruf bei einem außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrag gehen auf europäisches Sekundärrecht zurück; aufgrund des Gebots richtlinienkonformer Auslegung ist die Entscheidung daher für das Verständnis der nationalen Verbraucherwiderrufsvorschriften – konkret: des § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB – maßgeblich und kann angesichts dessen auch in ihrer Bedeutung für Zivilrechtsklausuren als gewichtig eingeschätzt werden. In einer entsprechenden Klausur könnte die – trotz ihrer Examensrelevanz von den meisten Studierenden eher stiefmütterlich behandelte – Thematik problemlos in eine Anspruchsprüfung eingebettet werden, weshalb sich den Grundsätzen der Entscheidung im Rahmen des nachfolgenden Beitrags klausurtypisch in Form einer Anspruchsprüfung genähert werden soll.
 
A) Sachverhalt (vereinfacht und leicht abgewandelt)
Die K, eine Verbraucherin, kaufte auf einer gewerblichen Messe bei der V GmbH eine speziell auf ihre Bedürfnisse angepasste Einbauküche. Teile dieser Küche hätten bei einer Drittfirma angefertigt werden müssen und wären nach Anpassung in der Käuferwohnung nicht mehr weiter verwendbar gewesen. Ein paar Tage nach Abschluss des Vertrags überlegte es sich die K jedoch anders; sie kontaktierte die V GmbH und widerrief den Kauf. V berief sich auf den Ausschluss des Widerrufs bei individuell herzustellender Ware nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB. Die K wandte daraufhin ein, dass dem Unternehmen zum Zeitpunkt des Widerrufs noch keinerlei Schaden entstanden sei, weil die Anfertigung der Passstücke noch gar nicht begonnen worden war. Und selbst bei Vertragserfüllung wäre der tatsächliche Schaden sehr gering gewesen. V bestand weiterhin auf Zahlung und Abnahme der Küche. Angesichts der europarechtlichen Grundlagen des Verbraucherwiderrufsrechts legte das AG Potsdam dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob der Widerrufsausschluss der Verbraucherrechterichtlinie (Art. 16 Buchstabe c der Richtlinie) auch gilt, wenn der Verkäufer beziehungsweise die Drittfirma zum Zeitpunkt des Widerrufs noch gar nicht mit der individuellen Fertigung begonnen hat.
 
B) Rechtsausführungen
In einer entsprechenden Klausur könnte nach einem Anspruch der V auf Kaufpreiszahlung und Abnahme der Küche gemäß § 433 Abs. 2 BGB gefragt sein, der im Folgenden geprüft werden soll.
I. Zweifelsohne wurde ein hierfür erforderlicher wirksamer Kaufvertrag i.S.v. § 433 BGB über die Einbauküche abgeschlossen.
II. Der Anspruch auf Kaufpreiszahlung und Abnahme der Sache gemäß § 433 Abs. 2 BGB könnte indes erloschen sein, wenn die K ihre Willenserklärung nach den Grundsätzen des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1 S. 1 BGB wirksam widerrufen hat. Dies setzt das Bestehen eines Widerrufsrechts voraus, welches innerhalb der Widerrufsfrist ausgeübt wurde.
 
Anmerkung: Ein Widerruf wirkt nach h.M. – wie der Rücktritt nach den §§ 346 ff. BGB und im Gegensatz zur Anfechtung gemäß § 142 Abs. 1 BGB – ex nunc.
 
1. Zunächst ist also zu prüfen, ob der K ein Widerrufsrecht zusteht. Ein solches kann sich mangels vertraglicher Vereinbarungen im vorliegenden Fall allein gesetzlich, konkret aus § 312g Abs. 1 BGB ergeben, der Verbrauchern bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (AGV) und bei Fernabsatzverträgen ein Widerrufsrecht einräumt.
a) Unproblematisch liegt hier ein für die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs notwendiger Verbrauchervertrag i.S.v. §§ 312 Abs. 1, 310 Abs. 3 BGB vor, der auf eine entgeltliche Leistung gerichtet ist: Als natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu Zwecken abgeschlossen hat, die weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können, sondern vielmehr privater Natur sind, handelte die K als Verbraucherin gemäß § 13 BGB. Die V GmbH ist eine juristische Person des Privatrechts, welche beim Abschluss des Kaufvertrags in Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit, mithin als Unternehmerin gemäß § 14 Abs. 1 BGB handelte. Der Kaufvertrag über die Einbauküche stellt einen auf entgeltliche Leistung des Unternehmers gerichteten Vertrag dar, § 312 Abs. 1 BGB.
b) Ist danach der persönliche Anwendungsbereich eröffnet, müsste der Vertrag außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen worden sein. Nach der Legaldefinition des § 312b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB fallen hierunter Verträge, die bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort geschlossen werden, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist. Was ein Geschäftsraum ist, benennt § 312b Abs. 2 S. 1 BGB: Hier kommt ein sog. beweglicher Geschäftsraum in Betracht, der Gewerberäume erfasst, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit für gewöhnlich ausübt. Ein Schwerpunkt der gutachterlichen Prüfung sollte angesichts dessen darauf liegen, ob ein Messestand unter diese Definition subsumiert werden kann. Da das Verbraucherwiderrufsrecht auf europäisches Sekundärrecht (die RL 2011/83/EU) zurückgeht, sind bei der näheren Bestimmung der Reichweite des Begriffs auch europarechtliche Vorgaben zu beachten. Nach Ansicht des EuGH kommt es ausgehend vom Schutzzweck des Verbraucherwiderrufsrechts darauf an, ob „in Anbetracht aller tatsächlichen Umstände rund um diese Tätigkeiten und insbesondere des Erscheinungsbilds des Messestandes sowie der vor Ort auf der Messe selbst verbreiteten Informationen ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Verbraucher vernünftigerweise damit rechnen konnte, dass der betreffende Unternehmer dort seine Tätigkeiten ausübt und ihn anspricht, um einen Vertrag zu schließen“ (EuGH, Urt. v. 07.08.2018 – C-485/17, EuZW 2018, 742). Vereinfacht: Maßgeblich ist, ob der Verbraucher wegen des offensichtlichen Verkaufscharakters der Messe davon ausgehen musste, dass Unternehmer dort Verträge abschließen.
 
Anmerkung: Der BGH hat sich mit der auf juraexamen.info bereits ausführlich besprochenen Problematik des Verbraucherwiderrufs bei Messeständen in einer examensrelevanten Entscheidung aus dem letzten Jahr bereits auseinandergesetzt (Urt. v. 10.04.2019 – VIII ZR 82/17, BeckRS 2019, 7655): Nach den Maßstäben dieses Urteils ist bei einer Verkaufsmesse mit unterschiedlichen Ausstellern unter Berücksichtigung der europarechtlichen Grundlagen nicht von einer typischen Überrumpelungssituation auszugehen; im Gegenteil muss ein Verbraucher – außer in Messebereichen, die ihrem äußeren Erscheinungsbild nach lediglich Werbe- und Informationszwecken dienen – mit Verkaufsangeboten rechnen, sodass ein beweglicher Geschäftsraum i.S.d. § 312b Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB vorliegt und damit kein Widerrufsrecht besteht.
 
Handelt es sich also um einen Messebereich, in dem der durchschnittlich informierte Verbraucher damit rechnen muss, dass er vom Unternehmer angesprochen wird, liegt beim Abschluss des Kaufvertrags ein beweglicher Geschäftsraum und damit eben kein Vertrag außerhalb von Geschäftsräumen vor. Schon aus diesem Grund wäre ein Widerruf dann ausgeschlossen. Im vorliegenden Fall bedarf es diesbezüglich weitergehender Feststellungen: Der EuGH hat das AG Potsdam ausdrücklich darauf hingewiesen, dass – auf der Basis der vorstehenden Erwägungen – fraglich sei, ob der Kauf überhaupt außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossen worden sei. Es bedürfe hier einer Aufklärung, wo denn genau auf der Messe die Küche gekauft worden sei (Rn. 16 f.).
 
2. Dies kann jedoch dahinstehen, weil ein Widerruf bei individuell anzufertigender Ware ohnehin ausgeschlossen ist – und das, wie der EuGH nunmehr eindeutig klarstellt – sogar dann, wenn zum Zeitpunkt des Widerrufs noch gar nicht mit der individuellen Fertigung begonnen wurde. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB, der seinem klaren Wortlaut nach unabhängig vom Stand der Produktion darauf abstellt, ob für die Herstellung der Ware „eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist“, ist insoweit mit Unionsrecht vereinbar. Nach den Ausführungen des EuGH

„weist nichts im Wortlaut von Art. 16 Buchst. c der Richtlinie 2011/83 darauf hin, dass die Ausnahme von dem in dieser Bestimmung geregelten Widerrufsrecht von irgendeinem Ereignis abhängt, das nach dem Abschluss eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags über die Lieferung von „Waren …, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind“, eintritt.“ (Rn. 24).

Im Gegenteil müsse ein Verbraucher vor bzw. bei Abschluss eines Vertrags sicher wissen, ob ihm ein Widerrufsrecht zustehe:

„Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/83 sichergestellt werden soll, dass dem Verbraucher vor Abschluss eines Vertrags sowohl die Informationen über dessen Bedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses übermittelt werden, die dem Verbraucher die Entscheidung ermöglichen, ob er sich vertraglich an einen Unternehmer binden möchte, als auch die Informationen, die zur ordnungsgemäßen Vertragserfüllung und vor allem zur Ausübung seiner Rechte, insbesondere seines Widerrufsrechts, erforderlich sind (Urteil vom 10. Juli 2019, Amazon EU, C‑649/17, EU:C:2019:576, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Bestehen des Widerrufsrechts des Verbrauchers an ein zukünftiges Ereignis zu knüpfen, dessen Eintritt von der Entscheidung des Unternehmers abhängt, wäre jedoch mit dieser Pflicht zur vorvertraglichen Unterrichtung unvereinbar.“ (Rn. 26 f.)“

Dies gelte umso deutlicher, als der Verbraucher regelmäßig auf den Fortschritt der Produktion weder Einfluss habe noch darüber informiert werde. Letztlich ist daher der konkrete Vertragsschluss der maßgebliche Zeitpunkt, nach dem sich bestimmt, ob ein Widerrufsrecht besteht. Übertragen ins nationale Recht heißt das, dass ein Widerruf – unabhängig davon, ob überhaupt ein außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Vertrag besteht – jedenfalls nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB ausgeschlossen ist.
III. K ist damit weiterhin zur Kaufpreiszahlung und Abnahme der Küche nach § 433 Abs. 2 BGB verpflichtet.
 
C) Fazit
Selbst nach Ansicht des EuGH, der regelmäßig zur weiten Auslegung verbraucherschützender Vorschriften neigt, gilt: Verbraucherschutz nicht um jeden Preis. Wer einen Gegenstand kauft, bei dem einzelne Stücke speziell angepasst oder individuell hergestellt werden müssen, hat kein Widerrufsrecht – und das unabhängig davon, ob mit der Fertigung überhaupt schon begonnen wurde und dem Verkäufer damit ein Schaden entstünde oder nicht. Der Entscheidung gebührt uneingeschränkte Zustimmung: Aus Gründen der Rechtssicherheit muss im Zeitpunkt des Vertragsschlusses feststehen, ob dem Verbraucher ein Widerrufsrecht zusteht oder nicht – und dann kann es nicht auf den Stand der Produktion ankommen.
 

02.11.2020/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2020-11-02 08:39:212020-11-02 08:39:21EuGH: Neues zum Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts bei individuell angefertigter Ware
Gastautor

Urteil des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Alexandra Ritter veröffentlichen zu können. Die Autorin studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit tätig.
Im Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen Ungarn hat der EuGH mit Urteil vom 6. Oktober 2020 (Az. C-66/18) festgestellt, dass das ungarische Hochschulgesetz gleich mehrfach gegen europäisches Recht verstößt. Aktuelle europarechtliche Fragen und Verfahren sind in jüngster Zeit vermehrt Gegenstand von Universitäts- und Examensklausuren und insbesondere von mündlichen Prüfungen. Die Entscheidung sollte Anlass bieten, die Grundlagen der Verfahren vor dem EuGH sowie der europäischen Grundrechte zu wiederholen. Hier nun ein Überblick über Sachverhalt und Entscheidungsgründe.
I. Hintergrund der Entscheidung
Im Jahr 2017 hat wurde das ungarische Hochschulgesetz geändert. Mediale Aufmerksamkeit erfuhr die Gesetzesänderung dadurch, dass die Central European University (CEU) infolge der Gesetzesänderung, seinen Sitz von Budapest nach Wien verlegen musste. Einige Studierende hatten zuvor noch gegen die Gesetzesänderung protestiert (Langowski, Für freie Universitäten in Ungarn, in: Tagesspiegel (online) v. 28.11.2018).
II. Gegenstand der Gesetzesänderung des ungarischen Hochschulgesetzes
Die problematische Gesetzesänderung bestand im Wesentlichen aus zwei Aspekten, die auch Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH waren. Zum einen wurde in Art. 76 Abs. 1 lit. a des Hochschulgesetzes – vereinfacht dargestellt – geregelt, dass Hochschulen mit Sitz außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums nur dann innerhalb Ungarns ihre Lehre anbieten dürfen, wenn zwischen ihrem Herkunftsstaat und Ungarn ein entsprechender völkerrechtlicher Vertrag besteht. Zum anderen wurde in Art. 76 Abs. 1 lit. b des Hochschulgesetzes geregelt, dass ausländische Hochschulen zusätzlich nur dann innerhalb Ungarns ihre Lehre anbieten dürfen, wenn sie dies auch in ihrem Herkunftsstaat tun. Im Gegensatz zu Art. 76 Abs. 1 lit. a des Hochschulgesetzes, der nur für Hochschulen mit Sitz in Drittstaaten gelten sollte, sollte diese Regelungen auch für Hochschulen mit Sitz in einem Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums gelten. Da durch die Gesetzesänderung ganz besonders die CEU betroffen war, wurde sie auch als „Lex CEU“ bezeichnet.
Infolge der Gesetzänderung wurde ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, in dem der EuGH mit seinem Urteil nun mehrfach Verstöße gegen Unionsrecht feststellt. Im Folgenden sollen die wesentlichen Aspekte der Entscheidung beleuchtet werden.
III. Verstoß gegen das GATS-Abkommen der Welthandelsorganisation
Zunächst stellt der EuGH fest, dass er zuständig ist, Verstöße gegen Abkommen der Welthandelsorganisation festzustellen. Von der Union geschlossene internationale Übereinkünfte sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nämlich ab ihrem Inkrafttreten integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung (s. Urt. v. 8.3.2011 – C-240/09, Rn. 31 ff – Lesoochranárske zoskupenie). Auch das der Welthandelsorganisation eigene Streitbeilegungsverfahren ändere nichts an der Zuständigkeit (EuGH, Pressemitteilung Nr. 66/20 v. 6.10.2020, S. 2 (engl.)). Ungarn ist nach Art. XIIV des General Agreement on Trade and Service (GATS) dazu verpflichtet, den Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds der Welthandelsorganisation eine Behandlung zu gewähren, die nicht weniger günstig ist, als die, die es seinen eigenen vergleichbaren Dienstleistungserbringern gewährt. Hiergegen wird mit dem Erfordernis eines völkerrechtlichen Abkommens zum Tätigwerden einer Hochschule innerhalb Ungarns nach Art. 76 Abs. 1 lit. a des Hochschulgesetzes verstoßen. Der Verstoß kann auch nicht durch Erwägungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt werden (EuGH, Pressemitteilung Nr. 66/20 v. 6.10.2020, S. 2 (engl.))
Mit der Anforderung, dass Hochschulen mit Sitz in Drittstaaten auch dort Hochschullehre anbieten müssen, wird ein weiterer Verstoß gegen Art. XVII GATS begründet.
IV. Verstoß gegen die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und Rechte aus der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh)
Die Voraussetzung des Hochschulgesetzes, nach welcher Hochschulen mit Sitz in einem Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums auch in ihrem Herkunftsstaat Lehre anbieten müssen, Art. 76 Abs. 1 b des Hochschulgesetzes, verstößt gegen diverse Vorschriften des Unionsrechts.
1. Verstoß gegen die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit
Zunächst verstößt das ungarische Hochschulgesetz hier ungerechtfertigt gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV und gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 16 RL 2006/123/EG. Auch die Generalanwältin stellt diese Verstöße in ihren Schlussanträgen (Rs. C-66/18) fest. Indem die ausländischen Hochschulen an der Aufnahme ihrer Tätigkeit gehindert werden, liegt ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor (Generalanwältin Kokott, Schlussantr. Rs. C-11/94, Rn. 156). Eine Rechtfertigung kann sich hier nicht aus Erwägungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 AEUV ergeben.
Art. 76 Abs. 1 lit. b des Hochschulgesetzes dient der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG. Er verstößt aber gegen Art. 16 derselben, wegen seines diskriminierenden Charakters (Generalanwältin Kokott, Schlussantr. Rs. C-11/94, Rn.170 f.). Auch hier ist eine Rechtfertigung nicht zu erblicken.
Im Rahmen der Prüfung wird Art. 16 RL 2006/123/EG als im Verhältnis zu Art. 56 AEUV speziellere Vorschrift angesehen, weshalb ein Verstoß gegen letztere nicht zusätzlich geprüft wird.
2. Verstoß gegen Art. 14 Abs. 3 und Art. 13 GRCh
Weiter wird durch das Hochschulgesetz gegen die Freiheit zur Gründung von Lehrveranstaltungen, Art. 14 Abs. 3 GRCh und gegen den Grundsatz der akademischen Freiheit, Art. 13 GRCh, verstoßen. Die akademische Freiheit hat nicht nur eine individuelle Dimension, die die Meinungsfreiheit, insbesondere im Bereich der Forschung, umfasst, sondern auch eine institutionelle und organisatorische Dimension (EuGH, Pressemitteilung Nr. 66/20 v. 6.10.2020, S. 3 (engl.)). Das Hochschulgesetz gefährdet die autonome Infrastruktur und Gestaltung der Hochschulen hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und lehrenden Tätigkeiten, sodass ein Verstoß gegen den Grundsatz der akademischen Freiheit nach Art. 13 GRCH vorliegt. Zudem wird das Gründen von Hochschulen verhindert, sodass zudem gegen Art. 14 Abs. 3 GRCH verstoßen wird. Eine Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 1 CRCH ist wieder nicht ersichtlich.
V. Zum Schluss
Am Ende hat Ungarn mit dem Urteil des EuGH eine weitere Niederlage vor der Institution erlitten. Das Hochschulgesetz verstößt gleich mehrmals gegen Unionsrecht – gegen das GATS-Abkommen, gegen die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und gegen die Vorschriften zum Schutz der Freiheit der Lehre aus der Europäischen Grundrechtecharta. Das ohnehin schon angespannte Verhältnis zwischen einigen Mitgliedstaaten der Union und Ungarn dürfte durch dieses Urteil zumindest keine Entspannung erfahren. Für die CEU kommt das Urteil jedoch zu spät, denn sie hat ihre Tätigkeit bereits nach Wien verlegt.

09.10.2020/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2020-10-09 08:15:072020-10-09 08:15:07Urteil des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn
Dr. Lena Bleckmann

BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 (Az. 2 BvR 859/15 u.a.), das mehreren Verfassungsbeschwerden im Hinblick auf das Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise stattgab, hat große mediale Aufmerksamkeit erhalten. Neben spezifischen Fragen der Währungs- und Wirtschaftspolitik werden vor allem europarechtliche Fragestellungen zur Kompetenzverteilung innerhalb der Europäischen Union relevant, die jedem Examenskandidaten geläufig sein sollten. Dies führt – neben der politischen Tragweite der Entscheidung – zu einer besonders hohen Examensrelevanz. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die wesentlichen Verfahrensfragen und Entscheidungspunkte bieten.
Worum es geht
Im Jahre 2015 beschloss die EZB das Staatsanleihekaufprogramm „PSPP“. Ziel des Programms ist es, durch den Kauf von Staatsanleihen und ähnlichen Schuldtiteln die Geldmenge im Wirtschaftskreislauf auszuweiten, was Investitionen fördern und langfristig zu einer Erhöhung der Inflationsrate auf ca. 2 % führen soll. Die EZB sieht sich hierbei der fortlaufenden Kritik ausgesetzt, nicht nur die ihr übertragene Währungs-, sondern darüber hinaus kompetenzwidrig Wirtschaftspolitik zu betreiben. Der EuGH entschied indes nach Vorlage des BVerfG am 11.12.2018 (C-493/17), das PSPP halte sich im Rahmen der Kompetenzen der EZB. Das BVerfG hatte nun über mehrere Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die sich u.a. gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages, darauf hinzuwirken, dass die Beschlüsse des EZB hinsichtlich des PSPP aufgehoben bzw. nicht durchgeführt werden, richteten. Die Beschwerdeführer machten weiterhin geltend, das Urteil des EuGH vom 11.12.2018 sei im Geltungsbereich des Grundgesetzes als Ultra-Vires-Akt nicht anwendbar.
Europarechtliche Grundlagen
Der Beschwerdegegenstand bedarf der Erläuterung: Während es den Beschwerdeführern maßgeblich darum gehen dürfte, die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der EZB feststellen zu lassen, wenden sie sich gegen das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages. Dies ist darin begründet, dass Gegenstand der Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 1 BVerfGG nur Akte der öffentlichen Gewalt sein können, womit ausschließlich die deutsche Staatsgewalt gemeint ist (siehe BeckOK BVerfGG/Grünewald, § 90 Rn. 71). Dennoch ist die Überprüfung des Handelns von Unionsorganen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde möglich, und zwar soweit sie Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane sind oder aus der Integrationsverantwortung folgende Handlungspflichten dieser auslösen (BVerfG v. 19.7.2016 – 2 BvR 2752/11, Rn. 17 und BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 u.a., Rn. 23). Die Beschwerdebefugnis des Einzelnen leitet das BVerfG in einem solchen Fall aus der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG her:

„Das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag erschöpft sich nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt. Der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf demokratische Selbstbestimmung gilt auch in Ansehung der europäischen Integration und schützt sie im Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 GG vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sowie davor, dass solche Maßnahmen die Grenze der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze des Art. 1 oder des Art. 20 GG überschreiten.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 98, Verweise im Zitat ausgelassen).

Die Kompetenzkontrolle durch das BVerfG ist also als Unterfall der Identitätskontrolle zu verstehen – der unantastbare Verfassungskern, der gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG auch den Maßstab für die Kontrolle des Unionshandelns bildet, ist berührt, wenn Unionsorgane ihre Kompetenzen überschreiten. Ein solcher Ultra-Vires-Akt ist nicht hinreichend durch die deutschen Wähler legitimiert, eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist möglich.
Bei der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten ist stets das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 EUV zu beachten: Die EU-Organe dürfen sich stets nur im Rahmen der Kompetenzen bewegen, die ihnen ausdrücklich durch die Mitgliedsstaaten übertragen wurden. Wird die Kompetenzordnung missachtet, sieht das BVerfG den Bundestag und die Bundesregierung in der Pflicht:

„Überschreitet eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen des Integrationsprogramms in offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Weise, so haben sich Bundesregierung und Bundestag aktiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Kompetenzordnung wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber herbeizuführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 109)

Prüft das BVerfG nun die Einhaltung dieser Verpflichtungen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, ist entscheidend, ob tatsächlich ein Ultra-Vires-Akt eines Unionsorgans vorliegt. Für die Ultra-Vires-Kontrolle gelten dabei folgende Grundsätze:

„Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzte Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und innerhalb des Kompetenzgefüges zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen führt.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 110)

Diese Kontrolle ist zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben (siehe BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 112). Hierzu sieht das BVerfG vor, die Entscheidung über die Kompetenzüberschreitung vorrangig dem EuGH zu überlassen und dessen Entscheidung zu respektieren, solange sie sich auf methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint. An dieser Stelle zeigt sich die Brisanz der vorliegenden Entscheidung: Zum ersten Mal setzt sich das BVerfG im Rahmen der Ultra-Vires-Kontrolle über eine Entscheidung des EuGH hinweg und beanstandet diese als methodisch fehlerhaft und willkürlich.
Entscheidung des BVerfG: Anleihekäufe überschreiten Kompetenz der EZB
Denn nach Ansicht des BVerfG handelt es sich bei den Beschlüssen zum PSPP offensichtlich um eine Kompetenzüberschreitung. Das Gericht beanstandet hier allerdings weniger die Tatsache, dass Anleihekäufe getätigt werden, sondern vielmehr die Begründung der EZB. Diese genügten nicht den Anforderungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung: Die rechtmäßige Umsetzung eines solchem Programms setze voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen würden. Dass die weitreichenden ökonomischen und sozialen Folgen des PSPP mit dessen währungspolitischen Ziel, die Inflationsrate von ca. 2 % zu erreichen, abgewogen wurde, sei aber nicht ersichtlich. Die unbedingte Verfolgung dieses Ziels, ohne die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen, missachte offensichtlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und begründe so letztlich die Kompetenzwidrigkeit des Handelns.
Eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Programms hielt das BVerfG nicht für möglich, bis eine solche Abwägung durch die EZB stattgefunden habe.
Keine Bindung an Entscheidung des EuGH
Ausführlich begründet das BVerfG auch, warum es sich nicht an die Entscheidung des EuGH vom 11.12.2018 gebunden sieht, die die Einhaltung der Kompetenzordnung hinsichtlich des PSPP festgestellt hatte. Es erkennt zwar eine grundsätzliche Bindung an die Auslegung des EuGH an, nicht jedoch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem das BVerfG die Entscheidung für schlechterdings nicht mehr vertretbar hält. Indem auch der EuGH bei seiner Beurteilung die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen außer Acht ließ, missachte er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sodass auch die Entscheidung des EuGH teilweise als Ultra-Virus-Akt anzusehen sei:

„Die Auffassung des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 11. Dezember 2018, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP-Programm und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) offensichtlich und ist wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar. Das Urteil des Gerichtshofs vom 11. Dezember 2018 überschreitet daher offenkundig das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat und bewirkt eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten. Da es sich selbst als Ultravires-Akt darstellt, kommt ihm insoweit keine Bindungswirkung zu. (…) Der Ansatz des Gerichtshofs, auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen des PSPP außer Acht zu lassen und eine wertende Gesamtbetrachtung nicht vorzunehmen, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats von ESZB und EZB. Damit kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die ihm in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht mehr erfüllen. Diese Auslegung lässt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV im Grunde leerlaufen.“ (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 119, 123, Verweise im Zitat ausgelassen)

Einen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung aus Art. 123 Abs. 1 AEUV sowie die Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages durch das PSPP stellte jedoch auch das BVerfG nicht fest.
Folgen der Entscheidung
Bundesregierung und Bundestag seien dazu verpflichtet, dem als Ultra-Vires-Akt zu qualifizierenden PSPP entgegenzutreten und sich schützend vor den durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Anspruch auf Demokratie zu stellen (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 229 f.). Hierzu müssten sie auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinwirken. Nach Ablauf einer Übergangsfrist von drei Monaten sei es der Deutschen Bundesbank untersagt, an der Umsetzung des PSPP mitzuwirken, wenn die EZB die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Beschlüsse bis dahin nicht hinreichend dargelegt habe (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15 u.a., Rn. 335).
Ausblick
Eine Entscheidung, der eine solche Aufmerksamkeit zu Teil wird, darf von Examenskandidaten keinesfalls ignoriert werden – sie dürfte alsbald Einzug in schriftliche und mündliche Prüfungen finden. Dies gilt umso mehr, als dass sich das BVerfG zum ersten Mal über eine Entscheidung des EuGH hinwegsetzt. Neben der vertieften Auseinandersetzung mit der Entscheidung sollten auch die Grundlagen der Identitätskontrolle im Rahmen der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG wiederholt werden.

11.05.2020/4 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2020-05-11 08:50:002020-05-11 08:50:00BVerfG: EZB-Anleihekäufe teilweise kompetenzwidrig
Gastautor

Kein automatischer Verfall des Urlaubsanspruchs wegen nicht gestellten Urlaubsantrags

Arbeitsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Amir Nassar veröffentlichen zu können. Der Autor ist derzeit Student an der Humboldt Universität zu Berlin und studentischer Mitarbeiter der Wirtschaftskanzlei Raue.

Wer das Thema Urlaub heutzutage noch rechtssicher verstehen und anwenden möchte, ist darauf angewiesen nicht nur einen Blick in das nationale Recht zu werfen, sondern muss darüber hinaus auch die an Bedeutung gewinnende Rechtsprechung des EuGH kennen. Mit seinem Urteil vom 06.11.2018 – C-619/16 (NZA 2018, 1612) hat der Europäische Gerichtshof – neben der Vererblichkeit von Urlaubsansprüchen – einen weiteren Grundstein im deutschen Urlaubsrecht zur Seite geschoben.
I. Sachverhalt und Problematik
Der Rechtsreferendar Kreuziger absolvierte vom 13. Mai 2009 bis 28. Mai 2010 seinen juristischen Vorbereitungsdienst bei dem Land Berlin. In der Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum Ende seiner (öffentlich-rechtlichen) Ausbildung beantragte er keinen bezahlten Jahresurlaub. Vielmehr forderte er am 18. Dezember 2010 finanzielle Abgeltung für diesen nicht genommenen Jahresurlaub.
Dieser Antrag und die später erhobene Klage bei dem VG Berlin wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die EUrlVO (Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter) einen solchen Abgeltungsanspruch nicht vorsehe. Zudem leite sich ein Abgeltungsanspruch aus Art. 7 Abs. 2 der RL 2003/88 nur dann ab, wenn der Urlaub aus vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenen Gründen nicht in Anspruch genommen werden könne.
Hier hätte Kreuziger den Urlaubsanspruch geltend machen können, hat jedoch freiwillig davon abgesehen, obwohl für ihn absehbar war, dass sein Arbeitsverhältnis zum 28. Mai 2010 endet. Und überhaupt könne sich Kreuziger auch nicht auf die RL 2003/88 berufen, da diese nur für Arbeitnehmer gelte.
Das Verfahren wurde vor dem OVG Berlin-Brandenburg fortgeführt, welches die RL im Fall des Rechtsreferendars für anwendbar hielt und sich mit der Frage auseinandersetzte, ob neben den beiden Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 der RL, nämlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der Geltendmachung und der fehlenden Inanspruchnahme des zustehenden Urlaubsanspruchs bis zur Beendigung, auch erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer unabhängig von seinem eigenen Willen nicht in der Lage gewesen ist, den Urlaubsanspruch vor Ende des Arbeitsverhältnisses wahrzunehmen. Diese Frage wurde dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.

„Steht das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegen, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat?“

II. Bisherige nationale Rechtslage
Nach § 7 Abs. 3 des deutschen Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) verfällt der Urlaubsanspruch, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub bis zum Ende des Kalenderjahres nicht nimmt bzw. keinen Antrag stellt.
Ausnahmsweise ist eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr nur möglich, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten (bis zum 31. März) des folgenden Kalenderjahrs genommen werden.
III. Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied am 06. November 2018, dass Arbeitnehmer ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht allein dadurch verlieren, dass der Urlaub nicht beantragt wurde.
Vielmehr kann der gesetzlich garantierte Urlaubsanspruch bzw. die Urlaubsabgeltung nur verfallen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen. Die Beweislast liegt insoweit beim Arbeitgeber.
Der Arbeitgeber versetzt den Arbeitnehmer in die Lage, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er seinen Hinweispflichten nachgeht. Er hat den Arbeitnehmer dazu aufzufordern, seinen Urlaub bis zum Ende des Kalenderjahres zu nehmen und darüber zu informieren, dass der Urlaub anderenfalls am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums oder am Ende des Arbeitsverhältnisses, wenn dies in einen solchen Zeitraum fällt, verfallen wird.
Begründet wird dies damit, dass der Arbeitnehmer allgemein die schwächere Partei im Arbeitsverhältnis darstellt. Infolge der Unterlegenheit besteht die Gefahr, dass sich der Arbeitnehmer möglicherweise zurückgehalten fühlt seine Rechte gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen, weil er nachteilige Folgen für das Arbeitsverhältnis befürchtet.
Zudem soll hierdurch die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der RL 2003/88, Art. 31 Abs. 2 GRCh und somit auch der bezahlte Urlaub als besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union gewährleistet werden.
Wenn der Arbeitgeber jedoch nachweisen kann, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Folgen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, obwohl er in der Lage gewesen wäre, dann verfällt der Anspruch nach den gesetzlichen Vorschriften. Denn es soll dem Arbeitnehmer nicht ermöglicht werden, bewusst keinen Urlaub zu nehmen, um am Ende durch die Abgeltung eine Vergütung zu erhalten. Dies stünde dem Sinn und Zweck des Urlaubs, nämlich der ausreichenden Erholung und dem Schutz der Gesundheit, entgegen.
IV. Folgen der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH hat spürbare Auswirkungen und bestärkt das Recht auf Urlaub für Arbeitnehmer, Beamten und Personen, die sich in einem öffentlich rechtlichen Ausbildungsverhältnis befinden. Künftig erlischt der Urlaubsanspruch nicht mehr nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Bezugs- oder Übertragungszeitraum, sondern erst, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hat, den Urlaub zu nehmen. Unterlässt der Arbeitgeber seine Hinweispflichten, wird der Urlaubsanspruch nicht bis zum 31. März verfallen, sondern weiter übertragen. Abzuwarten bleibt, ob der Übertragungszeitraum auf 15 Monate begrenzt wird (EuGH Urt. v. 22. 11. 2011 − C-214/10 KHS), was jedoch zu erwarten ist, da eine unbegrenzte Übertragbarkeit ausufern würde. Im Übrigen verjähren Urlaubsansprüche, wenn sie nicht verfallen sind, nach drei Jahren (§ 195 BGB).
Somit ist § 7 Abs. 3 BUrlG zwar noch im Gesetz zu finden, wird jedoch im Rahmen der europarechtskonformen Auslegung anders interpretiert.
Grundsätzlich kann neben dem gesetzlich garantierten Mindesturlaub von vier Wochen darüber hinaus auch ein vertraglicher Mehrurlaubsanspruch vereinbart werden. Dieser unterliegt der Privatautonomie und kann auch strengere Verfallsregelungen vorsehen.
Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich diese Rechtsprechung nur auf den gesetzlichen vierwöchigen Mindesturlaub bezieht. Somit kann der vertragliche Mehrurlaub bei entsprechender Vereinbarung am Ende des Kalenderjahres verfallen.
Zum einen bleibt abzuwarten, ob die Befürchtungen der Arbeitnehmer bezüglich der Geltendmachung der Urlaubsansprüche dadurch behoben werden, dass der Arbeitgeber sie nun in einem Schreiben zur Beantragung des Urlaubsanspruches auffordern muss.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob bzw. wie der Gesetzgeber das BUrlG an die EuGH Rechtsprechung anpassen wird.

01.08.2019/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-08-01 09:30:572019-08-01 09:30:57Kein automatischer Verfall des Urlaubsanspruchs wegen nicht gestellten Urlaubsantrags
Dr. Lena Bleckmann

Die Chefarztentscheidung – Kündigung wegen zweiter Ehe?

Arbeitsrecht, Europarecht, Schon gelesen?, Schwerpunktbereich, Startseite, Tagesgeschehen

Das Urteil des EuGH vom 11.9.2018 erfuhr eine Aufmerksamkeit in den deutschen Medien, wie sie für den Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts ausgesprochen selten ist. Die Entscheidung soll hier kurz aufgearbeitet werden, da ihre Kenntnis als Teil des juristischen Tagesgeschehens durchaus vorteilhaft ist und sie gerade im Bereich der Schwerpunktbereichsprüfung im Arbeitsrecht Bedeutung erlangen kann. Dem Examenskandidaten sollte die Entscheidung Anlass liefern, das Selbstbestimmungsrecht der Kirche sowie das Zusammenspiel nationaler und europarechtlicher Normen zu wiederholen.
I. Sachverhalt (gekürzt)
Der Kläger war von 2000 bis 2009 Chefarzt der Inneren Medizin in einem Krankenhaus der Beklagten. Er selbst ist katholischer Konfession, die Beklagte ist eine GmbH unter der Aufsicht der katholischen Kirche.
Nachdem seine erste Ehefrau aus katholisch anerkannter Ehe ihn bereits 2005 verlassen hatte und sich scheiden ließ, ging der Kläger im Jahre 2008 eine zweite standesamtliche Ehe ein. Die katholische Kirche hatte die erste Ehe zuvor nicht für nichtig erklärt.
Als die Beklagte hiervon Kenntnis erlangte, kündigte sie das Dienstverhältnis. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage und macht geltend, ein evangelischer Mitarbeiter in derselben Position wäre unter denselben Bedingungen nicht gekündigt worden.
Das Arbeitsgericht Düsseldorf entschied zugunsten des Klägers, ebenso wie das LAG Düsseldorf und das BAG. Das Urteil des BAG wurde allerdings vom BVerfG wegen mangelnder Berücksichtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts aufgehoben und zurückverwiesen (siehe zu der wichtigen Entscheidung BVerfG, NZA 2014, 1387). Nun fand der Fall nach einem Vorabentscheidungsersuchen des BAG seinen Weg zum EuGH.
II. Gesetzliche Grundlagen
Das Arbeitsrecht im Rahmen der katholischen Kirche birgt einige Besonderheiten und ist von hoher praktischer Relevanz, da die Kirchen nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber Deutschlands sind.
Die Besonderheiten sowohl im nationalen als auch im europäischen Recht folgen daraus, dass der Status der Kirchen und ihr Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich anerkannt werden (siehe Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV; Erwägungsgrund 24 RL 2000/78 EG).
Dem wird auch im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes Rechnung getragen: Während unmittelbare Diskriminierungen wegen der Religion nach § 7 I AGG i.V.m. § 8 I AGG nur gerechtfertigt werden können, wenn die Religion eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt und die Ungleichbehandlung einen legitimen Zweck angemessen verfolgt, so gilt allein für kirchliche Einrichtungen zusätzlich der Rechtfertigungsgrund nach § 9 AGG. Hiernach ist sie auch zulässig, wenn die Religion im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirche oder nach Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Weiterhin dürfen die kirchlichen Einrichtungen nach § 9 II AGG im Hinblick auf ihr Selbstverständnis besondere Loyalitätsobliegenheiten der Mitarbeiter vorsehen.
Dies hat die katholische Kirche in Art.  4 I, 5 II, III GrO 1993 getan, wo festgelegt ist, dass eine nach kirchlichem Verständnis ungültige Ehe einen Kündigungsgrund insbesondere für leitende Mitarbeiter katholischer Konfession darstellt. Demgegenüber wird von nicht katholischen Mitarbeitern lediglich die Achtung der Werte des Evangeliums verlangt (Art. 4 II GrO 1993).
III. Fragen des BAG – Antworten des EuGH
Fraglich war nun zunächst, ob die Loyalitätsobliegenheiten, die die Kirchen nach Art der Tätigkeit und Umständen ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderungen vorsehen können, einer vollständigen gerichtlichen Überprüfbarkeit unterliegen. Dies hat der EuGH bejaht – insbesondere die Vereinbarkeit der Anforderungen mit der RL 2000/78 EG darf der gerichtlichen Kontrolle nicht entzogen werden. Schon im Fall Egenberger (Urt. v. 17.4.2018 – C-414/16) stellte der EuGH fest, dass die Gerichte in der Lage sein müssen zu überprüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 4 II RL 2000/78/EG (der von § 9 AGG umgesetzt wird) überhaupt erfüllt sind. Die Ungleichbehandlung wegen der Religion muss tatsächlich wesentliche Anforderung im Hinblick auf das Ethos der Kirche sein und darf kein sachfremdes Ziel verfolgen.
Sollte die Anordnung durch die Kirche insoweit zulässig sein, stellt sich weiterhin die Frage, ob sich die Anforderungen, die an loyales Verhalten gestellt werden, danach unterscheiden dürfen, ob der betreffende Mitarbeiter katholischer Konfession ist oder nicht. Dies bejaht der EuGH mit einem großen „Aber“: Grundsätzlich ist eine solche Ungleichbehandlung nicht unzulässig, solange die Religion oder Weltanschauung (hier genauer gesagt die katholische Konfession und damit verbundene Akzeptanz des unauflöslichen Charakters der Ehe) im Hinblick auf die Tätigkeit wesentliche, gerechtfertigte berufliche Anforderung i.S.d. Art. 4 II RL 2000/78/EG ist. Das wäre der Fall, wenn es dem Ethos der Kirche widerspräche, wenn der Mitarbeiter auf der betreffenden Position die Anforderung nicht erfüllt. In einem Hinweis an die nationalen Gerichte stellt der Gerichtshof sodann fest, dass doch allein die Tatsache, dass auf gleicher Ebene Mitarbeiter beschäftigt seien, die eben nicht katholischer Konfession sind und für die die Loyalitätsobliegenheit somit nicht gilt, gegen eine wesentliche Anforderung spreche. Letztlich obliegt diese Entscheidung aber dem BAG.
IV. Auswirkungen der Entscheidung
Nach dem deutlichen Hinweis des EuGH ist zu erwarten, dass das BAG zugunsten des Arztes entscheiden wird. Zu beachten ist, dass das AGG nach § 2 IV AGG auf Kündigungen grundsätzlich nicht anwendbar ist. Um auch bei Kündigungen einen angemessenen Diskriminierungsschutz zu gewährleisten geht man allerdings davon aus, dass eine diskriminierende Kündigung nicht sozial gerechtfertigt sein kann und damit nach § 1 I KSchG unwirksam ist.
Das BAG hat nun auch zu entscheiden, ob § 9 AGG europarechtskonform ausgelegt werden kann. Die volle gerichtliche Überprüfbarkeit und die Anforderung, dass jede Ungleichbehandlung nur wegen „wesentlicher, rechtmäßiger und gerechtfertigter“ beruflicher Anforderungen erfolgen kann, darf dem Wortlaut des § 9 AGG nicht widersprechen. Sollte eine europarechtskonforme Auslegung nicht möglich sein, muss die Norm von den deutschen Gerichten unangewendet bleiben – zwar entfaltet die Diskriminierungsrichtlinie selbst keine unmittelbare Wirkung innerhalb der Mitgliedsstaaten, allerdings konkretisiert sie das nun in Art. 21 Grundrechtecharta niedergelegte Diskriminierungsverbot, dessen volle Wirksamkeit durch die Gerichte zu gewährleisten ist (siehe zur Problematik auch ausführlich Thüsing/Mathy, RIW 2018, 559).
Die Reaktion des BAG bleibt gerade wegen dieser folgeträchtigen Frage mit Spannung abzuwarten.

15.10.2018/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2018-10-15 09:55:502018-10-15 09:55:50Die Chefarztentscheidung – Kündigung wegen zweiter Ehe?
Gastautor

Niederlassungsfreiheit und grenzüberschreitende Sitzverlegungen

Europarecht, Europarecht Klassiker, Examensvorbereitung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schwerpunktbereich, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns sehr, heute einen Gastbeitrag von Nils Drosten veröffentlichen zu können. Nils Drosten studiert Jura an der Universität Osnabrück.
Die Rechtsprechung EuGH zur grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften von „Daily Mail“ bis „National Grid“
Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ist das Europarecht in seiner stetigen Entwicklung durch die Rechtsprechung seines obersten Gerichts geprägt. Eine genauere Betrachtung der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49, 54 AUEV ist daher für ein tiefergehendes Verständnis des Europäischen Wirtschaftsrechts und des Europäischen Gesellschaftsrechts im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung unerlässlich. Darüber hinaus gewinnt das Europarecht als Teil der staatlichen Pflichtfachprüfung immer mehr an Bedeutung, weshalb auch mit Blick auf das Staatsexamen eine genauere Beschäftigung mit der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung vorteilhaft erscheint.
In diesem Beitrag soll sich auf die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften konzentriert werden, weshalb die EuGH-Entscheidungen „Vale“ und „Polbud“ zur grenzüberschreitenden rechtsformwechselnden Sitzverlegung in Form des Herein – bzw. Herausformwechsels nicht behandelt werden.
 
I. Sitzverlegung vom Ausland ins Inland (Zuzug)
1. Entscheidung „Centros“
In der „Centros“-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros) ging es um die Errichtung einer Zweigniederlassung einer englischen Limited in Dänemark durch ein dänisches Ehepaar. Es war geplant, die gesamte tatsächliche Geschäftstätigkeit der Gesellschaft von Beginn an nur über die Zweigniederlassung in Dänemark auszuüben. Die dänischen Behörden verweigerten die Eintragung der Zweigniederlassung mit der Begründung, es läge eine bewusste Umgehung der Kapitalaufbringungsvorschriften des dänischen Rechts vor. Der EuGH sah in der Verweigerung der dänischen Behörden eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 30 – Centros). Die bewusste Ausnutzung unterschiedlicher Rechtssysteme stelle für sich genommen noch keine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit dar (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27 – Centros). Vielmehr dürfe die Wahl der Rechtsordnung und Rechtsform in der Absicht erfolgen, für sich die „größte Freiheit“ hinsichtlich der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften zu erreichen (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27 – Centros).
2. Entscheidung „Überseering“
Im Rahmen der Entscheidung „Überseering“ (EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering) befasste sich der EuGH mit dem Fall einer in den Niederlanden gegründeten Kapitalgesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt hatte und nun dort ein deutsches Unternehmen verklagen wollte. Die Klage wurde von den Gerichten aufgrund der in Deutschland geltenden Sitztheorie mangels Rechts- und Prozessfähigkeit der zugezogenen Gesellschaft abgewiesen (BGH, Beschl. v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 – 5 U 1/98). Die niederländische Gesellschaft könne ohne Neugründung und Eintragung in das deutsche Handelsregister nicht als rechtsfähige Gesellschaft nach deutschem Recht angesehen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2000 – VII ZR 370/98; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 – 5 U 1/98). Der EuGH sah hierin einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit. Die Mitgliedsstaaten seien nach Art. 49, 54 AEUV dazu verpflichtet, die Rechts- und Prozessfähigkeit der zugezogenen Gesellschaften zu achten, welche ihnen nach dem Recht ihrer Gründungsstaaten als Mitgliedstaaten der EU zukomme ( EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 Rn. 82, 94 – Überseering).
3. Entscheidung „Inspire Art“
In der Entscheidung „Inspire Art“ (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art) hatte der EuGH erneut über den Fall einer englischen Limited zu entscheiden. Die Gesellschaft war in England gegründet worden, entfaltete ihre Geschäftstätigkeit jedoch allein mittels einer Zweigniederlassung in den Niederlanden. Im Gegensatz zur „Centros“-Entscheidung verweigerten die niederländischen Behörden nicht die Eintragung, sondern verlangten für die Eintragung die Einhaltung bestimmter Kriterien, u.a. die Erbringung eines bestimmten Mindestkapitals sowie die Firmierung unter dem Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“. Eine Nichtbeachtung dieser Kriterien hatte insbesondere die persönliche Haftung der Geschäftsführer zur Folge. Diese Anforderungen sah der EuGH als mit den Art. 49, 54 AEUV unvereinbar an. Denn die Regelungen würden dazu führen, dass die zugezogene Gesellschaft den Vorschriften des niederländischen Gesellschaftsrechts zum Mindestkapital und zur Geschäftsführerhaftung unterworfen sei, was eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit darstelle (vgl. EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 Rn. 99, 100 f. – Inspire Art). Die Mindestkapitalanforderungen und der Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“ seien aus Gründen des Gläubigerschutzes nicht erforderlich, da die Gesellschaft als englische Limited im Rechtsverkehr auftrete und die Gläubiger somit über die Gesellschaftsform und die damit verbundenen Folgen hinreichend informiert seien (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 Rn. 135 – Inspire Art).
4. Zwischenfazit
In Bezug auf die Zuzugskonstellationen hat der EuGH den Schutzumfang der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften gem. Art. 49, 54 AEUV durch seine Rechtsprechung stetig erweitert und konkretisiert. Diese Entwicklung ist im Hinblick auf die fortschreitende europäische Integration begrüßenswert. Überdies kann aus der Rechtsprechung zu „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ hinsichtlich der Zuzugskonstellationen eine Absage an die Sitztheorie und Wendung hin zur Gründungstheorie zumindest bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EU ermittelt werden (so auch Weller, in: MüKo GmbHG, Bd. 1, 2. Auflage, Einl. Rn. 350). Diese Entwicklung bedeutet jedoch nicht die vollkommene Unanwendbarkeit der Sitztheorie. Vielmehr verbleibt ein Anwendungsbereich der Sitztheorie in grenzüberschreitenden Sachverhalten außerhalb der Reichweite der Niederlassungsfreiheit, also im Verhältnis zu Drittstaaten außerhalb der EU (in diesem Sinne Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Auflage, § 35 II 2 c)).
Kritisch ist die Entscheidung „Inspire Art“ hinsichtlich eines ausreichenden Gläubigerschutzes zu betrachten. Im täglichen Handelsverkehr ist kaum zu erwarten, dass jeder Vertragspartner weiß, was sich hinter der Abkürzung „Ltd.“, also einer englischen Limited, verbirgt und welche Auswirkungen diese Gesellschaftsform nach englischem Recht für die Mindestkapitalanforderungen als Instrument des Gläubigerschutzes hat. Dieser Situation wollte der niederländische Gesetzgeber mit den Regelungen zur Aufbringung eines bestimmten Mindestkapitals als Schutz für den inländischen Rechtsverkehr und insbesondere für die Gläubiger entgegenwirken. Indem der EuGH die Regelungen als unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit ansah, machte er dieses Instrument des Gläubigerschutzes wirkungslos. Die Aussage des EuGH, dass potentielle Gläubiger durch den Zusatz „Ltd.“ hinreichend gewarnt seien, da dies eine ausländische Gesellschaftsform erkennen lasse, ist kaum überzeugend (vgl. Bayer, BB 2003, 2357, 2364; Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409, 411 f.). Natürlich ist kein Vertragspartner nach dem Grundsatz der Privatautonomie verpflichtet, mit Vertragspartnern in unbekannter ausländischer Gesellschaftsform zu kontrahieren. Doch erscheint z.B. die Erstellung eines Rechtsgutachtens vor einem möglichen Vertragsschluss über die Risiken einer ausländischen Gesellschaftsform im täglichen Handelsverkehr kaum praxisgerecht.
Auch wenn die Entscheidung als Fortentwicklung der Niederlassungsfreiheit im Sinne eines reibungslosen Binnenmarktes begrüßenswert ist, dürfen Aspekte des Gläubigerschutzes nicht vernachlässigt werden. Der EU müsste zum Wohle eines schnellen und sicheren Rechtsverkehrs als grundlegende Voraussetzung eines funktionierenden Binnenmarktes an einem umfassenden Gläubigerschutz durch Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung gelegen sein. Die Entscheidung „Inspire Art“ mag bezüglich der Weiterentwicklung der Niederlassungsfreiheit erfreulich sein, hinsichtlich eines umfassenden Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften, gerade auch im Rechtsverkehr mit ausländischen Gesellschaften, erscheint sie jedoch bedenklich.
 
II. Sitzverlegung vom Inland ins Ausland (Wegzug)
1. Entscheidung „Daily Mail“
In der Entscheidung „Daily Mail“ (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 – Daily Mail) befasste sich der EuGH mit einer englischen Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz aus Gründen der Steuerersparnis in die Niederlande verlegen wollte. Die britischen Finanzbehörden verweigerten die nach englischem Recht für eine solche Sitzverlegung erforderliche Genehmigung. Dadurch sah sich die Gesellschaft in ihren Rechten aus Art. 49, 54 AEUV verletzt. Der EuGH urteilte aber, dass das Genehmigungserfordernis nach englischem Recht mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 18 – Daily Mail). Im Unterschied zu natürlichen Personen würden juristische Personen nach Stand des derzeitigen Gemeinschaftsrechts auf Grundlage einer nationalen Rechtsordnung gegründet und hätten jenseits dieser Rechtsordnung „keine Realität“ (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 19 f. – Daily Mail). Die Gesellschaft habe keinen Anspruch auf Genehmigung des Wegzugs nach dem nationalen Recht (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 24 f. – Daily Mail).
2. Entscheidung „Cartesio“
Auch in der Entscheidung „Cartesio“ (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 – Cartesio) beschäftigte sich der EuGH mit Wegzugsbeschränkungen eines Mitgliedsstaates. Eine ungarische Gesellschaft hatte ihren Verwaltungssitz nach Italien verlegt und begehrte die Änderung des ungarischen Handelsregisters hinsichtlich der Sitzverlegung. Das ungarische Registergericht lehnte den Änderungsantrag mit der Begründung ab, dass ein Auseinanderfallen von Satzungs- und Verwaltungssitz nach ungarischem Recht nicht möglich sei. In Fortsetzung seiner „Daily Mail“-Rechtsprechung sah der EuGH in der Weigerung des ungarischen Registergerichts keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 110 f., 124 – Cartesio). Eine Anwendung der Art. 49, 54 AEUV komme nach derzeitigem Stand des Gemeinschaftsrechts erst in Betracht, wenn die Gesellschaft nach der nationalen Rechtsordnung des Wegzugsstaates auch nach der Sitzverlegung in formwahrender Weise weiter existieren könne (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 109 – Cartesio). Den Mitgliedsstaaten obliege damit die Regelungshoheit über die Voraussetzungen der rechtsformwahrenden Sitzverlegung einer Gesellschaft ins Ausland. (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 110 – Cartesio).
Obiter dictum stellte der EuGH klar, dass im Gegensatz dazu nationale Regelungen zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit Formwechsel an der Niederlassungsfreiheit zu messen seien (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I–9641 Rn. 111 f. – Cartesio).
3. Entscheidung „National Grid“
Im Rahmen der „National Grid“-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10, Slg. 2011 – National Grid) hatte der EuGH Gelegenheit, den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bei Wegzugsfällen weiter zu konkretisieren. Es ging um eine niederländische Kapitalgesellschaft, die ihren Verwaltungssitz nach England verlegte, um der Besteuerung durch den niederländischen Staat zu entgehen. Die niederländischen Finanzbehörden verlangten infolge der Sitzverlegung die sofortige Versteuerung bisher noch nicht realisierter Gewinne, wogegen sich die Gesellschaft unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit zur Wehr setzte.
Nach dem EuGH konnte die in den Niederlanden gegründete Gesellschaft aufgrund der dort vorherrschenden Gründungstheorie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ins Ausland verlegen, ohne ihren Rechtsstatus als Gesellschaft im Herkunftsland zu verlieren (EuGH, Rs. C-371/10, Urt. v. 29.11.2011, Slg. 2011 Rn. 31 f. – National Grid). Aufgrund des unberührten Rechtsstatus in den Niederlanden könne sich die Gesellschaft weiterhin auf die Niederlassungsfreiheit berufen (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10, Slg. 2011 Rn. 31 f. – National Grid).
4. Zwischenfazit
Die Entscheidung „National Grid“ erscheint in der Zusammenschau mit den Entscheidungen „Daily Mail“ und „Cartesio“ in mehrerer Hinsicht widersprüchlich.
In der Entscheidung „Cartesio“ hatte der EuGH geurteilt, dass Wegzugsbeschränkungen durch den Herkunftsstaat generell nicht der Niederlassungsfreiheit unterfallen würden. Hieraus ließe sich ableiten, dass wenn der Herkunftsstaat den Wegzug sogar ganz verbieten kann, er dann erst recht zu weniger härteren Wegzugsbeschränkungen, wie der Wegzugssteuer, ermächtigt sein muss (so die Argumentation Deutschlands, vgl. EuGH, Rs. C-371/10, Slg. 2011 Rn. 29 – National Grid). Indem der EuGH bei der Entscheidung „National Grid“ dieser Argumentation nicht gefolgt ist, muss jedoch kein Widerspruch zur Entscheidung „Cartesio“ gesehen werden: Vielmehr kann die Entscheidung „National Grid“ als Weiterentwicklung der „Cartesio“-Entscheidung gedeutet werden (So Verse, ZeuP 2013, 458, 463 f.). Wenn ein Mitgliedsstaat den rechtsformwahrenden Wegzug von Gesellschaften nach seiner Rechtsordnung zulässt, so muss er sich auch diesbezüglich an der Niederlassungsfreiheit messen lassen (Verse, ZeuP 2013, 458, 464 f.). Dieser Argumentation ist unter dem Gesichtspunkt des „effet utile“ der Niederlassungsfreiheit zuzustimmen. Soweit die nationale Rechtsordnung des Wegzugsstaates den rechtsformwahrenden Wegzug für zulässig hält, muss dieser unter Beachtung der bestmöglichen Wirkung der Niederlassungsfreiheit erfolgen.
Jedoch steht die Entscheidung „National Grid“ im Widerspruch zur „Daily Mail“-Entscheidung des EuGH. Wie in den Niederlanden wird auch in Großbritannien die Gründungstheorie vertreten, weshalb der EuGH gemessen an den in der Entscheidung „National Grid“ aufgestellten Kriterien auch in der Rechtssache „Daily Mail“ die Wegzugsbeschränkung an der Niederlassungsfreiheit hätte messen müssen (Verse, ZeuP 2013, 458, 464 f.). Insoweit ist die Entscheidung „National Grid“ als „verdeckte“ Aufhebung der „Daily Mail“-Entscheidung durch den EuGH anzusehen (Mörsdorf, EuZW 2012, 296, 298; Schall/Barth, NZG 2012, 414, 418). Dabei ist nicht die Korrektur der eigenen Rechtsprechung durch den EuGH zum Zwecke einer genaueren Justierung der eigenen Rechtsprechung zu kritisieren. Wohl aber ist die Art und Weise der Korrektur im Rahmen der Entscheidung „National Grid“, in welcher der EuGH mit keinem Wort auf seine selbst aufgestellten Kriterien aus der Entscheidung „Daily Mail“ eingeht, zumindest als unglücklich zu bewerten. Eine solche verdeckte oder „stille“ Korrektur des EuGH, durch welche der Gerichtshof die Deutungshoheit den Stimmen der Literatur überlässt, führt nur sehr bedingt zu mehr Rechtssicherheit. Im Interesse einer größeren Rechtssicherheit für die Praxis wäre eine klare Absage an die frühere Rechtsprechung zu „Daily Mail“ durch den EuGH wünschenswert gewesen.
 
III. Kritische Würdigung der Rechtsprechung des EuGH
In der Entwicklung der Rechtsprechung hat der EuGH immer wieder die strikte Trennung zwischen den Zuzugs- und den Wegzugskonstellationen hervorgehoben. Diese strikte Trennung hat nicht zuletzt zur Folge, dass der Zuzugsstaat strengeren Prüfungskriterien durch den EuGH mit Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit unterliegt als der Wegzugsstaat (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396). Während der EuGH Regelungen der Zuzugsstaaten bezüglich der grenzüberschreitenden Sitzverlegung mit der Niederlassungsfreiheit für unvereinbar erklärte, stärkte er in den Wegzugsfällen, insbesondere in den Entscheidungen „Daily Mail“ und „Cartesio“, die Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten hinsichtlich gesetzlicher Wegzugsbeschränkungen.
1. Meinungsstand in der Literatur
Die Literatur ist dieser Auffassung teilweise gefolgt. Die unterschiedliche Behandlung von Zuzugs- und Wegzugsfällen wird vor allem mit der mangelnden Vergleichbarkeit der beiden Konstellationen begründen (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Nur durch die unterschiedliche Behandlung der Zuzugs- und Wegzugsfälle könnte die Regelungsautonomie der Gründungsstaaten hinreichend berücksichtigt werden (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Es unterfalle der Regelungsautonomie des Wegzugsstaates, ob für eine nach seinem Recht gegründete Gesellschaft der Wegzug unter Formwahrung möglich ist (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Dagegen könne der Zuzugsstaat regeln, ob ein solcher Zuzug unter Rechtsformwechsel zulässig sei (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Der Regelungsautonomie des Gründungsstaates über die nach seinem Recht gegründeten Gesellschaften sei dabei Vorrang gegenüber der Regelungsautonomie des Zuzugsstaates hinsichtlich der fremden Gesellschaften einzuräumen (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Schließlich richte sich das Bestehen der Gesellschaft allein nach dem Recht des Gründungsstaates (Barthel, EWS 2010, 316, 320; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58, 59). Diese enge Verbindung zwischen der Rechtsordnung des Gründungsstaates und der Existenz der Gesellschaft begründe den Vorrang der Rechtsautonomie des Gründungsstaates (Barthel, EWS 2010, 316, 320). Dieser Vorrang mache die Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen zwingend (Barthel, EWS 2010, 316, 320).
Andere Teile der Literatur haben die strikte Trennung zwischen den Zuzugs- und Wegzugskonstellationen stark kritisiert. Als naheliegendes Argument gegen die unterschiedliche Behandlung der Zuzugs- und Wegzugsfälle wird angeführt, dass es sich dabei um denselben Vorgang handele (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396). Denn was für den Gründungsstaat einen Wegzug bedeute, stelle für den Aufnahmestaat einen Zuzug dar (Teichmann, ZIP 2009, 393, 396).
Weiterhin könne die Niederlassungsfreiheit komplett „leer“ laufen, wenn ein Mitgliedsstaat den Wegzug einer Gesellschaft durch Verlegung ihres Verwaltungssitzes ins Ausland nach seiner nationalen Rechtsordnung schlicht verbiete (Campos Nave, BB 2008, 1410, 1413).
Auch wird unter Berufung auf den „effet utile“ vertreten, dass eine Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf einen freien, ungehinderten grenzüberschreitenden Verkehr nicht überzeuge (Behme/Nohlen, BB 2009, 11, 13). Von welchem Staat die jeweilige Beeinträchtigung des grenzüberschreitenden Verkehrs erfolge, könne für die Förderung eines ungehinderten Handelsverkehrs im Wirtschaftsraum der EU nicht entscheidend sein (Behme/Nohlen, BB 2009, 11, 13).
2. Stellungnahme
Stellungnehmend ist den kritischen Stimmen in der Literatur zuzustimmen, welche an der strikten Trennung von Zuzugs- und Wegzugsfällen durch den EuGH zweifeln. Zwar mag nach systematischen Gesichtspunkten der Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten ein höheres Gewicht zukommen als der Regelungsautonomie der Zuzugsstaaten. Diese Argumentation kann jedoch mit Blick auf den Sinn und Zweck der Niederlassungsfreiheit nicht überzeugen.
Die Begründung anhand der höheren Gewichtung der Regelungsautonomie der Wegzugsstaaten stellt eine sich durch jahrelange Rechtsprechung ergebende Ungleichbehandlung lediglich auf eine systematische Grundlage und begründet damit nur vom Ergebnis her, ohne auf eine teleologische Betrachtung der Niederlassungsfreiheit einzugehen. Zu dieser Sichtweise passt auch die Rechtsprechung des EuGH zu „National Grid“, in welcher der EuGH seine ursprüngliche „Daily Mail“-Entscheidung teilweise korrigiert hat. Vielmehr kann in der Prüfung von Wegzugsbeschränkungen auf die Vereinbarkeit mit der Niederlassungsfreiheit eine Annäherung zwischen den Zuzugs- und Wegzugskonstellationen gesehen werden.
Insbesondere überzeugt die Argumentation, dass aufgrund des „effet utile“ eine Unterscheidung zwischen Zuzugs- und Wegzugskonstellation nicht geboten sein kann. Dem Grundgedanken der Niederlassungsfreiheit, einen reibungslosen und möglichst unbeschränkten Rechtsverkehr im Wirtschaftsraum der EU zu gewährleisten, muss auch bei der Betrachtung der grenzüberschreitenden Sitzverlegung eine entscheidende Rolle zu kommen. Wie in anderen Gebieten des Europarechts kann auch hier der Grundsatz des „effet utile“ eingreifen, um eine Gleichstellung des Schutzniveaus der Niederlassungsfreiheit von Zuzugs- und Wegzugskonstellationen zur Förderung eines freien und reibungslosen Binnenmarktes innerhalb des Wirtschaftsraums der EU zu bewirken.
Letztendlich sind die Zuzugs- und die Wegzugskonstellation als „zwei Seiten derselben Medaille“ (Campos Nave, BB 2008, 1410, 1413; Otte, EWS 2009, 38, 39) anzusehen, welche nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können und deren Ungleichbehandlung zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Das Angleichen des Schutzniveaus der Niederlassungsfreiheit bezüglich der Zuzugs- und Wegzugsfälle ist dringend erforderlich, um ein „Leerlaufen“ der Niederlassungsfreiheit durch restriktive Wegzugsbeschränkungen der Mitgliedsstaaten zu verhindern. Mit seiner „National Grid“-Entscheidung hat der EuGH den ersten richtigen Schritt hin zu einer Korrektur seiner früheren „Daily Mail“-Rechtsprechung gemacht. Zur Förderung des europäischen Rechtsverkehrs darf auch zukünftig auf weitere Korrekturen durch den EuGH hin zu einer Angleichung der Zuzugs- und Wegzugskonstellationen gehofft werden.
 
IV. Zusammenfassung
Zusammenfassend ist in Anbetracht der ausgewerteten Urteile festzustellen, dass Rechtssicherheit durch die Judikatur des EuGH hinsichtlich der grenzüberschreitenden Sitzverlegung nur bedingt erreicht werden konnte. Durch seine Rechtsprechung zu den Zuzugsfällen im Rahmen der rechtsformwahrenden Sitzverlegung hat der EuGH den Anwendungsbereich der Art. 49, 54 AEUV erweitern und konkretisieren können, was im Sinne eines reibungslosen Binnenmarktes zu begrüßen ist. Auch die Absage an die Sitztheorie und Anwendung der Gründungstheorie in grenzüberschreitenden Fällen innerhalb der EU trägt der Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit als Ziel des europäischen Binnenmarktes Rechnung.
Die Entwicklung der Rechtsprechung zu den Wegzugsfällen weist jedoch deutliche Widersprüche auf. Generell vermag die Differenzierung zwischen den Zuzugs- und Wegzugsfällen mit Blick auf eine bestmögliche Geltung der Niederlassungsfreiheit nach dem Grundsatz des „effet utile“ nicht zu überzeugen. 
Abschließend bleibt damit festzustellen, dass der EuGH von einer widerspruchsfreien Klärung der grenzüberschreitenden rechtsformwahrenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften noch weit entfernt ist.
 
 

07.03.2018/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2018-03-07 10:00:472018-03-07 10:00:47Niederlassungsfreiheit und grenzüberschreitende Sitzverlegungen
Redaktion

Schema: Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

Europarecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verschiedenes

Schema: Das Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

A. Annahmefähigkeit der Vorlagefrage („Zulässigkeit“)

I. Zuständigkeit


- Grds. der Gerichtshof (EuGH) gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV

– Ausnahmsweise das Gericht (EuG) gem. Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV

II. Vorlagegegenstand (Art. 267 Abs. 1 AEUV): Vorlagefrage zur

1. Art. 267 Abs. 1 lit. a:  Auslegung der Verträge

2. Art. 267 Abs. 1 lit. b: Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union



Keinesfalls tauglicher Gegenstand der Vorlage ist die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht. Darüber müssen die nationalen Gerichte ggf. nach Einholung der Vorentscheidung bzgl. der Auslegung des Unionsrechts selbst entscheiden.

III. Vorlageberechtigung, Art. 267 Abs. 2 AEUV
Vorlageberechtigt sind die Gerichte der Mitgliedsstaaten der europäischen Union.

1. Grds. besteht ein Vorlagerecht der nationalen Gerichte

2. Eine Vorlagepflicht besteht gem. § 267 Abs. 3 AEUV für Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Nach hM kommt es nur darauf an, dass die Entscheidung im Einzelfall nicht mehr anfechtbar ist.

3. Nach der Rspr. des EuGH besteht auch eine Vorlagepflicht für unterinstanzliche Gerichte, wenn sie einen Rechtsakt der Unionsorgane nicht anwenden wollen, weil sie der Auffassung sind, dass der Rechtsakt wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht ungültig ist.

V. Abstrakte Formulierung der Auslegungsfrage

VI. Entscheidungserheblichkeit, Art. 267 Abs. 2 AEUV

– Die Vorentscheidung muss nach Auffassung des vorlegenden Gerichts entscheidungserheblich für den Ausgangsrechtsstreit sein, d.h. je nach Ausgang des Vorabenscheidungsverfahrens hat das mitgliedsstaatliche Gericht den ihm vorliegenden Sachverhalt anders zu bewerten.

– Eine Überprüfung der subjektiven Auffassung des vorlegenden Gerichts bzgl. der Entscheidungserheblichkeit ist durch den EuGH nur in Ausnahmefällen möglich, z.B. wenn zwischen Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage offensichtlich kein Zusammenhang besteht.

B. Beantwortung der Vorlagefrage durch Urteil des Gerichtshofes

I. Auslegungsfrage

–  Aufstellung von Auslegungskriterien und anschließende Interpretation des Unionsrechts.
–  Bindung des vorlegenden Gerichts und aller anderen mit diesem 
Rechtsstreit befassten Gerichte.
–  Außerhalb des Rechtsstreits: Vorlagepflicht, sofern ein Gericht von 
Auslegung abweichen will (faktische allgemeine Wirkung).

II. Gültigkeitsfrage

–  Feststellung der (Un-)Gültigkeit der Unionshandlung anhand von 
höherrangigem Recht.
–  Keine allgemeine Bindungswirkung bei Gültigerklärung.
–  Bei Ungültigerklärung: Faktische erga omnes Wirkung, d.h. Nationale Instanzen und Organe der Union können den Rechtsakt als ungültig behandeln.

 

Das Schema ist in den Grundzügen entnommen von myjurazone.de.

09.02.2017/2 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2017-02-09 10:00:162017-02-09 10:00:16Schema: Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV
Tom Stiebert

BGH: Brandneues zur Beweislastumkehr nach § 476 BGB

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht, Zivilrecht

Das „neue“ Schuldrecht ist zwar dabei, den Kinderschuhen langsam zu entwachsen, dennoch bestehen noch an vielen Stellen Unklarheiten, die für eine Examensklausur prädestiniert sind. Besonders relevant ist in diesem Kontext die Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf nach § 476 BGB. Der BGH hat nun in einem aktuellen Urteil (BGH v. 12.10.2016 –  VIII ZR 103/15) als Reaktion auf ein Urteil des EuGH (EuGH v. 04.06.2015 – C-497/13 – Faber) eine Neujustierung seiner Rechtsprechung vorgenommen, der tatsächlich das Prädikat „extrem examensrelevant“ verliehen werden kann.
I. Die Vorgeschichte
Die Norm des § 476 BGB postuliert in vermeintlicher Klarheit:

Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar.

Dennoch birgt die Regelung eine Vielzahl von Problemen. Insbesondere ist umstritten, wann das Auftreten eines Sachmangels anzunehmen ist und wann eine Unvereinbarkeit eines solchen Mangels mit der Art der Sache vorliegt. Besondere Bedeutung hat für diese Regelung auch das Unionsrecht. Der Beweislastumkehr liegt die Regelung in Art. 5 Abs. 3 der Verbrauchgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG zugrunde, die bestimmt:

Bis zum Beweis des Gegenteils wird vermutet, daß Vertragswidrigkeiten, die binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar werden, bereits zum Zeitpunkt der Lieferung bestanden, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art des Gutes oder der Art der Vertragswidrigkeit unvereinbar.
 Neuerungen resultierten dann aber aus dem Urteil des EuGH in der Rs. Faber (EuGH v. 04.06.2015 – C-497/13 ). Der Gerichtshof stellte hier fest, dass die Beweislastumkehr in folgenden Konstellationen greift:
„wenn der Verbraucher den Beweis erbringt, dass das verkaufte Gut nicht vertragsgemäß ist und dass die fragliche Vertragswidrigkeit binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar geworden ist, d. h., sich ihr Vorliegen tatsächlich herausgestellt hat. Der Verbraucher muss weder den Grund der Vertragswidrigkeit noch den Umstand beweisen, dass deren Ursprung dem Verkäufer zuzurechnen ist.“
Es genügt aus Sicht des EuGH also, dass sich irgendein Mangel innerhalb von 6 Monaten zeigt. Ein Ausschluss dieses Anspruchs ist nur dann möglich, wenn
„der Verkäufer rechtlich hinreichend nachweist, dass der Grund oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der Lieferung des Gutes eingetreten ist.“
Die Beweislastumkehr ist also nach dem EuGH recht weitgehend.
II. Das Urteil des BGH
In Umsetzung dieser Entscheidung (richtlinienkonforme Auslegung) hatte der BGH nun folgenden Fall zu entscheiden:
1. Sachverhalt
Der Kläger (Verbraucher) kaufte von der Beklagten, einer Kraftfahrzeughändlerin, einen gebrauchten BMW 525d Touring zum Preis von 16.200 Euro. Nach knapp fünf Monaten und einer vom Kläger absolvierten Laufleistung von rund 13.000 Kilometern schaltete die im Fahrzeug eingebaute Automatikschaltung in der Einstellung „D“ nicht mehr selbständig in den Leerlauf; stattdessen starb der Motor ab. Ein Anfahren oder Rückwärtsfahren bei Steigungen war nicht mehr möglich. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Mangelbeseitigung trat der Kläger vom Kaufvertrag zurück und verlangte die Rückzahlung des Kaufpreises und den Ersatz geltend gemachter Schäden.
Streitig war in rechtlicher Hinsicht, ob eine Anwendung des § 476 BGB geboten war, da die Fehlerhaftigkeit an sich (also Fehler an der Schaltung) bei Gefahrübergang noch nicht vorgelegen hatte. Unklar – und vom Kläger nicht bewiesen – war, ob die Fehler auf eine zwischenzeitlich eingetretene Schädigung des Freilaufs des hydrodynamischen Drehmomentwandlers durch Bedienfehler zurückzuführen seien, oder ob der Freilauf schon bei der Übergabe des Fahrzeugs mechanische Veränderungen aufgewiesen habe, die im weiteren Verlauf zu dem eingetretenen Schaden geführt haben. Beides konnte durch einen Sachverständigen nicht ausgeschlossen werden.
2. Lösung des BGH
Anstelle einer klausurmäßigen Lösung – bei der natürlich noch eine Vielzahl von zusätzlichen Problemen eingebaut werden könnte (Vertragsschluss; Verbrauchereigenschaft; Fristsetzung; Gewährleistungsausschluss; Besonderheiten Gebrauchtfahrzeug) soll hier allein die Frage der Anwendbarkeit des § 476 BGB diskutiert werden. Zu behandeln wäre diese Frage im Rahmen des Prüfungspunktes „Mangel bei Gefahrübergang“.
a) Bisherige Rechtsprechung
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH würde die Beweislastumkehr einen solchen Fall nicht erfassen, da gerade nicht klar sei, ob überhaupt beim Gefahrübergang ein Mangel vorgelegen habe und für eine solche Konstellation § 476 BGB nicht greife. Der eigentliche Mangel (Schaltungsschaden) lag offensichtlich nicht vor; hinsichtlich eines Grundmangels besteht hingegen Unklarheit.
Denn nach der Rechtsprechung des BGH begründe diese Vorschrift lediglich eine in zeitlicher Hinsicht wirkende Vermutung dahin, dass ein innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang aufgetretener Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen habe. Sie gelte dagegen nicht für die Frage, ob überhaupt ein Mangel vorliege. Wenn daher – wie hier – bereits nicht aufklärbar sei, dass der eingetretene Schaden auf eine vertragswidrige Beschaffenheit des Kaufgegenstands zurückzuführen sei, gehe dies zu Lasten des Käufers.
b) Neue Rechtsprechung
Diese Rechtsprechung gibt der BGH nun auf. Hinsichtlich zweier unterschiedlicher Punkte muss der BGH dem EuGH nun Tribut zollen: Geändert wird zunächst die Darlegungs-und Beweislast des Käufers im Rahmen des § 476 BGB. Es genügt nunmehr
lediglich darzulegen und nachzuweisen, dass die erworbene Sache nicht den Qualitäts-, Leistungs- und Eignungsstandards einer Sache entspreche, die er zu erhalten nach dem Vertrag vernünftigerweise erwarten konnte. In richtlinienkonformer Auslegung des § 476 BGB lässt der BGH nunmehr die dort vorgesehene Vermutungswirkung bereits dann eingreifen, wenn dem Käufer der Nachweis gelinge, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine „Mangelerscheinung“) gezeigt habe.
Dagegen müsse der Käufer fortan weder darlegen und nachweisen, auf welche Ursache dieser Zustand zurückzuführen sei, noch dass diese in den Verantwortungsbereich des Verkäufers falle.
Es genügt also, wenn der Käufer das Auftreten eines Mangels innerhalb von 6 Monaten darlegt und beweist. Unerheblich ist auch, wenn dieser Mangel an sich bei Gefahrübergang noch nicht vorgelegen haben konnte. Der Nachweis eines sog. latenten Mangels entfällt damit:
Danach komme dem Verbraucher die Vermutungswirkung des § 476 BGB fortan auch dahin zugute, dass der binnen sechs Monate nach Gefahrübergang zu Tage getretene mangelhafte Zustand zumindest im Ansatz schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe. Damit werde der Käufer – anders als bisher von der BGH-Rechtsprechung gefordert – des Nachweises enthoben, dass ein erwiesenermaßen erst nach Gefahrübergang eingetretener akuter Mangel seine Ursache in einem latenten Mangel habe.
Die Beweislast wird damit stärker als bisher auf den Verkäufer verschoben; der Schutz des Verbrauchers wird gestärkt. Umgekehrt wird der Entlastungsbeweis des Verkäufers erschwert. Unsicherheiten, ob der Mangel als Grundmangel also schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe, oder später durch einen Fehler des Käufers eingetreten sei, trägt also der Verkäufer:
Er habe also darzulegen und nachzuweisen, dass ein Sachmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs noch nicht vorhanden war, weil sie ihren Ursprung in einem Handeln oder Unterlassen nach diesem Zeitpunkt habe und ihm damit nicht zuzurechnen sei. Gelinge ihm diese Beweisführung – also der volle Beweis des Gegenteils der vermuteten Tatsachen – nicht hinreichend, greife zu Gunsten des Käufers die Vermutung des § 476 BGB auch dann ein, wenn die Ursache für den mangelhaften Zustand oder der Zeitpunkt ihres Auftretens offengeblieben sei, also letztlich ungeklärt geblieben sei, ob überhaupt ein vom Verkäufer zu verantwortender Sachmangel vorlag.
Alternativ kann der Verkäufer zur Entlastung auch beweisen, dass der Mangel nicht auf einem bei Gefahrübergang vorliegenden Grundmangel beruhen könne:
Daneben verbleibe dem Verkäufer die Möglichkeit, sich darauf zu berufen und nachzuweisen, dass das Eingreifen der Beweislastumkehr des § 476 BGB ausnahmsweise bereits deswegen ausgeschlossen sei, weil die Vermutung, dass bereits bei Gefahrübergang im Ansatz ein Mangel vorlag, mit der Art der Sache oder eines derartigen Mangels unvereinbar sei (§ 476 BGB am Ende).
Insofern würde im hiesigen Fall die Beweislastumkehr greifen, sodass die Mängelgewährleistungsrechte einschlägig sind.
III. Examensrelevanz
Mit dem Begriff Examensgarantie sollte sehr vorsichtig umgegangen werden – für diesen Fall trifft er aber zu. Der Fall wird sicher im Examen laufen und gehört wohl schon in naher Zukunft zum juristischen Einmaleins. Ein sauberes Arbeiten ist hier zwingend erforderlich, um die geänderten Grundsätze herauszustellen. Auch mit der Wiederlegung der Vermutung sollte sich näher beschäftigt werden.

12.10.2016/3 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2016-10-12 16:26:252016-10-12 16:26:25BGH: Brandneues zur Beweislastumkehr nach § 476 BGB
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG: Verfassungswidrige Preisgestaltung eines kommunalen Freibades

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Eine äußerst examensrelevante Entscheidung hat das BVerfG mit Beschluss vom 19. Juli 2016 – 2 BvR 470/08 zur Preisgestaltung eines kommunalen Freizeitbades getroffen. Der Beschluss betrifft eine Vielzahl von klassischen Examensproblemen des öffentlichen Rechts: Bindung an Grundrechte öffentlicher Unternehmen, Ungleichbehandlungen und deren Rechtfertigung sowie Verletzung der Vorlagepflicht zum EuGH als Entzug des gesetzlichen Richters.
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)

Der Beschwerdeführer ist österreichischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Österreich. Bei einem Besuch eines von mehreren Gemeinden und einem Landkreis betriebenen Freizeitbades im Bertechsgadener Land musste er den regulären Eintrittspreis entrichten, während den Einwohnern dieser Gemeinden ein Nachlass auf den regulären Eintrittspreis von etwa einem Drittel gewährt wurde. Der Beschwerdeführer erhob Klage zum Amtsgericht und forderte wegen unzulässiger Benachteiligung die Rückzahlung des Differenzbetrags und die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger den Eintritt künftig zu dem ermäßigten Entgelt zu gewähren. Das Amtsgericht wies die Klage ab; die gegen das Urteil eingelegte Berufung war ebenfalls erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und eine Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) durch Unterlassung einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.

II. Thesen des Gerichts
Das BVerfG entschied nun zu Gunsten des Beschwerdeführers und nahm an, dass eine ungerechtfertigte Benachteiligung durch das an Grundrechte gebundene Unternehmen vorliege. Zudem sei die Vorlagepflicht zum EuGH vereltzt worden.
1. Das Unternehmen ist selbst unmittelbar an Grundrechte gebunden, Art. 1 Abs. 3 GG. Dies hängt weder von der Organisationsform ab noch von der Handlungsform („keine Flucht ins Privatrecht“). An Grundrechte gebunden ist nicht nur die hinter dem Unternehmen stehende Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern auch unmittelbar die juristische Person des Privatrechts selbst. Das Freizeitbad ist hier ein öffentliches Unternehmen, dessen einzige Gesellschafterin eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, die sich ihrerseits auf einen Landkreis und fünf Gemeinden stützt. Daher liegt eindeutig eine Grundrechtsbindung vor.

Hinweis: Die Bindung an Grundrechte ist eine extrem wichtige Weichenstellung in einer Klausur. Abzugrenzen sind hier unmittelbare und mittelbare Grundrechtsbindung. Lesenswert hinsichtlich der unmittelbaren Grundrechtsbindung von Unternehmen in öffentlicher Hand ist die Fraport-Entscheidung des BVerfG, zur mittelbaren Grundrechtsbindung Privater sollte das Grundsatzurteil in der Rs. Lüth bekannt sein.

2. Die Entlastung ausschließlich von Gemeindemitgliedern verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser ist zweistufig zu prüfen: Eine Ungleichbehandlung liegt zweifellos vor, diese ist dem BVerfG zufolge nicht gerechtfertigt. Ein Sachgrund zur Differenzierung zwischen Gemeindemitgliedern und Auswärtigen bestehe nicht, da das Schwimmbad auf Überregionalität angelegt ist, Auswärtige ansprechen soll und gerade nicht kommunale Aufgaben im engeren Sinne erfüllt. An dieser Stelle kann man auch anderer Auffassung sein, etwa wenn das Bad durch kommunale Mittel finanziert wird, die die Gemeinemitglieder beisteuern.
3. Art. 3 Abs. 1 GG ist ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB.
4. Der EuGH ist gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Da die letztinstanzlichen Gerichte zur Vorlage verpflichtet sind, wenn die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV vorliegen, verletzen sie das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), wenn die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Im Hinblick auf die Bindung an Grundfreiheiten habe sich das OLG im vorliegenden Fall gar keine Gedanken zur Europarechtskonformität und der Notwendigkeit einer Vorlage zum EuGH gemacht. Vielmehr stehe die Entscheidung des OLG wohl im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur (rabattierten) Nutzung kultureller Einrichtung.
III. Wenn man als Examenskandidat das gute Wetter schon nicht im Freibad genießen kann, so erlaubt die Entscheidung wenigstens eine gedankliche Beschäftigung mit schöneren Orten als der Universitätbibliothek.

24.08.2016/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2016-08-24 14:00:402016-08-24 14:00:40BVerfG: Verfassungswidrige Preisgestaltung eines kommunalen Freibades
Lukas Knappe

BVerfG: Identitätskontrolle im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde

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Der Grundrechtsschutz durch das BVerfG kann sich im Einzelfall auch auf unionsrechtlich determinierte Hoheitsakte erstrecken, wenn dies zur Wahrung der durch Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten Verfassungsidentität unabdingbar geboten ist. Dies hat das BVerfG mit Beschluss vom 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) im Hinblick auf das im Menschenwürdekern grundgesetzlich verankerte Schuldprinzip entschieden. Der hier vorgestellte Beschluss ist von besonderer Brisanz, da das BVerfG die Vereinbarkeit eines unionsrechtlich determinierten Hoheitsaktes mit deutschen Grundrechten überprüft und sich dabei aktiv auf das Recht zur Identitätskontrolle beruft. Es stellen sich somit nicht nur interessante grundrechtliche Fragestellungen, sondern vor allem Rechtsfragen des Mehrebenensystems. Im Kern geht es um das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht, die Prüfungskompetenz des BVerfG sowie dessen Verhältnis zu den europäischen Gerichten.

A. Sachverhalt
Gegenstand des Beschlusses ist die Verfassungsbeschwerde eines Staatsangehörigen der Vereinigten Staaten von Amerika, der sich gegen die vom Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte Auslieferung nach Italien auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls richtet. Der Beschwerdeführer war im Jahr 1992 von einem italienischen Gericht in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahre 2014 wurde er auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen. Im Auslieferungsverfahren machte er jedoch geltend, dass er in Abwesenheit und ohne seine Kenntnis verurteilt worden sei. Darüber hinaus trug er vor, dass er in dem nach italienischem Recht eröffneten Berufungsverfahren keine erneute Beweisaufnahme erwirken könne, da dieses Verfahren lediglich eine eingeschränkte richterliche Prüfungskompetenz vorsehe. Darin sei insbesondere eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör zu sehen.

B. Entscheidung des BVerfG

1. Prüfungskompetenz des BVerfG
Zunächst stellt sich die Frage, ob das BVerfG überhaupt dazu berechtigt ist, die Grundrechtskonformität des Akts der deutschen öffentlichen Gewalt zu überprüfen, da der Hoheitsakt auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls erfolgte und somit unionsrechtlich determiniert war.

a) Grundsatz: Anwendungsvorrang des Unionsrecht
Grundsätzlich sind Hoheitsakte der EU sowie durch das Unionsrecht determinierte Akte der deutschen öffentlichen Gewalt aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte zu prüfen.

Nach dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt sich das Unionsrecht nämlich grundsätzlich uneingeschränkt gegenüber jedem nationalen Recht durch. Die Unionsrechtsordnung genießt somit im Grundsatz Vorrang gegenüber dem nationalen Recht. Innerstaatliche Organe haben daher gemeinhin die Pflicht, Unionsrecht ohne Rücksicht auf das innerstaatliche Recht anzuwenden und die nationale Rechtsordnung insoweit außer Acht zu lassen. Dieses Primat des Unionsrechts hat der EuGH grundlegend in seinem Urteil im Fall Costa/ENEL begründet und insbesondere aus der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung hergeleitet (Vgl. ausführlich zur Begründung durch den EuGH: Streinz, Europarecht, Rn. 214 ff.).

Das BVerfG begründet den Anwendungsvorrang aus dem Blickwinkel des nationalen Rechts in seiner bisherigen Rechtsprechung dagegen aus der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 I 2 GG. Daran anknüpfend betont es in dem hier vorgestellten Beschluss:

Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz … die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 129, 78 (100)) und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit (vgl. BVerfGE 126, 286 (301)). Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen.

b) Schranken der Integrationsermächtigung
Im Zusammenhang mit der Begründung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts aus der Ermächtigung des Art. 23 I 2 GG bildet Art. 79 III GG jedoch eine absolute Verfassungsschranke für die grundgesetzliche Integrationsermächtigung. Die vom GG für integrationsfest erklärten Grundsätze der Verfassung bilden damit eine Grenze für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts:

Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge (vgl. BVerfGE 113, 273 (296); 123, 267 (348); 134, 366 (384)). Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte (vgl. BVerfGE 134, 366 (384)).

c) Identitätskontrolle durch das BVerfG
Die Überprüfung der Wahrung dieser wesentlichen Elemente deutscher Staatlichkeit erfolgt mittels der durch das BVerfG vorgenommenen „Identitätskontrolle“. Diese kann im Ergebnis dazu führen, dass im Fall einer Verletzung des Art. 79 III GG, das Unionsrecht in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Hinsichtlich der Identitätskontrolle besteht allerdings ein Monopol zugunsten des BVerfG: Die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität durch Unionsrecht darf ausschließlich durch das BVerfG getroffen werden. Dieses Verwerfungsmonopol wird insbesondere mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Unionsrechtsordnung sowie den in Art. 100 Abs. 1 und 2 GG zugrundeliegenden Rechtsgedanken begründet.

Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt werden … . Diese Prüfung kann … im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt … . Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen … . Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden… .

Nach Auffassung des BVerfG verstößt die Identitätskontrolle nicht gegen den in Art. 4 III EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, sondern ist vielmehr in Art. 4 II 1 EUV angelegt. Da die europäische Union als Staatenverbund seine Grundlage in völkerrechtlichen Verträgen souveräner Einzelstaaten habe, seien die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“ und daher dazu berechtigt, durch nationale Geltungsanordnungen darüber zu entscheiden, ob und inwieweit das Unionsrecht im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung und Vorrang beanspruchen kann. Eine Gefährdung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts durch die Befugnis des BVerfG zu Identitätskontrolle könne sei nicht anzunehmen, da grundsätzlich Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte sowie die Rechtsprechung des EuGH in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten würden und das BVerfG die ihm darüber hinausgehenden verbleibenden Kontrollbefugnisse hinaus zuzurückhaltend und europarechtsfreundlich ausübe.

2. Verletzung von Art. 23, 79 III, 1 I GG
Durch den Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ohne eine umfassende Ermittlung des Sachverhalts sowie die unzureichende Prüfung, ob bei einer Auslieferung die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestgarantie zur Verwirklichung des materiellen Schulprinzips gewährleistet sind, ist nach Ansicht des BVerfG das in Art. 1 I GG verankerte Schuldprinzip verletzt. Im Folgenden sollen die Argumentationslinien des BVerfG grob nachgezeichnet werden:

a) Der in Art. 1 I GG verankerte Schuldgrundsatz und die damit verbundenen Mindestgarantien
Den das gesamte Strafrecht prägende Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ (= Schuldgrundsatz) hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu einem grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzip erklärt und daraus zugleich wichtige Maßstäbe für die Bereiche des Strafrechts und des Strafens abgeleitet. Als verfassungsrechtliche Verankerung für den Schuldgrundsatz, zieht das BVerfG seither die Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 I GG) sowie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) heran so dass dieser zur unverfügbaren Verfassungsidentität im Sinne des Art. 79 III zu zählen ist.

In seinem Beschluss aus dem Dezember 2015 stellt das BVerfG an zentraler Stelle fest, dass der Schuldgrundsatz Mindestgarantien für die Art und Weise der Feststellung der Schuld und somit den Strafprozess aufstelle: Der Verwirklichung des Schuldprinzips diene gerade das zentrale Ziel des Strafprozesses, die Ermittlung des wahren Sachverhalts. Da mit dem Strafausspruch des Strafverfahrens nicht nur ein belastender Rechtseingriff verbunden sei, sondern auch ein sozial-ethischer Vorwurf gemacht werde, der den in Art. 1 I GG verankerten grundlegenden menschlichen Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen berühre und eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten voraussetze, verlange das Schuldprinzip gerade eine Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit. Daraus folge zugleich, dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtige, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein könne. Zur Sicherstellung einer angemessenen Strafe sei es vielmehr erforderlich, dass das Gericht in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhalte.

b) Pflicht zur Beachtung des Art. 1 I GG auch bei Auslieferungen
Diese durch das in Art. 1 I GG verankerte Schuldprinzip gewährleisteten Mindestgarantien sind nach ständiger Rechtsprechung auch bei der Entscheidung über die Auslieferung zur Vollstreckung von in Abwesenheit ergangener Urteile zu beachten. An diese Rechtsprechung anknüpfend erklärt das BVerfG daher eine Auslieferung für unzulässig, wenn der Betroffene weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Strafverfahrens unterrichtet worden ist noch die tatsächliche Möglichkeit hatte, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und effektiv zu verteidigen.

Die Träger deutscher Hoheitsgewalt trifft insoweit nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Gewährleistungsverantwortung. Diese verbietet es ihnen, sehenden Auges die Verletzung der Menschenwürde durch andere Staaten zuzulassen. Um es mit den Worten des BVerfG zu sagen: „Die deutsche Hoheitsgewalt darf nicht die Hand zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“. Vor dem Hintergrund dieser Verantwortung seien die Gerichte zu einer Aufklärung und Prüfung verpflichtet. Dabei dürfe zwar anderen EU-Mitgliedstaaten aufgrund des Bekenntnisses der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu den in Art. 2 AEUV verankerten Grundwerten (Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören) sowie der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gewährleistungen der Charta der Grundrechte, grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegengebracht werden, dieses sei allerdings durch die Geltendmachung gegenteiliger tatsächlicher Anhaltspunkte auch erschütterbar.

c) Pflicht zur Prüfung trotz des Vorrangs des Unionsrechts
Im Hinblick auf diese Prüfungspflicht erweist sich jedoch als Problem, dass dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl nach Ansicht des BVerfG ein Anwendungsvorrang zukommt und die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung nur in den im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fällen ablehnen dürfen.

Das europäische Recht sehe – so die Erwägung des BVerfG – gerade nicht vor, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls von der Bedingung abhängig gemacht werden könne, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann. Vielmehr sei im 10. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses bloß vorgesehen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur dann ausgesetzt werden dürfe, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliege und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV festgestellt worden sei. Darüber hinaus betont das BVerfG, dass der EuGH in der Rechtssache Melloni zudem im Hinblick auf Art. 4a RbEuHb entschieden habe, dass die Vollstreckung eines Haftbefehls nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden dürfe, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden könne wenn der Betroffene einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen unterfalle.

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten verbindlichen grundgesetzlichen Vorgaben kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die deutschen Behörden und Gerichte aufgrund der Schranke der Art. 23 GG iVm. Art. 79 III GG trotz des Unionsrechts verpflichtet seien, sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden.

d) Möglichkeit der Auslegung des Unionsrechts unter Berücksichtigung der Maßgaben des Art. 1 I GG
In Anbetracht dieser Aussagen könnte man geneigt sein, dem BVerfG im vorliegenden Fall eine Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm. Art. 1 I GG zu attestieren. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr kommt der Senat einschränkend zu seinen bisherigen Erwägungen zu dem Ergebnis, dass sowohl der Rahmenbeschluss als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationalen Rechtshilfe in Strafsachen eine Auslegung zulassen, die den von Art. 1 I GG geforderten Mindestgarantien Rechnung trage. Das BVerfG zündet somit, anders als bereits an anderen Stellen fälschlicherweise behauptet wurde, die „Identitätskontrollbombe“ gerade nicht (so aber: Maximilian Steinbeis, der sich mittlerweile jedoch selbst korrigiert hat), sondern drückt stattdessen sprichwörtlich gesehen in letzter Sekunde doch nicht auf den Auslöser. Der Pfad der Identitätskontrolle wird folglich lediglich eingeschlagen, aber nicht zu Ende beschritten:

Einer unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG begründeten Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zukommenden Anwendungsvorrangs bedarf es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht, weil sowohl der Rahmenbeschluss selbst (a) als auch das diesen umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (b) eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt.

Das BVerfG kommt vielmehr zu dem Ergebnis, dass die Pflicht, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, schon unionsrechtlich begrenzt sei:

  • Diesem sei nämlich nicht Folge zu leisten, wenn er den Anforderungen des Rahmenbeschlusses nicht genüge.  Der Rahmenbeschluss sehe in diesem Sinne in Art. 4a I 1 vor, dass die Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern könne, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Das BVerfG geht davon aus, dass Art. 4a I 1 Buchstabe d (i) des Rahmenbeschlusses so zu verstehen ist, dass er ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden „kann“. Nach Ansicht des BVerfG wird dem mit der Sache befassten Gericht durch das Wort „kann“ somit kein Ermessen eingeräumt. Vielmehr diene das Wort allein zurKennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und müsse daher als „in der Lage ist“ zu interpretiert werde.
  • Als ein weiteres Indiz für die unionsrechtliche Einschränkbarkeit der Pflicht zur Befolgung des Europäischen Haftbefehls deutet das BVerfG die in Art. 1 III des Rahmenbeschlusses ausdrücklich normierte Pflicht, die Grundrechte sowie die in Art. 6 EUV niedergelegten allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten.
  • Auch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte sprechen nach Auffassung des BVerfG für die dargestellte Auslegung des Unionsrechts. Die in diesen  Grundrechtskatalogen verbürgten Gewährleistungen stünden im Hinblick auf Auslieferungen zur Vollstreckung von Abwesenheitsverurteilungen dem deutschen Grundgesetz nicht nach. Vielmehr würde das durch die EMRK und Grundrechte-Charta auch ein Recht auf ein faires Strafverfahren ebenfalls verlangen, dass das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten höre und prozessrechtlich in der Lage sei, die diesem zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen.

Die nationalen Justizbehörden sind nach Auffassung des BVerfG daher nicht nur im Hinblick auf die Vorgaben des Grundgesetzes, sondern schon unter dem Blickwinkel des Unionsrechts bei entsprechenden Anhaltspunkte dazu verpflichtet, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen. Vor diesem Hintergrund bleibe das Unionsrecht nicht hinter den Anforderungen des Art. 1 I GG zurück und es bestehe somit keine Notwendigkeit den Anwendungsvorrang zu begrenzen.

e) Verletzung der Vorgaben durch das OLG
Sodann setzt sich BVerfG mit der konkreten Entscheidung des OLG Düsseldorf auseinander. Dieses habe die Bedeutung und Tragweite des Art. 1 I GG dadurch verkannt, dass der Beschwerdeführer substantiiert dargelegt habe, dass ihm das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit einer erneuten Beweisaufnahme im Berufungsverfahren eröffne und das OLG diesem Vortrag nicht in ausreichendem Maße nachgegangen sei. Es habe sich stattdessen schon damit zufriedengegeben, dass eine erneute Beweisaufnahme in Italien „jedenfalls nicht ausgeschlossen sei“ und damit nicht sichergestellt, dass die durch Art. 1 I GG gewährleisteten Mindestrechte gewahrt sind. Da der Betroffene substantiiert und plausibel konkrete Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 I GG geschützten Mindeststandards vorgetragen habe, hätte das Gericht die Pflicht gehabt, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und Praxis im ersuchenden Staat vorzunehmen.

3. Verzicht auf Vorlage an den EuGH
Zuletzt thematisiert das BVerfG noch, ob gemäß Art. 267 AEUV eine Vorlage an den EuGH notwendig gewesen wäre. Für das BVerfG ist die Sache hier jedoch trotz der oben erwähnten Melloni-Entscheidung des EuGH eindeutig: Bei der Rechtslage handle es sich um eine „acte claire“, bei der die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offensichtlich sei, dass für vernünftige Zweifel keine Spielräume bleiben, so dass eine Vorlage nicht geboten sei.

Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedarf es nicht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 …) Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegenstand.

C. Schlussbetrachtung

Entgegen anders lautender erster Einschätzungen befindet sich das BVerfG nicht insoweit auf einem Konfrontationskurs, als dass es sich auf das Recht zur Identitätskontrolle beruft. Im Ergebnis nimmt das BVerfG in dem Beschluss gerade keine Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm. Art. 1 I GG vor und ruft daher für den Europäischen Haftbefehl die nationalen Behörden auch nicht zum Europarechtsbruch auf. Solange das Unionsrecht nicht hinter dem Kernbestand der deutschen Verfassungsidentität zurückbleibt, ist auch sein Anwendungsvorrang nicht eingeschränkt.

Allerdings gelingt dies dem BVerfG hier nur, in dem es zu dem Ergebnis kommt, dass bereits das Unionsrecht eine Auslegung vorsehe und zulasse, die den Mindestanforderungen des Art. 1 I GG genüge.   Das BVerfG nimmt in dieser Hinsicht in bemerkenswerter Weise eine umfangreiche Auslegung des Unionsrechts vor. Zugleich verzichtet es aber im Sinne der „acte claire – Doktrin“ auf eine Vorlage an den EuGH. Dies wird jedoch in ersten Reaktionen angesichts der vom BVerfG zitierten Melloni-Entscheidung des EuGH kritisiert. Ob es einer Vorlage bedurft hätte ist zweifelhaft. Jedenfalls bleibt zu beachten, dass sich die Melloni-Entscheidung vor allem mit Art. 4a I lit. a und b des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auseinandersetzt, während es hier dagegen um Art. 4 a I lit. d geht. Da sich das BVerfG zudem intensiv mit dem durch die Grundrechte-Charta sowie der EMRK verbürgten europäischen Grundrechtsschutz auseinandersetzt und wohl von einem vergleichbaren Schutzstandard der durch die Menschenwürde verbürgten Mindestgarantien ausgeht, erscheint der Verzicht aus der Perspektive des BVerfG nachvollziehbar. Im Hinblick auf den argumentativen Aufwand den das BVerfG betreibt und sowie die Fragen, nach der Reichweite des europäischen Grundrechtsschutzes und dessen Weiterentwicklung, erscheint die Rechtslage allerdings vielleicht doch nicht ganz so klar.

Für Examenskandidaten eignet sich die Entscheidung vor allem zur Wiederholung des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht sowie der Prüfungskompetenz des BVerfG. Darüber hinaus sollte auch der durch Art. 1 I GG gewährleistete Schuldgrundsatz und dessen Ausprägungen in Grundzügen bekannt sein.

10.02.2016/3 Kommentare/von Lukas Knappe
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Lukas Knappe https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Lukas Knappe2016-02-10 14:48:592016-02-10 14:48:59BVerfG: Identitätskontrolle im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde
Florian Wieg

Notiz: Fliesenfall ade?

BGH-Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Schuldrecht, Startseite, Tagesgeschehen, Zivilrecht

Bundesjustizminister Heiko Maas läuft zunehmend Gefahr, bei Prüfern und Klausurstellern im 1. und 2. Juristischen Staatsexamen in Ungnade zu fallen.
Nach seinem Angriff auf manches Strafrechtlers liebstes Kind, dem Mordparagraphen § 211 StGB (s. dazu bereits hier), plant der Minister nun, den Zivilrechtlern ihre Fliesen-, Parkettstäbe- und Dachziegelfälle im Zuge einer normativen Konkretisierung der Rechtsprechung von EuGH (s. dazu bereits hier und hier) und BGH (s. dazu bereits hier) zu § 439 BGB zu nehmen. Nicht minder spektakulär ist die beabsichtigte Erstreckung des Rechts der Mängelhaftung auf B2B-Geschäfte, die der BGH jüngst unter Zugrundelegung des geltenden Rechts abgelehnt hatte (s. dazu bereits hier und hier ).
Ein höchst examensrelevantes Vorhaben.
Den Referentenentwurf des BMJV gibt’s hier.

06.11.2015/0 Kommentare/von Florian Wieg
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Florian Wieg https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Florian Wieg2015-11-06 09:00:312015-11-06 09:00:31Notiz: Fliesenfall ade?
Dr. Patrick Christian Otto

BVerfG vs. EuGH – eine Analyse des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht

Europarecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, einen weiteren Gastbeitrag veröffentlichen zu können. Er stammt von Patrick Otto, Studium in Hannover, studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Volker Epping) sowie am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft (Prof. Dr. Veith Mehde).
 
Lokalkolorit vs. europäische Integration – mit dieser Dichotomie könnte das Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht umschrieben werden. Seit Jahrzehnten streiten sich beide über die Bindungswirkung ihrer Urteile, wobei das BVerfG stets darum bemüht ist, sich eine möglichst maximale Prüfungskompetenz zu sichern. Neu entfacht wurde diese Diskussion nun durch den kürzlich veröffentlichten OMT-Beschluss des EuGH. Was nun? Dieser Frage möchte der vorliegende Beitrag nachgehen.
I. Grundsätzliches zum Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH
Im Grundsatz pflegen BVerfG und EuGH ein kooperatives Verhältnis, da sie beide ein Interesse an der europäischen Integration haben und sich daher gegenseitig unterstützen (Stichwort: Grundsatz der Europafreundlichkeit). Dennoch zeigt sich in der Linie der Jurisdiktion des BVerfG an einigen Stellen, dass sich das hiesige Verfassungsgericht schwer damit tut, Kompetenzen an den EuGH abzugeben und damit selbst in den Hintergrund zu treten. Andererseits hat der EuGH ein Interesse daran, möglichst stark und mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet zu sein, um eine für die Mitgliedstaaten einheitliche Rechtsprechung zu schaffen. Dafür nimmt dieser auch in Kauf, dass Entscheidungen getroffen werden, die ein nationales Verfassungsgericht so oder so ähnlich nicht getroffen hätte. So hat das europäische Gericht bereits im Jahr 1964 in seiner prominenten Costa/ENEL-Entscheidung (EuGH v. 15.7.1964 – 6/64 (Costa/ENEL)) klargestellt, dass ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts existiert, der absolut und uneingeschränkt gelte. Das BVerfG erkennt diesen zwar an, interpretiert ihn jedoch nur als relativ und daher als für Ausnahmen zugänglich. Dieser Umstand führte in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart zu einem nicht zu übersehbaren Konflikt.
II. Der Ausgangspunkt des Konflikts: Die Solange-Rechtsprechung des BVerfG
Erstmals virulent wurde das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH in der prominenten Solange-Rechtsprechung. In seiner Solange I-Entscheidung (BVerfG v. 29.5.1974 – BvL 52/71, BVerfGE 37, 271), die noch zur Anfangszeit der europäischen Integration ergangen war, hielt sich das BVerfG solange einen Prüfungsmaßstab anhand der nationalen Grundrechte offen, wie das europäische Recht und die Judikatur des EuGH keinen vergleichbaren Rechtsschutz gewährleiste. Verstoße daher europäisches Recht gegen die nationalen Grundrechte, so trete das Unionsrecht hinter dem nationalen Recht zurück. Mit fortschreitender Integration erhöhte sich in der Folge auch der Grundrechtsschutz, sodass sich das BVerfG in seiner Solange II-Entscheidung (BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339) erneut mit dem Verhältnis zwischen nationalen Recht und Unionsrechts befasste. Hier sah es den vergleichbaren Grundrechtsschutz als gegeben an, da der EuGH mittlerweile selbst einen ungeschriebenen Grundrechtekatalog in Form der allgemeinen Rechtsgrundsätze anerkenne. Daher prüfe das BVerfG dann nicht mehr am Maßstab der nationalen Grundrechte. Durch diesen recht deutlichen Richterspruch hin zum Unionsrecht galt das Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrechts zumindest prima facie als geklärt.
III. Die Ausnahme Identitätskontrolle
Die erste Ausnahme vom Verdikt der Solange II-Entscheidung ist die sog. Identitätskontrolle. Die Verfassungsrichter aus Karlsruhe behalten sich dabei die Prüfung von Rechtsakten anhand des nationalen Rechts für den Fall offen, dass der unantastbare Kerngehalt der Art. 1 und 20 GG verletzt wird (vgl. Art. 23 I 3, 79 III GG). Erstmals ausdrücklich genannt wurde dieses Institut in der Lissabon-Entscheidung (BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08 u.a., BVerfGE 123, 267) und finde seine Erforderlichkeit darin, dass die Übertragung von Kompetenzen an die Union nicht über die unantastbaren Ewigkeitsnormen der Art. 1 und 20 GG hinausgehen dürfe. Praktisch relevant sei hierbei vor allem das Demokratieprinzip, nach dem substanzielle Kompetenzen beim deutschen Parlament verbleiben müssten.
IV. Die Ausnahme der Rechtsakte ultra vires
Die zweite Ausnahmen sind die ausbrechenden Rechtsakte, die das Kompetenzgefüge des Unionsrechts sprengen (sog. Rechtsakte ultra vires) und erstmals in der Maastricht-Entscheidung (BVerfG v. 12.10.1993 – Az 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155), seinerzeit firmierend unter dem Begriff „ausbrechende Rechtsakte“, genannt wurde. Ein solcher Rechtsakt liege dann vor, wenn gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I und II EUV) oder das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 III EUV) verstoßen wird. Wie das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung (BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08 u.a., BVerfGE 123, 267) ausführte, habe das Gericht dann durchaus die Kompetenz dazu, die Rechtsakte der Union im Hinblick auf den gesteckten Kompetenzkatalog in den Verträgen zu überprüfen und zu verwerfen, solange sie die deutsche Rechtsordnung berühren. Gleichwohl begreift es diese Kompetenz nur als eine Reservekompetenz, die subsidiär gegenüber dem Unionsrechtsschutz ist, sodass das Entscheidungsprimat des EuGH im Grundsatz anerkannt wird. Die genauen Kriterien für einen solchen Rechtsakt ultra vires formulierte das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung (BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286) sehr eng, sodass teilweise vertreten wird, dass ein solcher Rechtsakt ultra vires kaum mehr vorstellbar sei.
V. Alles neu macht der OMT-Beschluss?
Das bisher Gesagte galt lange Zeit als gesetzt. Neue Beachtung wurde dem Verhältnis zwischen nationalen Recht und Unionsrecht jedoch wieder durch den sog. OMT-Beschluss geschenkt (BVerfG v. 7.2.2014 – 2 BvR 1390/12). In dieser Entscheidung zog das BVerfG einen ausbrechenden Rechtsakt für den Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB) v. 6.9.2012 in Betracht, indem es um die Technical features of Outright Monetary Transactions ging. Hierbei hat das BVerfG Neuland betreten und erstmalig dem EuGH eine Rechtssache zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der OMT-Beschluss der EZB sieht vor, dass diese Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe ankaufen darf, wenn und solange diese Mitgliedstaaten Teil des Europäischen Rettungsschirms (ESM) sind. Eine Umsetzung hiervor fand bislang noch nicht statt. Der zweite Senat erblickt hierin eine Überschreitung der Kompetenz der EZB, da diese unzulässige Wirtschaftspolitik betreibe und zudem ein Verstoß gegen das Verbot der Staatenfinanzierung aus Art. 123 I AEUV vorliege, welcher im Wege des Organstreitverfahrens oder der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 38 I GG geltend gemacht werden könne.
Der EuGH judizierte auf das Vorabentscheidungsersuchen des BVerfG, dass das Vorhaben der EZB im Einklang mit dem Unionsrecht stehe (EuGH v. 16.6.2015 – C-62/14 (Gauweiler u.a.)). Das EZB-Programm sei, entgegen der Auffassung des BVerfG, nicht der Wirtschafts-, sondern der Währungspolitik zuzuordnen. Auch ein Verstoß gegen das Verbot der Staatenfinanzierung liege nicht vor, soweit die EZB die ihr selbst gesetzten Kriterien einhalte. Damit negierte der EuGH alle Bedenken des BVerfG und gab die Rechtssache zurück nach Karlsruhe. Dies ist letztlich nur ein weiterer Beleg dafür, dass der EuGH seine eigene Kompetenz als umfassend begreift und den Mitgliedstaaten insoweit keinen eigenen Spielraum zubilligt. Damit ist die Ausgangsfrage (Alles neu macht der OMT-Beschluss?) damit zu beantworten, dass sich die Entscheidung nur in den Kanon bisheriger Entscheidungen einfügt und diese bestätigt, aber das Rad sprichwörtlich nicht neu erfindet.
VI. Fazit
Der Konflikt ist noch nicht entschärft. Auch der OMT-Beschluss macht deutlich, dass das BVerfG immer noch eine sehr starke Skepsis gegenüber dem EuGH hat und daher weiterhin Reservekompetenzen behalten möchte. Der EuGH weicht hingegen auch nicht von seiner Linie ab, für sich selbst ein Maximum an Kompetenzen zu beanspruchen. Dennoch erweist sich der EuGH vorerst als Sieger dieses Konflikts und es ist wohl auch mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung davon auszugehen, dass sich das BVerfG immer weiter zurückziehen wird und der EuGH insoweit allein über die Prüfung von Rechtsakten im Anwendungsbereich des Unionsrechts entscheiden wird. Indes würde dies wiederum zu einer Stärkung des BVerfG führen, da dem EuGH die Bürde von Entscheidungen obliege und sich das nationale Gericht somit nicht der öffentlichen Kritik seiner eigenen Entscheidungen aussetzen müsste. Zudem würde dies dem Kooperationsgedanken am Besten Rechnung tragen. Daher wäre es sehr zu begrüßen, wenn der nun veröffentlichte OMT-Beschluss zu einem nachhaltigen Umdenken hin zum alleinigen Entscheidungsmonopol des EuGH führen würde.

10.08.2015/0 Kommentare/von Dr. Patrick Christian Otto
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Patrick Christian Otto https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Patrick Christian Otto2015-08-10 07:15:412015-08-10 07:15:41BVerfG vs. EuGH – eine Analyse des Verhältnisses von nationalem Recht und Unionsrecht
Dr. Melanie Jänsch

Grenzblockaden französischer Bauern – Spanische Erdbeeren reloaded

Europarecht, Europarecht Klassiker, Mündliche Prüfung, Schon gelesen?, Tagesgeschehen

Derzeit blockieren französische Landwirte als Protestaktion die Grenze zu Deutschland, um deutsche Lastwagen mit Agrarprodukten an der Überquerung der Grenze zu hindern. Sie beklagen, dass deutsche Landwirte durch den Einsatz osteuropäischer Erntehelfer ihre Waren günstiger produzieren können (s. hier).
 
Es zeigt sich eine Parallele zu der Situation, die der Leitentscheidung des EuGH Kommission/Frankreich (Spanische Erdbeeren, EuGH v. 9.12.1997 – C-265/95, Slg. 1997 I-6959) zugrunde liegt. In diesem Fall richtete sich die Protestbewegung der französischen Bauern gegen spanische Exporteure. Der französische Staat hatte es unterlassen gegen diese Agrarblockaden einzuschreiten.
 
Die Kernaussage des EuGH-Urteils ist, dass die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit auch dann vorliegen kann, wenn der Mitgliedstaat es unterlässt gegen das Handeln von Privatpersonen einzuschreiten. Eine solche Schutzpflicht ergibt sich aus den Grundfreiheiten i.V.m. der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (s. heute: Art. 4 Abs. 3 EUV; zuvor: Art. 10 EG bzw. Art. 5 EGV). Der französische Staat war demnach dazu verpflichtet gewesen alle geeigneten Maßnahmen zum Schutz der Warenverkehrsfreiheit zu ergreifen.
 
Im Hinblick auf die mündliche Prüfung sollten daher die aktuellen Geschehnisse im Auge behalten werden.
 

01.08.2015/1 Kommentar/von Dr. Melanie Jänsch
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Melanie Jänsch https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Melanie Jänsch2015-08-01 15:00:482015-08-01 15:00:48Grenzblockaden französischer Bauern – Spanische Erdbeeren reloaded
Redaktion

Notiz: EuGH: „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet

Startseite, Tagesgeschehen

Wie der Tagespresse zu entnehmen ist, hat der EuGH heute sein Urteil (Rs. C-131/12) in dem Verfahren Google/AEPD veröffentlicht. Im Kern gewährt der EuGH darin einer natürlichen Person das Recht, von Suchmaschinen wie beispielsweise Google zu verlangen, dass Links aus der Trefferliste einer Suche gelöscht werden. Dieses Recht besteht aber nur, wenn eine Interessenabwägung im konkreten Fall zu dem Ergebnis führt, dass das Interesse des Anspruchstellers am Schutz seiner Privatsphäre und seiner personenbezogenen Daten höher zu gewichten ist als das Interesse des Suchmaschinenbetreibers an der Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit. Drittinteressen können ebenfalls zu berücksichtigen sein, etwa das Interesse der Allgemeinheit am Zugang zu Informationen, aber auch die Pressefreiheit. Der Anspruch gegen den Suchmaschinenbetreiber bestehe unabhängig davon, ob der Anspruchsteller einen Anspruch auf Löschung gegen denjenigen hat, der die Information auf seiner Seite in das Internet stellt. Das Urteil findet Ihr in der deutschen Sprachfassung im Volltext hier.

13.05.2014/2 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2014-05-13 14:27:112014-05-13 14:27:11Notiz: EuGH: „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet
Dr. Maximilian Schmidt

Prüfungsgespräch Öffentliches Recht – Europarecht

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Europarecht, Schon gelesen?, Verfassungsrecht, Verschiedenes

Weiter geht es mit einem Prüfungsgespräch zur Entscheidung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung. Diese dient allerdings nur als Aufhänger. Wünschenswert wäre, die Fragen kurz im Kopf zu beantworten, s. zu Sinn und Zweck dieser Kategorie den Einführungsbeitrag.
Sehr geehrte Damen und Herren,
der EuGH hat, wie Sie sicher in den Tageszeitungen gelesen haben, entschieden, dass die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung europarechtswidrig und damit nichtig ist.
Zunächst: Was ist der Unterschied zwischen einer Richtlinie und einer Verordnung?*
Sowohl Verordnung als auch Richtlinie gehören zum europäischen Sekundärrecht, wovon das Primärrecht, das seit Lissabon insbesondere aus EUV und AEUV besteht, abzugrenzen ist. Verordnungen haben allgemeine Geltung, d.h. sie wirken wie nationale Gesetze, weswegen sich der Bürger unmittelbar auf sie berufen kann, Art. 288 Abs. 2 AEUV. Sie sind in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Richtlinien werden an Mitgliedstaaten gerichtet und sind für diese hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, Art. 288 Abs.3 AEUV. Die innerstaatlichen Stellen wählen Form und Mittel der Umsetzung in nationale Gesetze, mit denen die Ziele innerhalb einer bestimmten Frist zu erreichen sind. (Art. 288 AEUV) Die Richtlinie ist daher ein Kompromiss zwischen der Notwendigkeit, in der EU einheitliches Recht zu setzen und der Rücksicht auf nationale Eigenheiten.
Das kann man – grosso modo – so sagen. Nun, wer kann denn Richtlinien und Verordnungen für nichtig erklären? *
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass es die Nichtigkeitsklage vor dem EuGH gibt, Art. 263 AEUV. Hiermit können Verstöße gegen das europäische Primärrecht bei Erlass von Richtlinien und Verordnungen durch den europäischen Gesetzgeber gerügt und gegebenenfalls für nichtig erklärt werden.
Ich hake hier kurz ein. Angenommen der EuGH verwirft eine Nichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie. Welche weiteren Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen dann?*
In Betracht käme dann grundsätzlich noch eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Bei Prüfung dieser stellen sich aber einige Probleme. Zum einen müsste ein tauglicher Beschwerdegegenstand nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a vorliegen. Dies sind aber grundsätzlich nur innerstaatliche Gesetze im materiellen Sinne.
Ich hake wiederum kurz ein und frage Ihren Nachbarn: Was meint Ihr Vorredner mit Gesetz im materiellen Sinne?*
Man unterscheidet herkömmlich Gesetze im formellen und materiellen Sinne. Gesetze im materiellen Sinne sind all solche, die abstrakt-generelle Rechtsfolgen für die Bürger treffen. Demgegenüber sind Gesetze im formellen Sinne allein Parlamentsgesetze. Häufig fallen beide Begriffe zusammen, dem muss aber nicht so sein. Bspw. ist ein Gesetz nur im formellen Sinne ein Haushaltsgesetz des Bundestages, da diese keine Rechtsfolgen für die Bürger zeitigen. Demgegenüber sind gemeindliche Satzungen allein Gesetze im materiellen Sinne.
Vielen Dank für diesen kurzen Exkurs. Zurück zum eigentlichen Thema. Welches Problem gibt es nun beim Beschwerdegegenstand? *
Wie bereits gesagt müsste ein Gesetz im materiellen Sinne vorliegen. Eine Richtlinie bindet aber nur den nationalen Gesetzgeber zur Transformation in einem dann materiellen Gesetz, sie ist also nur eine Vorstufe.
Das träfe aber auf die Verordnung nicht zu, diese gilt ja schließlich unmittelbar!’
Das stimmt, doch muss nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ein Akt der deutschen öffentlichen Gewalt vorliegen, die allein an die Grundrechte gebunden ist, Art. 1 Abs. 3 GG. Bei der Verordnungsgebung durch die EU liegt aber solche gerade nicht vor, es handelt sich um zwei unterschiedliche Rechtsordnungen. Die EU ist nämlich nicht an die deutschen Grundrechte gebunden. Daher scheidet eine Verfassungsbeschwerde aus.
Bedeutet das also, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen, sprich Richtlinien und Verordnungen, der EU niemals zulässig?
Nein, in dieser Konsequenz lässt sich das nicht sagen. Das BVerfG hat mit seiner Solange II – Entscheidung das Verhältnis zum EuGH auf eine neue Basis gestellt. In seinem Solange I Urteil hatte das BVerfG noch festgestellt, dass es solange Rechtsakte der EU an deutschen Grundrechten prüfen werde, wie noch kein ausreichendes, dem deutschen Grundrechtsschutz entsprechendes Niveau durch den EuGH gewährleistet werde. Dies hat das BVerfG mit seiner Solange II Entscheidung revidiert und den Satz nahezu umgekehrt: Solange der EuGH einen ausreichenden Grundrechtsschutz anhand des Primärrechts der Union gewährleiste, werde das BVerfG Rechtsakte der EU nicht mehr an der deutschen Verfassung messen.
Daher lautet die Antwort: Nur wenn das grundrechtliche Schutzniveau auf Unionsebene drastisch absinken würde, käme über die Solange II Rechtsprechung eine Kontrolle von Rechtsakten der Union durch das BVerfG in Betracht.
Sehr schön. Nun wie nennt man nun das Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG?**
Seit der Maastricht-Entscheidung wird dieses Verhältnis auch „Kooperationsverhältnis“ genannt.
Welche weitere Entscheidung des BVerfG hat die Solange II Rspr. konturiert?**
Es handelt sich um die sog. „Bananenmarkt-Entscheidung“ des BVerfG. In diesem stellte es fest, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsakte der Union erst dann zulässig sein können, wenn dargelegt ist, dass in der Zwischenzeit das Schutzniveau innerhalb der EU unter den erforderlichen Grundrechtsschutz abgesunken sei. Hiermit verlagerte es also die Darlegungslast auf den Beschwerdeführer, weswegen das BVerfG nicht mehr bei jeder Verfassungsbeschwerde gegen Sekundärrecht der Union prüfen muss, ob ein Absinken des Grundrechtsschutzes erkennbar ist.
Angenommen das Schutzniveau würde absinken, die Voraussetzungen von Solange II wären also erfüllt, und das BVerfG würde zugleich einen Verstoß der europäischen Verordnung gegen deutsche Grundrechte erkennen. Was wäre die Rechtsfolge?**
Das BVerfG könnte zunächst nicht die Nichtigkeit des Unionsrechtsakts feststellen, da dies allein dem EuGH vorbehalten ist, Art. 263 AEUV. Dies ist konsequent, da die Verordnung auch in anderen Mitgliedsstaaten gilt und das BVerfG für diese keine Nichtigkeitsfolge anordnen kann. Allerdings wäre der Verstoß nicht rechtsfolgenlos. Das BVerfG könnte die Unanwendbarkeit der Verordnung in Deutschland feststellen, müsste aber zugleich dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Entscheidung vorlegen.
Nachdem Sie nun Ihre Kenntnisse im Recht der Union nachgewiesen haben, noch eine letzte Frage: Wie Sie sicher wissen, war der historische Anfang der heutigen Union die sog. Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, oder auch Montanunion genannt. Welcher berühmte Politiker hatte hierfür die Idee und schlug diese vor?***
Es handelt sich um den damaligen französischen Außenminister Robert Schuman, weswegen auch vom „Schuman-Plan“ gesprochen wird. Zudem muss der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer genannt werden, der diesem Plan unverzüglich zustimmte. Daher nennt man Schuman und Adenauer auch die Gründungsväter der Europäischen Union.
Vielen Dank für diese ausgesprochen erfreuliche Prüfung!

08.04.2014/1 Kommentar/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2014-04-08 13:00:172014-04-08 13:00:17Prüfungsgespräch Öffentliches Recht – Europarecht
Gastautor

Karlsruhe dankt nicht ab – Karlsruhe gebietet vielmehr der Rechtserosion Einhalt

Europarecht, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns erneut einen Gastbeitrag von Dr. Stefan Städter [1] zu einem europarechtlichen bzw. europapolitischem Thema veröffentlichen zu können. Der Autor ist derzeit Referendar in Berlin sowie Mitarbeiter beim Institut EUROPOLIS.

1. Hintergrund

Mit Datum vom 7.2.2014 teilte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Hauptsacheverfahren ESM/EZB zwei Beschlüsse – und zwar vom 17.12.2013 sowie vom 14.1.2014 – mit. Danach hat sich der Zweite Senat dazu entschlossen, nicht nur die rechtshängigen Verfahren in Sachen ESM/EZB abzutrennen und erstmals dem Gerichtshof der Europäischen Union die  streitentscheidenden Fragen zur primärrechtlichen Vereinbarkeit des sog. OMT-Programms des EZB mit den Art. 123ff. AEUV vorzulegen (Art. 267 AEUV). Der Zweite Senat wird zudem am 18.3.2014 in dieser Sache sein lang erwartetes Urteil verkünden. Da jedoch bis zum 18.3.2014 noch keine Antwort des Gerichtshofes des Europäischen Union auf die Vorlagefrage vorliegen dürfte, kann sich die entsprechende Sachentscheidung allenfalls auf die Beschwerdegegenstände im Übrigen, d.h. den ESM ohne EZB-Maßnahmen sowie den Fiskalvertrag, beschränken.

2. Kritische Betrachtung

Nach der Entscheidung der Bundesverfassungsrichter den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des OMT-Programms der EZB einzubeziehen [2], melden sich zahlreiche Beobachter zu Wort, die darin ein „fatales Signal“ sehen. Nicht nur, dass ein Souveränitätsverlust Deutschlands drohe. Vielmehr, so folgert u.a. der emeritierte Tübinger Ökonom Professor Starbatty, habe das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung „de facto abgedankt“ [3]. „Niemand“, so die ausdrücklichen Worte des Beschwerdeführers Starbatty, „braucht das Verfassungsgericht mehr anzurufen, weil alle Verstöße gegen das Grundgesetz, die etwa die gemeinschaftliche Haftung, den Euro oder europäische Belange betreffen, zum EuGH weitergeleitet werden.“

Zwar mögen derartige Äußerungen die Medienticker füllen. Indessen sind sie mit der rechtlichen Realität kaum in Einklang zu bringen. Sie belegen einzig die rückwärtsgewandten Rechtsauffassungen, die insbesondere die Existenz des Unionsrechts und ihrer Gerichtsbarkeit vollends negieren. Erstens – und diesbezüglich scheint bei den Kritikern der Beschlüsse vom 17.12.2013 sowie vom 14.1.2014 mehr als nur eine kleine Wissenslücke zu bestehen – ist die Einbeziehung der Karlsruher Richter keinesfalls als ein Souveränitätsverlust zu deuten. Im Gegenteil: Art. 267 Abs. 3 AEUV schreibt diese Vorgehensweise nämlich explizit vor. Danach ist jedes letztinstanzliche Gericht, also auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, verpflichtet dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen, sobald im Rahmen eines rechtshängigen Verfahrens über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Unionsorgane zu befinden ist. Da in den Verfassungsbeschwerden, wie sich insbesondere in der mündlichen Verhandlung vom 11./12.6.2013 zeigte, die Frage der Vereinbarkeit des OMT-Programmes mit den primärrechtlichen Bestimmungen der Art. 123ff. AEUV streitgegenständlich ist, blieb dem Zweiten Senat – wenn er die Unionsverträge nicht verletzen möchte – gar nichts anderes übrig als diesen unionsrechtlich vorgeschriebenen Weg zu beschreiten.

Zweitens verkennt der Kritiker, dass es sich bei Art. 267 Abs. 3 AEUV um eine Norm handelt, die nicht nur die Einheit der Unionsrechtsordnung sichern soll, sondern vor allem auch aufgrund der Ratifikation seitens der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ Eingang in die Unionsverträge fand. Die Souveränität von der Starbatty spricht, ist deshalb mehr als deplatziert, weil die Mitgliedstaaten diesbezüglich ausdrücklich auf ihre Souveränität verzichtet haben. Wer dies bestreitet, sollte den Wortlaut und die entsprechende juristische Kommentierung zu Art. 19 EUV zu Rate ziehen. Das Unionsrecht steht zudem – anders als es sich diese Beschwerdegruppe um Herrn Starbattygern wünscht– keinesfalls zur Disposition und zwar weder seitens der Unionsorgane noch seitens der Mitgliedstaaten. Gem. Art. 2 EUV ist die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft, die als eine rechtlich geordnete Gestaltung unserer europäischen Welt bewusst an die Stelle von Politik und Macht trat. Grundvoraussetzung für die Existenz der Rechtsgemeinschaft ist hierbei in erster Linie die unbedingte Einhaltung des Regelwerkes.

Folgt man nunmehr dem Ansinnen Starbattys, indem man Art. 267 Abs. 3 AEUV in Abrede stellt, so setzt man den unheilvollen Weg der Flexibilisierung rechtlicher Maßstäbe weiter fort: Was als Rechtsbruch durch die sog. Euroretter Lagarde, Trichet oder Draghi hinsichtlich der No-Bail-Out-Regel (Art. 125 AEUV) bzw. des Verbots der monetären Finanzierung (Art. 123 AEUV) begann, würde letztlich durch eine weiteren Vertragsbruch und zwar seitens des Bundesverfassungsgerichts gekürt. Der institutionelle Schaden könnte kaum größer sein.

Die Sichtweise des Karlsruhe-Kritikers ist aus den vorgenannten Gründen mehr als befremdlich und stellt sein schriftsätzlich und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragenes Begehren in Frage. Denn wer braucht schon Beschwerdeführer, die jene Mittel proklamieren, die sie angeblich bekämpfen? Möchte man tatsächlich Souveränität verteidigen, dann fordert dies in erster Linie den Rechtsstaat und zwar in all seinen Facetten. Soll das verbindliche Unionsrecht nicht zum bloßen soft law verkümmern, so bedarf es, und  da liegt Karlsruhe goldrichtig, daher in erster Linie einer Rückkehr zum Recht.

Mit ihrer Entscheidung den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen, haben die Karlsruher Richter daher einen ersten, wenn auch nicht leichten, Schritt in die richtige Richtung gemacht: Chapeau! Möge der Gerichtshof der Europäischen Union daran anknüpfen und die medial omnipräsenten Schwarzmaler der Fehleinschätzung strafen.

 


[1] Der Verfasser veröffentlichte im November 2013 zu der Frage, ob sich das Bundesverfassungsgericht in Angelegenheiten der europäischen Integration immer mehr zurückzieht und daher seinen Status als Hüter der Verfassung einbüßt, seine Dissertation: Städter, Noch Hüter der Verfassung? Das Bundesverfassungsgericht und die europäische Integration, Lucius & Lucius, Stuttgart 2013. http://www.luciusverlag.com/shop/product_info.php/info/p9805_Noch-H-ter-der-Verfassung-.html/XTCsid/fb5571bae9978ed6dd00ca241f5e338e Der Verfasser war u.a. Kläger in einem Verfahren gegen die Maßnahmen der EZB vor den Unionsgerichten und Mitarbeiter des Verfahrensbevollmächtigten in Sachen „EFSF“, „ESM“ und „EZB“. www.europolis.online.org
[2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20131217_2bvr139012.html; https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20140114_2bvr272813.html
[3] http://www.faz.net/agenturmeldungen/adhoc/roundup-4-karlsruhe-ueberlaesst-entscheidung-zu-ezb-anleihekauf-dem-eugh-12790549.html

20.02.2014/9 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2014-02-20 14:00:532014-02-20 14:00:53Karlsruhe dankt nicht ab – Karlsruhe gebietet vielmehr der Rechtserosion Einhalt
Dr. Johannes Traut

EuGH: Entschädigung für verspätete Ankunft am Zielort

Europarecht, Rechtsprechung, Verbraucherschutzrecht, Zivilrecht

Der EuGH hat sich in der letzten Woche (Urteil v. 26.2.2013 – C 11/11 – Folkerts, abrufbar hier) wieder einmal zur Fluggastrechte-VO (EG/261/2004) geäußert.
Sachverhalt: Das Ehepaar Folkerts hatte bei Air France einen Flug von Bremen über Paris und São Paulo (Brasilien) nach Asunción in Paraguay gebucht. Sie erhielten bereits bei Flugantritt in Bremen Bordkarten für die gesamte Reise. Der Flug in Bremen startete mit 2,5 Verspätung, weshalb sie ihre beiden Anschlussflüge verpasste und mit einer Verspätung von 11h gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit in Asunción ankamen. Air France verweigerte die Zahlung einer Entschädigung nach Art. 7 Abs. 1 der FluggastVO mit der Begründung, nach Art. 6 der VO käme es auf die Verspätung beim Abflug und nicht bei der Ankunft an.
Grundlage: Ausgleichsanspruch auch für große Verspätung (Rs. Sturgeon)
Interessant ist zunächst, wie es überhaupt zu einem Ausgleichsanspruch für Verspätungen kommt. Denn Art. 6, der Ansprüche bei „Verspätung“ regelt, verweist gerade nicht auf Art. 7 VO, nach dem ein Ausgleichsanspruch geschuldet ist. Auch der systematische Vergleich mit Art. 5, wo sich ein solcher Verweis findet, legt nahe, dass es für Verspätungen eben keinen Ausgleichsanspruch geben soll.
In seinem durchaus umstrittenen Urteil vom 19.11.2009 (Rs. C‑402/07 u.a., Slg. 2009, I‑10923 – Sturgeon u. a.) hat der EuGH dennoch Fluggästen auch für große Verspätungen einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der FluggastVO zugestanden:

  • Die Fluggäste, die von einer großen Verspätung betroffen waren, wären im Ergebnis nicht anders gestellt als die von einer Annullierung betroffenen, wenn, wie im Falle des Art. 5 Abs. 1 lit. c) Sublit iii, die Annullierung unmittelbar vor Flugantritt erfolge. Denn in beiden Fällen kämen sie wesentlich später am Zielort an. Sie dürften daher schon aus Gleichheitsgründen nicht anders behandelt werden, denn ihr Schutz solle nach den Erwägungsgründen 1-4, insbesondere 2, gleich intensiv sein.
  • Der 15. Erwägungsgrund gehe auch davon aus, dass für große Verspätungen ebenfalls ein Ausgleichsanspruch bestehe. Denn er sagt, von außergewöhnlichen Umständen sei auch bei einer großen Verspätung unter bestimmten Umständen auszugehen. Von dem Vorliegen außergewöhnlicher Umstände macht die VO aber gerade einen Ausschluss des Ausgleichsanspruchs abhängig (vgl. Art. 5 Abs. 3 VO). Die Ausführungen im Erwägungsgrund haben also nur Sinn, wenn auch für große Verspätungen ein Ausgleichsanspruch besteht. Darüber hinaus zeige der Erwägungsgrund auch, dass Annullierung und große Verspätung gleich zu behandeln sein.
  • Andererseits scheide die (m.E. naheliegende) Lösung, unter den Begriff der Annullierung auch große Verspätungen zu fassen, aus, denn die VO unterscheide die Begriffe.
  • Vielmehr sei der Ausgleichsanspruch in analoger Anwendung des Art. 5 Abs. 1 lit. c) Sublit. iii zu geben, wobei es aber nur auf die insgesamt dreistündige Verspätung ankomme. Er führt aus (Rn. 32):

„Fluggäste, die eine große Verspätung erleiden, d. h. eine Verspätung von drei Stunden oder mehr, ebenso wie Fluggäste, deren ursprünglicher Flug annulliert wurde und denen das Luftfahrtunternehmen keine anderweitige Beförderung unter den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Voraussetzungen anbieten kann, haben einen Ausgleichsanspruch auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004, da sie in ähnlicher Weise einen irreversiblen Zeitverlust und somit Unannehmlichkeiten erleiden.“

Große Verspätung – zu später Abflug oder zu späte Ankunft?
Teleologisch geht es also um den Ausgleich für den Zeitverlust. Dieser hängt nicht davon ab, ob der Reisende rechtzeitig abfliegt, sondern davon, ob er rechtzeitig am Endziel seiner Reise ankommt. Schon deshalb spricht vieles dafür, dass der Zeitverlust bei Ankunft entscheidend sein muss (Rn. 32f.).
Allerdings könnte dem Art. 6 Abs. 1 entgegenstehen, der für die Rechte bei „Verspätungen“ auf die Verzögerung des Abfluges abstellt. Jedoch gibt es – das stellt der EuGH klar – zwei verschiedene Verspätungsbegriffe, an welche die Verordnung jeweils eigene Rechtsfolgen anknüpft. Art. 6 der Verordnung regele nur die Verspätung wegen verspäteten Abfluges (Rn. 29). Hierfür gibt es keinen Entschädigungsanspruch, sondern nur Unterstützungsleistungen. Das ergibt auch Sinn, weil die dortigen Unterstützungsleistungen dafür da sind, den Aufenthalt am Flughafen erträglich zu gestalten, bis es losgeht (vgl. auch Rn. 37f.).
Für den Ausgleichsanspruch kommt es dagegen auf die Verspätung am Ankunftsort an. Dies folgt wohl schon daraus, dass der Ausgleichsanspruch in Entsprechung zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii entwickelt wurde, der ebenfalls – jedenfalls im Ergebnis – auf die Verzögerung der Ankunft abstellt. Auch teleologisch ist – wie bereits dargelegt – dieser Schluss zwingend, denn es soll Ersatz für den insgesamt erlittenen Zeitverlust geleistet werden (Rn. 32f.).
Demnach ist hier entscheidend, wann das Paar an seinem Endziel ankam. Dieses ist definiert nach Art. 2 lit. h):
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck (…)

h) ‚Endziel‘ den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen den Zielort des letzten Fluges; verfügbare alternative Anschlussflüge bleiben unberücksichtigt, wenn die planmäßige Ankunftszeit eingehalten wird.“

Mithin kommt es auf die Verzögerung bei der Ankunft in Paraguay an. Da diese mehr als drei Stunden betrug, haben sie Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 lit. c) VO in Höhe von je 600 €.
Examensrelevanz
Bisher hat nach Kenntnis die FluggastrechteVO im mündlichen oder schriftlichen Examen noch keine Rolle gespielt. Das könnte sich aber demnächst ändern, weil sie inzwischen in der Praxis auch der obersten Gerichte (BGH, EuGH) immer wieder auftaucht. Außerdem ist sie rechtspolitisch interessant, weil sie das erste unmittelbar anwendbare europäische Recht darstellt, das (Kern-) zivilrechtliche Materien regelt und mit dem die Bürger im Alltag in Berührung kommen. Ferner bietet sie eine gute Gelegenheit das selbstständige Verständnis weitgehend unbekannter Normtexte abzuprüfen. Besonders umstritten ist dabei, dass der EuGH den Fluggästen auch im Falle großer Verspätungen einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung zugesteht, obwohl Wortlaut und Systematik der Verordnung gegen einen solchen sprechen. Hieran anknüpfend kann man etwa die Frage nach den Grenzen der Kompetenz des EuGH und ihre Überprüfung durch das BVerfG (dort insbesondere die Grundsätze des Honeywell-Beschlusses v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286; dazu Pötters/Traut, EuR 2011, 580ff.) stellen.

05.03.2013/0 Kommentare/von Dr. Johannes Traut
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Johannes Traut https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Johannes Traut2013-03-05 16:00:542013-03-05 16:00:54EuGH: Entschädigung für verspätete Ankunft am Zielort
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