Der EuGH hat in einem Vorabentscheidungsverfahren (jetzt: Art. 267 AEUV, früher: Art. 234 EGV) entschieden, dass eine niederländische Regelungen, die Touristen den Erwerb von Drogen in Coffeeshops untersagt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Sie verstößt insbesondere nicht gegen die Grundfreiheiten.
Sachverhalt
Die Entscheidung des EuGH betraf einen Rechtsstreit zwischen Herrn Josemans, dem Betreiber eines Coffeeshops mit dem klangvollen Namen „Easy Going“, und dem Burgemeester van Maastricht (Bürgermeister der Gemeinde Maastricht). Der Bürgermeister hatte eine vorübergehende Schließung dieses Coffeeshops verfügt, nachdem zweimal festgestellt worden war, dass unter Verstoß gegen die in der Gemeinde Maastricht geltenden Bestimmungen nicht in den Niederlanden wohnhaften Personen der Zutritt gestattet worden war. Hiergegen klagte der Coffeeshop-Betreiber. Das niederländische Gericht hatte Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Maastrichter Regelung mit Unionsrecht und legte deshalb dem EuGH vor. Die Vorlagefragen betrafen insbesondere die Vereinbarkeit in Bezug auf den in den Art. 28 ff. EG geregelten freien Warenverkehr, die in den Art. 49 ff. EG verankerte Dienstleistungsfreiheit und das in Art. 12 EG niedergelegte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Verbindung mit Art. 18 EG, der die Unionsbürgerschaft betrifft (Anm.: dies sind noch die alten Vorschriften zum EGV, da der Rechtsstreit vor dem Lissabon-Vertrag entstand; die aktuellen Vorschriften zu den Grundfreiheiten finden sich in Art. 34 ff. AEUV bzw. Art. 56 ff. AEUV)
Lösong des EuGH: Differenzierung zwischen Drogen und Speisen
Der EuGH (Rechtssache Marc Michel Josemans gegen Burgemeester van Maastricht, C‑137/09, Entscheidung vom 16.12.2010) prüfte zunächst einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten und das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Diese seien im Hinblick auf den Verkauf von Canabis-Produkten schon gar nicht anwendbar.
„[…] Daraus folgt, dass Betäubungsmittel außerhalb des von den zuständigen Stellen streng überwachten Handels zur Verwendung für medizinische und wissenschaftliche Zwecke bereits ihrem Wesen nach unter ein Einfuhr‑ und Verkehrsverbot fallen. […] Der Umstand, dass der eine oder andere Mitgliedstaat ein Betäubungsmittel als weiche Droge einstuft, vermag daran nichts zu ändern. Da die Einführung von Betäubungsmitteln außerhalb eines solchen streng überwachten Handels in den Wirtschafts‑ und Handelsverkehr der Union verboten ist, kann sich der Inhaber eines Coffeeshops hinsichtlich des Verkaufs von Cannabis nicht auf die Verkehrsfreiheiten oder das Diskriminierungsverbot berufen, um sich gegen eine kommunale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche zu wehren.“ (Rn. 41 f. des Urteils, abrufbar hier)
Anders war die Rechtslage natürlich im Hinblick auf die in Coffeeshops angebotenen Speisen und Getränke. „Auf eine Frage des Gerichtshofs hat die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass diese Tätigkeit in der Regel zwischen 2,5 % und 7,1 % des Umsatzes der Coffeeshops in der Gemeinde Maastricht ausmache.“ – Immerhin!
Es galt also zunächst festzustellen, welche grundfreiheit einschlägig ist. Der EuGH gab hier der Dienstleistungfreiheit den Vorrang. Diese überwiege bei der Bewirtung etc. ganz klar die Warenverkehrsfreiheit. Gestreich hierzu auch der Gedankengang der Kommission: „Die Kommission bezweifelt, dass Gebietsfremde sie in der Absicht kauften, sie in ihren Wohnsitzstaat auszuführen.“ Das hat die Kommission natürlich richtig erkannt; der Espresso wird vor Ort getrunken, das Gras wird mit nach Deutschland genommen. Daher: Dienstleistungsfreiheit.
Die Dienstleistungsfreiheit ist nach Ansicht des EuGH hier auch beeinträchtigt. Art. 49 EG (jetzt Art. 56 AUEV) verbiete nicht nur direkte Diskriminierungen, sondern auch mittelbare/“verschleierte“. Zumindest letzteres liege hier vor, da ein Konsumverbot für nicht Ortsansässige natürlich in erster Linie Ausländer betrifft und nicht Holländer.
Diese Beeinträchtigung könnte jedoch gerechtfertigt sein. Der EuGH nimmt an, dass dies hier zur Bekämpfung des Drogentourismus (öffentliche Ordnung) möglich ist:
„Es ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung des Drogentourismus und der damit einhergehenden Belästigungen Teil der Drogenbekämpfung ist. Sie steht im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der Gesundheit der Bürger sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf Unionsebene. In Anbetracht der von der Union und ihren Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen steht es außer Zweifel, dass die oben genannten Ziele ein berechtigtes Interesse darstellen, das eine Beschränkung der Pflichten, die sich aus dem Unionsrecht, sogar aus einer Grundfreiheit wie der Dienstleistungsfreiheit ergeben, grundsätzlich rechtfertigen kann.“ (Rn. 65 f.)
Im Anschluss prüft der EuGH die Verhältnismäßigkeit der Regelung. Insofern verweist der EuGH auf seine Leitentscheidung Omega (Laserdrome). Die Maßnahme sei hier in jedem Fall geeignet, den Drogentourismus einzuschränken. Im Hinblick auf mildere Maßnahmen gäbe es zwar andere Möglichkeiten, aber diese habe man ebenfalls ausprobiert und sie seinen weniger effizient. Insegsamt ist der EuGH hier sehr großzügig: „Den Mitgliedstaaten kann aber nicht die Möglichkeit abgesprochen werden, das Ziel der Bekämpfung des Drogentourismus und der damit einhergehenden Belästigungen durch die Einführung allgemeiner Vorschriften zu verfolgen, die von den zuständigen Behörden einfach gehandhabt und kontrolliert werden können.“ (Rn. 82)
Dies ist im Einklang mit früherer Rechtsprechung, insbesondere Omega. Der EuGH ist bei sensiblen Bereichen wie Fragen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht sehr streng und lässt den Mitgliedsstaaten Spielraum.
Bemerkenswert ist, dass der EuGH hier die Rechtfertigung nicht ausdrücklich an einem bestimmten Tatbestand festmacht (etwa Art. 62 AEUV iVm Art. 52 Abs. 1 AEUV). Er sagt einfach, dass Drogenbekämpfung ein legitimes Ziel sei. Der Unterschied zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen und den zwingenden Erfordernissen im Sinne der Cassis-Rechtsprechung verwischt damit immer mehr. Die Dogmatik entspricht damit immer mehr dem nationalen Verfassungsrecht.
Sonstige Vorschriften
Zur Anwendbarkeit von Art. 12 EG, der ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält, stellte der EuGH fest, dass diese Bestimmung als eigenständige Grundlage nur auf unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen angewendet werden kann, für die der EG-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht. Da das Diskriminierungsverbot im Bereich der Dienstleistungsfreiheit durch Art. 49 EG konkretisiert worden sei, finde Art. 12 EG unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens keine Anwendung. Ähnliche Überlegungen würden für Art. 18 EG gelten. Art. 18 EG, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, finde eine besondere Ausprägung in den Bestimmungen, die die Dienstleistungsfreiheit gewährleisten.
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Heute hat das BVerfG in der Sache „Honeywell“ über das Mangold-Urteil des EuGH entschieden (v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06). Der erwartete „Machtkampf“ (spiegel.de vom 26.8.2010) zwischen BVerfG und EuGH ist ausgeblieben. Damit wird ein weiterer wichtiger Eckpunkt in der Positionsbestimmung zwischen BVerfG und EuGH um die Hoheit über die europäische Integration gesetzt.
I. Was war das Besondere an Mangold?
In der Rs. Mangold (EuGH v. 22. 11. 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 = NZA 2005, 1345) entschied der EuGH, dass das europäische Diskriminierungsrecht einer nationalen Regelung nach der der Abschluss befristeter Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet haben, uneingeschränkt zulässig ist, sofern nicht zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht, entgegensteht.
Eine solche Regelung sah § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG a.F. vor. Dass diese durch die Entscheidung des EuGH für mit Europarecht nicht vereinbar erklärt wurde, war vorher erwartet worden. In der ausgesprochenen Rechtsfolge allerdings wich das Urteil – für viele zunächst überraschend – von der Erwartung der Beobachter ab: In der Literatur hielt man die Europarechtswidrigkeit des § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG zunächst für folgenlos. Der Verstoß gegen die europäische Diskriminierungsrichtline 2000/78/EG war eben nur ein Richtlinienverstoß. Da Richtlinen nicht unmittelbar im nationalen Recht anwendbar sind, bleiben gegen die verstoßende nationale Normen nach ganz h.M. anwendbar.
Der EuGH dagegen erklärte § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG für unanwendbar. War dies die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien? Nein, war es nicht: Der EuGH stütze den Anwendungsvorrang des Europarechts nicht auf das (sekundäre) Richtlinienrecht, sondern auf Primärrecht. Das Europrecht enthalte einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der Diskriminierungen (auch) wegen des Alters verbiete, vergleichbar dem deutschen Art. 3 Abs. 1 GG. Wegen des Verstoßes gegen dieses (primärrechtlichen) „Gemeinschaftsgrundrechts“ sei § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG unanwendbar. Dieser „Art. 3 Abs. 1 GG“ des Gemeinschaftsrechts hatte der EuGH entsprechend seinem Auftrag, Gemeinschaftsgrundrechte zu entwicklen, aus der Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten, der damaligen EuGRC und aus der EGMR entwickelt. Inzwischen ist das Diskriminierungsverbot gem. Art. 21 Abs. 1 EuGRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV ohnehin geltendes Rechts.
Interessant ist jedoch auch, wie der EuGH durch die Anwendung dieses primärrechtlichen Grundsatz zur Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 S. 4 TzBFG alte Fassung kam. Man kann nämlich europäische Primärrechte nicht beliebig gegen nationales Recht in Stellung bringen:
Dieses primärrechtliche Diskriminierungsverbot gilt nämlich nur im Anwendungsbereich des Europarechts, nicht aber im gesamten nationalen Recht. Unionsrecht und nationales Recht verhalten sich wie zwei Kreise, die sich in einem Teilbereich überschneiden, im Übrigen aber nebeneinander liegen. Der Anwendungsbereich des Europarechts ist jedoch weit: Erfasst ist selbstverständlich das primäre und sekundäre Europarecht selbst sowie die Handlungen der europäischen Organe. Ferner fallen auch bestimmte nationale Regelungen in den Anwendungsbereich des Europarechts, nämlich solche, die der Durchführung des Europarechts dienen, vgl. jetzt Art. 51 Abs. 1 EuGRC. Insofern sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden. Zunächst ist der Vollzug von Europarecht durch die Mitgliedsstaaten einschließlich der Umsetzung von europäischen Richtlinien vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst. Die Argumentationslinie dieser mit der Wachauf-Entscheidung begründeten Rechtsprechung ist, dass dort der Mitgliedsstaat sozusagen als Stellvertreter für die Europäische Union handelt („agency-Situation“), er ist verlängerter Arm des europäischen Gesetzgebers und als solcher eben auch an die europäischen Grundrechte gebunden. Durch die Verlagerung von Vollzug oder Rechtssetzung auf die Ebene der Mitgliedsstaaten soll der Schutz durch die europäischen Grundrechte nicht verkürzt werden.
In der ERT-Entscheidung wurden ferner nationale Normen, die Grundfreiheiten beeinträchtigten, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts einbezogen (vgl. insgesamt ausführlich Pötters/Traut ZESAR 2010, 265, 267f.).
Vorliegend lag in dem § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG zwar ein Verstoß gegen die Diskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG. Da deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war und es sich nicht um einen „vorgreifenden“ Umsetzungsakt dieser Richtlinie handelt, konnte sie den Anwendungsbereich im Rahmen der „agency“ Konstellation noch nicht eröffnen. Jedoch lag § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG nach Ansicht des EuGH im Anwendungsbereich einer anderern Richtlinien, nämlich der „Teilzeit- und Befristungsrichtlinie“ 1999/70/EG. Auf Grund dieser fiel die Norm in den Anwendungsbereich des Unionsrechts – und damit war auch das primärrechtliche Diskriminierungsverbot anwendbar. Dass der EuGH die Befristungs-Richtlinie 1999/70/EG verwandte, um den Anwendungsbereich des Europarechts zu begründen, war überraschend, aber richtig: Selbstverständlich entbindet die Umsetzung einer Richtlinie nicht davon, bestimmte Grundrechte einzuhalten, auch wenn diese in einer völlig anderen Richtlinie konkretisiert werden. Es käme ja auch niemand auf die Idee zu behaupten, dass man als nationaler Gesetzgeber bei der Schaffung von Arbeitsrecht nicht an
die Rundfunkfreiheit gebunden wäre, sondern nur an „thematisch passende“ Grundrechte (auch dazu Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 271f.)
II. Warum ist das problematisch?
In der Literatur stieß das Urteil auf große Kritik. Die wichtigsten Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen (Rn. 71):
- Die Schaffung eines primärrechtlichen Diskriminierungsverbotes im Hinblick auf das Merkmal des Alters sei von vornherein nicht von den Verträgen gedeckt.
- Es sei unzulässig, die über die Teilzeit und Befristungsrichtlinie den Anwendungsbereich des primärrechtlichen Gleichbehandlungsgebotes auf § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG a.F. zu erstrecken.
- Dadurch, dass eine Richtlinie ohne Umsetzungsakt zur unmittelbaren Anwendbarkeit der primärrechtlichen Unionsgrundrechte führe, werde die Wertung des Art. 288 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 249 Abs. 3 EGV) umgangen.
Besonders laut und prominent war die Kritik von Gerken / Rieble / Roth / Stein / Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt. 2009. Für sie wurde durch die genannten Verstöße gegen die europäischen Verträge Mangold zum ausbrechenden Rechtsakt, der – im Lissabon Urteil des BVerfG (v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08 u.a., BVerfGE 123, 267) noch einmal bestätigt – vor dem BVerfG im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (zumindest, wenn man selbst von den Auswirkungen des Urteils unmittelbar betroffen ist.)
III. BVerfG: Mangold kein ausbrechender Rechtsakt
Der Kritik hat das BVerfG jedoch eine Absage erteilt. Das BVerfG hat in dem Mangold Urteil keinen ausbrechenden Rechtsakt gesehen.
1. Prüfungsmaßstab
In der Entscheidung hat es zunächst den anzuwendenen Prüfungsmaßstab konkretisiert:
Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, ist mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV).
Es ist Aufgabe des EuGH, das Unionsrecht verbindlich auszulegen. Da dies in den Verträgen und damit auch im deutschen Zustimmungsgesetz vorgesehen ist, muss diese Entscheidung auch das BVerfG beachten. Diese Aufgabenzuweisung, gibt dem EuGH einen Spielraum, die richtige Auslegung des Europrechts festzulegen. Ein ausbrechender Rechtsakt liegt demnach nicht schon dann vor, wenn der EuGH aus mehreren Auslegungsmöglichkeiten „die falsche“ aussucht, sondern erst, wenn er sich nicht mehr im Rahmen seines Auslegungsauftrage hält. Das wird man erst annehmen können, wenn das Ergebnis unvertretbar ist (s. dazu Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267ff.).
„Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen[…].“ (Rn. 60)
„Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind (vgl. BVerfGE 123, 267 <353, 400>). Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist (vgl. zur Formulierung „hinreichend qualifiziert“ als Tatbestandsmerkmal im unionsrechtlichen Haftungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003, Rs. C-472/00 P, Fresh Marine, Slg. 2003, S. I-7541 Rn. 26 f.). Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt […]“ (Rn. 61)
Das BVerfG kann also nur schwerwiegende Verstöße überprüfen. Rechtsfortbildung ist zulässig:
„Der Auftrag, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV), beschränkt den Gerichtshof nicht darauf, über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu wachen. Dem Gerichtshof ist auch die Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung nicht verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Befugnis stets ausdrücklich anerkannt[…].“ (Rn. 62)
Zusammenfassend stellt das BVerfG fest:
„Soll das supranationale Integrationsprinzip nicht Schaden nehmen, muss die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend ausgeübt werden. Da es in jedem Fall einer Ultra-vires-Rüge auch über eine Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu befinden hat, sind Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung zu wahren. Dies bedeutet zum einen, dass die unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der „Eigenart“ der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen (vgl. EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079 Rn. 51), zu respektieren sind. Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.“ (Rn. 66)
Insgesamt muss die Ultra-vires-Kontrolle also „europarechtsfreundlich“ ausgeübt werden (bereits Rn. 58).
Zu prüfen ist nach dem BVerfG folgendes:
Ein ausbrechender Rechtsakt ist anzunehmen wenn:
- Offensichtlich kompetzenwidriges Handeln der Union (Es ist sinnvoll, hier direkt die offensichtliche Kompetenzwirdigkeit zu prüfen, weil alles andere Angesichts der Auslegungshoheit des EuGH wohl nicht kompetenzwidrig wäre. Die Feinjustierung ist eben dem EuGH überlassen.)
- Ausreichende Schwere (Der angegriffene Akt muss im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fallen)
2. Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts durch TzBfG Richtlinie
Dass Richtlinien den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit auch die Anwendbarkeit der allgemeinen Rechsgrundsätze begründen können, ist europarechtlich anerkannt. Auch im konkreten Fall war zulässig, die Norm, die erst nach der eigentlich Umsetzung der Richtlinie geschaffen wurde, in den Anwendungsbereich einzubeziehen – und hier erfolgt wieder der Verweis auf die Systematik des Europarechts und seiner Entwicklung durch den EuGH („Binnenlogik“):
„“Entscheidende Erwägung, die aus der Binnenlogik des Unionsrechts heraus nicht vollständig zurückgewiesen werden kann, ist jedoch die sachliche Reichweite der Richtlinie 1999/70/EG, insbesondere deren Verschlechterungsverbot (§ 8 Abs. 3 der Richtlinie 1999/70/EG). Sie ist das maßgebende Argument, nicht die jeweilige Zielsetzung des nationalen Gesetzgebers.“ (Rn. 74)
3. Schaffung eine Verbots der Altersdiskriminierung
Auch die Schaffung eines Verbotes der Altersdiskriminierung stellt nach Ansicht des BVerfG keinen ausbrechenden Rechtsakt dar. Es verweist darauf, dass die Mitgliedsstaaten entsprechender sekundärrechtlicher Rechtsetzung bereits zugestimmt hatten. Damit liegt kein schwerere Beeinträchtigung mitgliedsstaatlicher Kompetenzen mehr vor, da sie der Union in diesem Bereich ohnehin Kompetenzen verschafft haben:
„Hier liegt der Fall jedoch anders, weil die an der auf Art. 13 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV) gestützten Rechtsetzung beteiligten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters im Rat – und nicht Richter im Zuge der Rechtsfortbildung – den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragsrechtliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet haben[…]“. (Rn. 79)
Für die Zukunft ist die Frage ohnhin geklärt – das Verbot ist nun in Art. 21 Abs. 1 EuGRC normiert.
4. Vorwirkung von Richtlinien
Als fragwürdig wurde schließlich betrachtet, dass der EuGH über das primärrechtliche Diskriminierungsverbot bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Diskriminierungsrichtlinie eine praktische „Bindung“ an die Richtlinie bewirkt hat. Von manchen wurde argumentiert, dies verstoße gegen den Grundsatz, dass Richtlinien kein unmittelbare Wirkung zukomme und verkürze außerdem den Umsetzungsspielraum der Mitgliedsstaaten unzulässig (vgl. Rn. 75f). Auch diese Bedenken teilt das BVerfG nicht. Insbesondere stützt es sich auch hier auf die lange entwickelte Rechtsprechung des EuGH:
„Mit der in der Mangold-Entscheidung angenommenen Vorwirkung von Richtlinien schafft der Gerichtshof eine weitere Fallgruppe für die sogenannte „negative“ Wirkung von Richtlinien. Diese dient wie die Rechtsprechung zur „negativen“ Wirkung von Richtlinien insgesamt lediglich der Effektuierung bestehender Rechtspflichten der Mitgliedstaaten, schafft aber keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten.“ (Rn. 77)
Auch hierin ist dem BVerfG zuzustimmen. Von einer generellen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien kann keine Rede sein. Es handelt sich um den singulären Fall, dass die Richtinie ein Gebot des Primärrechts konkretisiert. Dies ist allgemein nicht der Fall. Auch die Argumentation mit der Umsetzungsfrist kann nicht überzeugen. Wie das BVerfG richtig dargelegt hat, wird nur die Freiheit der Mitgliedsstaaten, gegen bestehendes Recht zu verstoßen, eingeschränkt. Das kann nicht schutzwürdig sein (s. schon Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 272f.)
5. Sonstiges
Auch die Verneinung von Vertrauensschutz ist nicht verfassungswidrig:
„Die Beschwerdeführerin ist auch nicht dadurch in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, dass das angegriffene Urteil keinen Vertrauensschutz gewährt hat.“ (Rn. 80).
Ferner bestand für das BAG kein Anlass, in diesem Punkt eine Vorlageentscheidung des EuGH nach Art. 267 AEU einzuholen:
„Das Bundesarbeitsgericht hätte insbesondere nicht wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vorabentscheidung herbeiführen müssen. Unter der Annahme, dass der Gerichtshof die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG in der Mangold-Entscheidung mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt habe und die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht erfüllt seien, sah das Bundesarbeitsgericht sich nicht als verpflichtet an, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen. Dies stellt ein vertretbares Ergebnis dar. Die Gegenauffassung der Beschwerdeführerin, dass der Gerichtshof die Frage des rückwirkenden Vertrauensschutzes in der Rechtssache Mangold offen gelassen habe und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Begrenzung von Entscheidungswirkungen sich nicht auf die vorliegende Fallgestaltung beziehe, ist der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht eindeutig vorzuziehen. Das Bundesarbeitsgericht durfte vielmehr davon ausgehen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nach der Mangold-Entscheidung unangewendet bleiben musste.“
IV. Einordnung
„Knallen jetzt in Luxemburg die Sektkorken?“ (Müller, „Karlsruhe hält sich zurück“, FAZ v. 27.8.2010, S. 2) In der Presse wird das Urteil kritisch aufgenommen; der Eindruck herrscht vor, nach dem „Aufplustern“ des Lissabon Urteils folgte jetzt ein kleinlautes Tönchen (Müller, „Kleinlaut“, FAZ v. 27.8.2010, S 1), für manche ist das Urteil sogar der Abschied vom Lissabon Urteil (Stein, zitiert bei Müller, „Karlsruhe hält sich zurück“, FAZ v. 27.8.2010, S. 2).
Diese Wertung ist nach Ansicht des Verfassers unzutreffend und die hier getroffene Entscheidung zwingend. Das „Auslegungsmonopol“ ist in den Verträgen angelegt und deshalb vom BVerfG zu beachten, da es über die Verträge auch Teil des deutschen Zustimmungsgesetzes ist (s. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 269f.) Von einem „Einknicken“ durch die Reduzierung des Prüfungsmaßstabes kann also keine Rede sein. Dieser folgt aus rein nationalem Recht, nämlich den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen.
Auch inhaltlich ist die Kritik am Mangold-Urteil nach hiesiger Ansicht überzogen: Bei genauerer Analyse der europäischen Rechtsprechung war das Mangold-Urteil konsequent und in Rechtsprechungslinien seit den 90er Jahren angelegt (vgl. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, insb. 270ff). Deshalb stellt es eine zumindest gut vertretbareAuslegung des Europarechts dar und schon deshalb keinen ausbrechenden Rechtsakt.
Wer bereits die bisherigen richterrechtlichen Entwicklungen, mit denen der EuGH Stück für Stück den Anwendungsbereich des Europarechts ausgedehnt und die Sanktionsmechanismen verschärft hat, kritisiert, dem ist entgegenzuhalten, dass diese Entwicklungen zumindest stillschweigend mit den jeweiligen Zustimmungsgesetzen gebilligt wurden. Sonst könnte man beispielsweise auch heute noch die unmittelbare Wirkung von Grundfreiheiten angesichts des seit 1957 nahezu unveränderten Wortlauts der Verträge, der eigentlich nur die Mitgliedsstaaten adressiert, anzweifeln. Auch ungeschriebene Grundsätze wie etwa der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch (Rs. Francovich) oder die Grundrechte des Unionsrechts wurden ohne eindeutige Anhaltspunkte im Wortlaut der Verträge Teil des acquis communautaire, ohne dass dieser Entwicklung durch die Mitgliedsstaaten Einhalt geboten worden wäre. Die Mitgliedstaaten hätten bei jeder Vertragsänderung die Möglichkeit gehabt, dieser progressiven Rechtsprechung einen Riegel vorzuschieben (vgl. Pötters/Traut, ZESAR 2010, 265, 271).
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute den § 622 Abs. 2 S. 2 BGB für europarechtswidrig und damit unwirksam erklärt. Die Bestimmung sieht vor, dass Beschäftigungszeiten vor dem 25. Lebensjahr nicht auf die jeweilige Kündigungsfrist angerechnet werden. § 622 Abs. 2 S. 2 BG verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 und ist vom nationalen Gericht auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten erforderlichenfalls unangewendet zu lassen.
Das als Berufungsgericht angerufene Landesarbeitsgericht Düsseldorf hatte den Gerichtshof zur Vereinbarkeit einer solchen Kündigungsregelung mit dem Unionsrecht und zu den Folgen einer etwaigen Unvereinbarkeit befragt.
Sachverhalt
Eine Arbeitnehmerin war seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr bei einer Essener Firma angestellt. Im Alter von 28 Jahren wurde sie unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat entlassen. Der Arbeitgeber berechnete die Kündigungsfrist unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von drei Jahren, obwohl die Arbeitnehmerin seit zehn Jahren bei ihm beschäftigt war. Die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs liegenden Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist hatte er nicht berücksichtigt, vgl. § 622 Abs. 2 S. 2 BGB. Die Arbeitnehmerin klagte gegen ihre Entlassung und machte geltend, dass diese Regelung eine unionsrechtlich verbotene Diskriminierung wegen des Alters darstelle. Die Kündigungsfrist hätte 4 Monate betragen müssen, was einer Betriebszugehörigkeit von 10 Jahren entspreche.
Entscheidung
Der Gerichtshof stellte fest, dass diese Kündigungsregelung eine Ungleichbehandlung enthalte, die auf dem Kriterium des Alters beruhe. Sie behandle somit Personen, die die gleiche Betriebszugehörigkeitsdauer aufweisen, unterschiedlich, je nachdem, in welchem Alter sie in den Betrieb eingetreten seien. Die Richter verwiesen darauf, dass eine auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung nur dann zulässig sei, wenn sie durch ein legitimes Ziel aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung gerechtfertigt sei. Außerdem müssten die Mittel zur Erreichung des Ziels „angemessen und erforderlich“ sein. Diese Ungleichbehandlung könne auch nicht durch die gewünschte personalwirtschaftliche Flexibilität des Arbeitgebers oder die größere berufliche und persönliche Mobilität von jungen Arbeitnehmern gerechtfertigt werden.
Examensrelevanz
Die heutige Entscheidung des EuGH eignet sich vielleicht noch nicht für die schriftlichen Examensklausuren, auf Grund seiner Aktualität jedoch für das Prüfungsgespräch in der mündlichen Prüfung. Die Rechtsgebiete Arbeitsrecht und Europarecht (hier insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren) sollten deshalb nicht vernachlässigt werden. Zudem empfiehlt es sich, auch einmal in die Mangold-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2005 reinzuschauen. Einen sehr guten Artikel dazu findet Ihr in der NJW 2006, Heft 1/2, Seite 6.
Quelle: Pressemitteilung des EuGH vom 19.01.2010
Urteil des EuGH vom 19.01.2010 (Rechtssache C-555/07).