Vor kurzem ist eine examensrelevante Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen, die jetzt veröffentlicht wurde (BVerfG 1 BvR 142/05 – Urteil vom 08.03.2011). Es geht um die Frage, wann die Polizei, trotz erfolgter Identitätsfeststellung vor Ort, Verdächtige einer Straftat zur Anfertigung von Lichtbildern auf die Polizeistation mitnehmen und dort für mehrere Stunden festhalten darf. Konkret geht es um die Verletzung von Art. 2 Abs.2 GG, sowie Art. 104 Abs.2 GG.
Sachverhalt
B ist Mitglied der sog. „Bauwagenszene“ in der Stadt H. B und ca. 100 weitere Personen hatten sich am 27. September 2003 dazu entschlossen, ihre Bauwagen auf einem Grundstück ohne entsprechende Erlaubnis oder Billigung des Eigentümers abzustellen und dort dauerhaft zu leben. Die Gruppe hatte bereits mit der Stadt H über das Grundstück als Abstellort verhandelt, was bis zu diesem Zeitpunkt jedoch ergebnislos geblieben war.
Noch gegen Abend des gleichen Tages wurde das Grundstück von der Polizei, die von den Vorgängen Kenntnis erlangt hatte, umstellt und die Gruppe um B am Verlassen des Platzes gehindert. Wegen Verdachts des Hausfriedensbruchs (ein entsprechender Strafantrag seitens des Berechtigten war bereits gestellt worden), wurde die Identität aller anwesenden Personen festgestellt. Alle Personen konnten sich dabei ordnungsgemäß und vollständig ausweisen.
Daraufhin wurde der Gruppe per Megaphon durch die Polizei mitgeteilt, dass alle Personen wegen Verdachts des Hausfriedensbruchs vorläufig festgenommen seien. B berichtet wahrheitsgemäß, dass er im Folgenden – so wie alle anderen Beteiligten – auf eine Polizeiwache gebracht wurde, wo er etwa fünf Stunden in einer Zelle verbrachte. Erst nachdem er gegen 3:00 Uhr zum Polizeipräsidium gebracht worden war, wo er eine weitere Stunde in einer Zelle zubringen musste, wurden zwei Lichtbilder angefertigt. Hiernach ließ man B gehen.
In der Folge klagte B auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen vor dem zuständigen Gericht. Seine Beschwerde wird letztinstanzlich als unbegründet abgewiesen. Es habe sich ersichtlich nicht um eine vorläufige Festnahme nach § 127 Abs.2 StPO gehandelt. Vielmehr habe es die Identitätsfeststellung erfordert, B nach § 163b StPO festzuhalten und gemäß § 81b StPO erkennungsdienstlich zu behandeln. B wendet sich in seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts und macht die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs.2, und Art. 104 Abs.1 und 2 GG geltend.
Schutzbereich von Art. 2 Abs.2 GG eröffnet
Das BVerfG sieht den Schutzbereich von Art. 2 Abs.2 GG im vorliegenden Fall als eröffnet.
Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Eine Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung ist nur dann gegeben, wenn die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird.
B hat durch das „Einsperren“ durch die Polizei seine körperliche Bewegungsfreiheit in jeder Hinsicht verloren.
Schwierigkeiten der Identitätsfeststellung müssen tatsächlich „erheblich“ sein
Das BVerfG macht deutlich, dass das Merkmal der „erheblichen Schwierigkeiten“ § 163b Abs.1 S.2 StPO restriktiv auszulegen ist. Diese Betrachtung trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Norm um eine Konkretisierung der Verhältnismäßigkeitsgebots handelt und die persönliche Freiheit nur in Ausnahmefällen zugunsten einer staatlichen Maßnahme eingeschränkt werden darf.
Die Vorschrift des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur Identitätsfeststellung nur zu, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Die Vorschrift stellt insofern eine gesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots dar und soll sicherstellen, dass ein Eingriff in die persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur Feststellung der Identität unerlässlich ist. Ein solcher Fall lag hier nicht vor. § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO ermächtigt Polizeibeamte, gegenüber einem Verdächtigen die notwendigen Maßnahmen zur Identitätsfeststellung zu treffen, also den Betreffenden nach seinen Personalien zu befragen und diesen aufzufordern, mitgeführte Ausweisdokumente auszuhändigen. Nur dann, wenn die Identität des Betreffenden auch unter Ausschöpfung dieser Maßnahmen nicht mit der erforderlichen Sicherheit geklärt werden kann oder dies mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, kommt ein weiteres Festhalten nach Satz 2 in Betracht. Ein weiterer Eingriff in das Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf also nur dann erfolgen, wenn die Polizei auf der Basis der bereits bekannten Daten berechtigte Zweifel an der Identität der Person hat. Hiervon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hat sich gegenüber der Polizei vor Ort mit einem Reisepass samt Meldebestätigung ausgewiesen. Diese amtlichen Dokumente sind zur Feststellung der Identität geeignet. Anhaltspunkte dafür, dass der Pass des Beschwerdeführers gefälscht war oder seine Person nicht mit dem Passinhaber übereinstimmte, etwa, weil das Foto keine oder nur geringe Ähnlichkeit mit ihm aufwies, sind weder von der Polizei noch vom Landgericht benannt worden, noch sind sie ansonsten ersichtlich. Daher ist – insbesondere im Hinblick auf das verfassungsrechtlich fundierte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bloßer Identitätsfeststellung und weiterem Festhalten – davon auszugehen, dass es den Polizeibeamten möglich war, die Identität aufgrund des vorgelegten Reisepasses vor Ort hinreichend sicher festzustellen. Ein Festhalten aus reinen Praktikabilitätserwägungen vermag schon die Erforderlichkeit der Maßnahme nicht zu begründen und dürfte im Übrigen auch auf die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer derartigen Maßnahme keinen Einfluss haben.
Zeitraum bis zur Anfertigung der Lichtbilder zu lang
Bezüglich der Frage, ob § 81b Alt.2 StPO hier anwendbar war, stellt sich die Frage, wie lange die angeordnete Maßnahme dauern darf. Ausgangspunkt ist auch hier wieder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch wenn die Anfertigung der Lichtbilder tatsächlich gerechtfertigt war, muss trotzdem die zeitliche Komponente beachtet werden. Es darf nicht auf einem „Umweg“ zu einer Freiheitsentziehung kommen, indem der Betroffene übermäßig lange auf die erkennungsdienstliche Behandlung warten muss.
Auch ein Festhalten des Beschwerdeführers auf der Grundlage des § 81b Alt. 2 StPO war jedenfalls unverhältnismäßig, denn es verkannte die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Insoweit ist zwischen der Anordnung der Maßnahme und der Durchführung zu unterscheiden. Selbst wenn man in Bezug auf die Anordnung der Maßnahme mit dem Landgericht davon ausgeht, dass trotz eindeutig festgestellter Identität des Beschwerdeführers und aller anderen Personen die Erinnerung der einzelnen Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet gewesen wäre und es als Erinnerungsstütze noch ein Bedürfnis an weiteren im Strafprozess zu verwertenden Beweismitteln gab, rechtfertigt dies für die Durchführung jedenfalls nicht ein stundenlanges Festhalten und Einsperren des Beschwerdeführers auf verschiedenen Polizeiwachen. Die Gerichte verkennen die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips, dass in der Formulierung „soweit (…) notwendig“ in § 81b StPO seinen Niederschlag auch in der einfachgesetzlichen Regelung gefunden hat. Sie haben insoweit nicht ausgeführt, dass ein stundenlanges Festhalten des Beschwerdeführers für das Anfertigen der Lichtbilder des Beschwerdeführers notwendig war. Zwar kann die Masse der zu bearbeitenden Fälle eine zeitliche Verzögerung rechtfertigen, jedoch fehlt es an Ausführungen zum Vorliegen von Erschwernissen solchen Ausmaßes. Allerdings ist die Polizei als Strafverfolgungsbehörde – soweit nicht ein genereller entsprechender Bedarf besteht – nicht gezwungen, Personal und Material für erkennungsdienstliche Maßnahmen in solchem Maß vorzuhalten, dass eine Bearbeitung in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe erfolgen kann. Vielmehr kann es durchaus verhältnismäßig sein, derartige spezielle Ressourcen insbesondere räumlich zusammenzufassen. Eine Verbringung an diesen Ort und eine organisatorisch nicht zu vermeidende und gemäßigte Wartefrist können jedenfalls bei hinreichend gewichtigen Straftaten angemessene Eingriffe im Verhältnis zur Bedeutung des staatlichen Strafanspruches sein. Ein solcher Fall liegt aber auf der Basis des festgestellten Sachverhalts nicht vor. Der Beschwerdeführer ist nach mehreren Stunden ausschließlich in der Art erkennungsdienstlich behandelt worden, dass von ihm zwei einfache Fotos angefertigt wurden.[…] Insofern stellt sich die erkennungsdienstliche Behandlung als die Anfertigung von einfachen, alltäglichen Fotoaufnahmen dar. Für die Annahme der Erforderlichkeit in diesem Fall hätte es einer genaueren Auseinandersetzung mit anderen Möglichkeiten bedurft, zeitlich früher Aufnahmen des Beschwerdeführers in der gleichen Qualität und Machart anzufertigen, die den Zweck des § 81b StPO nicht schlechter erfüllt hätten. Hierbei hätten die Gerichte insbesondere prüfen müssen, ob die Beamten entsprechende Aufnahmen nicht mit einer verfügbaren oder kurzfristig herbeizuschaffenden Kamera auch vor Ort, als die Personen einzeln aus dem Kessel zur Identitätsfeststellung herausgeführt wurden, hätten machen können oder sonst spätestens auf den einzelnen Polizeiwachen.
Freiheitsentziehung nur aufgrund richterlicher Anordnung
Durch die erhebliche Dauer des Festhaltens des B sieht das BVerfG eine Verletzung von Art. 104 Abs.2 GG. Im Gegensatz zu einer bloßen vorübergehenden Freiheitsbeschränkung ist an die Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung ein höherer Maßstab anzulegen. Da es sich um eine völlige Beseitigung der Bewegungsfreiheit des Betroffenen handelt und damit ein besonders schwerer Eingriff erfolgt, ist in der Regel eine richterliche Anordnung erforderlich.
Das Einsperren des Beschwerdeführers in eine Gewahrsamszelle auf der Polizeiwache beziehungsweise auf dem Polizeipräsidium sowie als Verbindungsglied zwischen beiden das Verbringen dorthin mittels Polizeifahrzeugen stellen eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG und nicht lediglich eine Freiheitsbeschränkung dar. Während eine Freiheitsbeschränkung schon dann anzunehmen ist, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist, liegt eine Freiheitsentziehung erst dann vor, wenn die tatsächlich und rechtlich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin aufgehoben wird. Die Freiheitsentziehung ist der schwerste Fall der Freiheitsbeschränkung. Beide Begriffe sind entsprechend ihrer Intensität abzugrenzen. Jedenfalls muss die Unterbringung einer Person gegen ihren Willen in einem Haftraum als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG angesehen werden. Nur kurzfristige Aufhebungen der Bewegungsfreiheit stellen dagegen keine Freiheitsentziehung dar. Nach Art. 104 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG ist die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung allein dem Richter vorbehalten, wobei bei nicht vorgelagerter richterlicher Entscheidung diese unverzüglich nach Beginn der Freiheitsentziehung zu bewirken ist.
Eine entsprechende richterliche Entscheidung ist nicht eingeholt worden. Diese wäre im Fall notwendig gewesen, da die Lichtbilder nicht umgehend nach Eintreffen auf der Polizeiwache angefertigt wurden, sondern erst Stunden später.
[…] Das Festhalten des Beschwerdeführers in Gewahrsamszellen auf der Polizeiwache und im Polizeipräsidium sowie die jeweilige Verbringung dahin stellen eine vollständige Aufhebung seiner Bewegungsfreiheit dar. Dabei stellt der Einschluss in Zellen den typischen Fall der hoheitlichen Freiheitsentziehung dar, den das Grundgesetz unter die besonderen Voraussetzungen des Art. 104 Abs. 2 GG stellen wollte. Anders als im Regelfall von § 81b StPO wurde der Beschwerdeführer nicht allein zur Dienststelle verbracht und im Weiteren umgehend erkennungsdienstlich behandelt, sondern über eine Dauer von mehreren Stunden allein verwahrt für eine nachfolgende erkennungsdienstliche Behandlung. […] Insbesondere ist die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung nicht nur als kurzfristig anzusehen, denn sie umfasst jedenfalls einen Zeitraum, der nicht mehr unbedeutend ist. Die Gerichte haben damit die Auswirkungen des Festhaltens des Beschwerdeführers in tatsächlicher und in der Folge auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht verkannt und sich nicht mit den Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG auseinandergesetzt.
Fazit
Die Verfassungsbeschwerde des B ist damit begründet. Der Fall lässt sich in einer Klausur mittels sauberer Auslegung der einschlägigen Normen der StPO und der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in den Griff bekommen. Wichtig ist, die verschiedenen Maßnahmen der Polizei getrennt zu betrachten (Identitätsfeststellung vor Ort, Festhalten auf der Polizeiwache zwecks Lichtbildanfertigung). Der Unterschied zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung i.R.v. Art. 104 Abs.2 GG und im Polizeirecht sollte bekannt sein.