Wer das juristische Studium erfolgreich absolvieren will, muss Zusammenhänge verstehen und auch für Unbekanntes praktikable Lösungsansätze entwickeln können. Bloßes Auswendiglernen führt nicht zum Ziel. Trotzdem gilt, dass einige wesentliche Begrifflichkeiten in fast jedem Rechtsgebiet bekannt sein sollten – nicht zuletzt, um in der Klausur wertvolle Zeit einzusparen. Der Grundrechtskatalog umfasst eine überschaubare Anzahl an Begriffen, die jeder ambitionierte Student und Examenskandidat im Handumdrehen definieren können sollte. Die nachstehende Auflistung enthält diejenigen Definitionen, die für die Grundrechtsklausur notwendig sind. Wer diese beherrscht, ist für den Ernstfall bestens gewappnet:
(1) Eingriff
Nach dem sog. klassischen Eingriffsverständnis ist ein Eingriff jeder staatliche Akt, der final und unmittelbar die Rechtssphäre des Bürgers verkürzt und mit Befehl und Zwang durchsetzbar ist. Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff ist ein Eingriff bereits jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
(2) Geeignetheit
Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zwecks dienlich bzw. förderlich sein kann.
(3)Erforderlichkeit
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es keine milderen, den Bürger weniger belastende Mittel gibt, die zur Erreichung des verfolgten Zwecks gleich geeignet sind.
(4) Angemessenheit
Angemessen ist eine Maßnahme, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
(5) Verfassungsmäßige Ordnung
Verfassungsmäßige Ordnung i.S.v. Art 2 Abs. 1 GG meint alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Beachte: Der Begriff findet sich auch in Art. 9 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG und hat in diesen Zusammenhängen andere Bedeutung!
(6) Glaube
Die Auffassung über die Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten.
(7) Gewissen
Der Begriff meint jede ernste und sittliche, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientiere Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen diese nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
(8) Wissenschaft
Jeder ernsthafte, auf einem gewissen Kenntnisstand aufbauende Versuch zur Ermittlung der wahren Erkenntnisse durch methodisch geordnetes und kritisch reflektierendes Denken.
(9) Formeller Kunstbegriff
Danach sind Kunst nur solche Tätigkeiten, die einer traditionellen Kunstform zuzuordnen sind (Malerei, Theater, Dichtung etc.).
(10) Materieller Kunstbegriff
Kunst liegt vor, wenn das Werk das geformte Ergebnis einer freien, schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse in einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung bringt und das auf kommunikative Sinnvermittlung nach Außen gerichtet ist.
(11) Offener Kunstbegriff
Ein Kunstwerk liegt vor, wenn das Werk interpretationsfähig und -bedürftig sowie vielfältigen
Interpretationen zugänglich ist.
(12) Meinung
Meinung ist jedes Werturteil, das durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder des Meinens geprägt ist.
(13) Tatsache
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände oder Ereignisse. Der Wahrheitsgehalt der Äußerung steht bei der Tatsachenbehauptung im Vordergrund.
(14) Allgemeine Gesetze
Hierunter fallen alle Gesetze, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Presse und Rundfunk an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, welches in der Rechtsordnung allgemein geschützt wird.
(15) Presse
Der Begriff meint alle Druckerzeugnisse, die unabhängig von der Anzahl ihrer Vervielfältigung zur allgemeinen Verbreitung geeignet und bestimmt sind (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften o.ä.).
(16) Rundfunk
Rundfunk meint jede an eine unbestimmte Vielzahl von Personen gerichtete, drahtlose oder drahtgebundene Übermittlung von Gedankeninhalten im Wege elektrischer Schwingungen.
(17) Enger Versammlungsbegriff
Nach dem engen Versammlungsbegriff, den das BVerfG vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
(18) Erweiterter Versammlungsbegriff
Nach dem erweiterten Versammlungsbegriff bedeutet Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung. Im Gegensatz zum engen Versammlungsbegriff muss die kollektive Meinungsbildung nicht auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet sein.
(19) Weiter Versammlungsbegriff
Nach dem weiten Versammlungsbegriff versteht man unter einer Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen, zwischen denen durch einen gemeinsamen Zweck eine innere Verbindung besteht. Der weite Versammlungsbegriff verzichtet auf das Merkmal der kollektiven Meinungsäußerung und Meinungsbildung und lässt jede Art von Verbundenheit der Teilnehmer ausreichen.
(20) Verein
Verein ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.
(21) Beruf
Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient.
(22) Berufsausübungsregelung
Eine solche liegt vor, wenn der Gesetzgeber eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der Berufswahl nicht zurückwirkt, vielmehr nur bestimmt, in welcher Art und Weise die Berufsangehörigen ihre Berufstätigkeit im Einzelnen zu gestalten haben.
(23) Subjektive Berufswahlregelung
Bei der subjektiven Berufswahlregelung wird auf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen abgestellt, wobei es nicht auf den Einfluss des Betroffenen auf die Eigenschaften ankommt.
(24) Objektive Berufswahlregelung
Bei der objektiven Berufswahlregelung erfolgt die Beschränkung der Berufsfreiheit anhand von objektiven Kriterien, die nicht in der Person des Betroffenen liegen und auf die der Betroffene keinen Einfluss hat.
(25) Freizügigkeit
Freizügigkeit umfasst das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Hierzu gehört die Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Wohnsitznahme und die Freizügigkeit zwischen Ländern, Gemeinden und innerhalb einer Gemeinde.
(26) Wohnung
Der Begriff der Wohnung meint die räumliche Privatsphäre und damit jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens bestimmt. Auch Betriebs- und Geschäftsräume fallen unter den Schutzbereich; wegen des teilweise erheblichen Sozialbezugs von Betriebs- und Geschäftsräumen ist grundsätzlich aber ein im Vergleich zu privaten Wohnräumen geringeres Schutzniveau anzunehmen.
(27) Eigentum
Art. 14 GG ist ein „normgeprägtes Grundrecht“, sodass der Begriff des Eigentums nur schwerlich abschließend definiert werden kann. „Eigentum“ i.S. des GG sind jedenfalls alle vermögenswerten Rechte, die die Rechtsordnung dem Einzelnen dergestalt zuweist, dass dieser ausschließlich über das Recht verfügen kann. Eigentum iSd Art. 14 GG sind alle dinglichen Rechte des Zivilrechts, Ansprüche und Forderungen des privaten Rechts.
(28) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden, zu verstehen.
(29) Enteignung
Enteignung ist die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter, durch Art. 14 GG gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben. Die Enteignung beschränkt sich auf Vorgänge, bei denen Güter hoheitlich beschafft werden.
(30) Mittelbare Drittwirkung
Grundrechte entfalten mittelbar Wirkung in privaten Rechtsbeziehungen, indem Generalklausen und unbestimmte Rechtsbegriffe des Zivilrechts grundrechtskonform ausgelegt und angewendet werden („Ausstrahlungswirkung“).
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Schlagwortarchiv für: Erforderlichkeit
Mit Beschluss vom 17.04.2019 (Az.: 2 StR 363/18) hat der BGH die Anforderungen an die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB präzisiert. Konkret widmete er sich der Frage, ob der sofortige Einsatz eines Messers gegenüber dem Angreifer durch Notwehr gerechtfertigt sein kann oder ob die vorherige Androhung des Gebrauchs als milderes Mittel vorrangig zu wählen ist. Anders als die Vorinstanz ging der BGH davon aus, dass im konkreten Fall gemessen an den Besonderheiten der Kampflage der sofortige Messereinsatz ohne vorherige Androhung gegenüber dem unbewaffneten Angreifer erforderlich sein kann. Die Entscheidung soll zum Anlass genommen werden, um sich mit den Voraussetzungen der Notwehr mit besonderer Fokussierung auf das Merkmal der Erforderlichkeit eingehender auseinanderzusetzen. Eine sichere Kenntnis der Notwehrvoraussetzungen ist insbesondere für ein gutes Abschneiden in Strafrecht AT-Klausuren oder der Übung im Strafrecht unentbehrlich. Ein Blick in die Entscheidung lohnt aber nicht nur für die unteren Semester: Auch in Examensklausuren oder mündlichen Prüfungen eignet sich ein Abstecher in die Rechtfertigungsgründe hervorragend, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen.
I. Sachverhalt (vereinfacht und leicht abgewandelt):
Was war passiert? W war Wirt in einer Gaststätte und hatte dem C dort Hausverbot erteilt, nachdem dieser die Frau F des W respektlos behandelt hatte. Zudem war der Verdacht aufgekommen, C würde in der Gaststätte mit Drogen handeln. Gleichwohl suchte C die Gaststätte erneut auf. Dies bemerkte die verärgerte F und forderte den W auf, das Lokalverbot durchzusetzen. Zudem fiel auf, dass der C mehrfach in kurzen Abständen die Toilette aufsuchte, sodass F und W vermuteten, dass C dort abermals Drogengeschäfte abwickelte. Daraufhin begab sich W zur Toilette und forderte C auf, die Gaststätte umgehend zu verlassen. Nachdem dieser der Aufforderung nicht nachkam und ausfällig wurde, kündigte W an, die Polizei zu verständigen und ergriff das hinter der Theke im Gastraum befindliche Telefon. C folgte ihm und schlug ihm das Telefon aus der Hand. Im folgenden Verlauf kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung und anschließendem Gerangel, zu dessen Beginn C den W mit der Faust – wenngleich nicht mit voller Wucht – schlug. Die F holte einen Billardstock hervor und hielt ihn drohend in die Höhe, ohne aber einzugreifen. Weitere in der Gaststätte befindliche Personen versuchten, den C zu beruhigen, wohingegen W zunehmend über das Verhalten des C in Wut geriet und sich zudem um das körperliche Wohl der F sorgte. Im Zuge der nun „längstens seit wenigen Minuten andauernden Auseinandersetzung“ ergriff W schließlich für den C unbemerkt ein 26 cm langes Bowiemesser mit einer ca. 16 cm langen und ca. 2,7 cm breiten Klinge. Während C den W weiterhin durch Schubsen und einfaches Schlagen bedrängte, war dem W bewusst, dass der C unbewaffnet war und die von ihm vereinzelt verabreichten Schläge mit allenfalls mittlerer Intensität geführt wurden. Es bestand zu diesem Zeitpunkt weder für den W noch für F Lebensgefahr. Der W wusste überdies, dass C das Messer nicht bemerkt hatte, und dass sich dieser aller Voraussicht nach zurückgezogen hätte, wenn ihm seine zwischenzeitliche Bewaffnung zur Kenntnis gelangt wäre. Auch ging er nicht davon aus, dass seine Möglichkeiten zur Beendigung der körperlichen Attacken beeinträchtigt würden, wenn er dem C zuvor das Messer zeigte. W war aber zwischenzeitlich so in Wut geraten, dass er gleichwohl zum unmittelbaren Messereinsatz entschlossen war. Ohne weitere Ankündigung führte er mehrere schnelle, tangentiale Stichbewegungen in Richtung des Oberkörpers des C aus, um weitere Einwirkungen von ihm abzuwenden. C erlitt Stichverletzungen, die allerdings nicht lebensbedrohlich waren und ließ endgültig von W ab.
Strafbarkeit des W?
II. Rechtserwägungen
Den Kernpunkt der Entscheidung bildet die Frage, ob die tatbestandlich offensichtlich vorliegende gefährliche Körperverletzung im Wege der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt ist. Gemäß § 32 Abs. 2 StGB handelt es sich bei Notwehr um die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
1. Notwehrlage: Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff
Vorliegen muss hierfür zunächst eine Notwehrlage, die als gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut zu definieren ist. Ein Angriff ist „die von einem Menschen drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen“ (BeckOK StGB/Momsen/Savic, 42. Ed. 1.5.2019, StGB § 32 Rn. 17). Das Bedrängen des W durch Schubsen und die leichten Schläge drohten ihn in seiner körperlichen Unversehrtheit zu verletzen, sodass ein Angriff seitens des C evident zu bejahen ist. Der Angriff müsste aber auch gegenwärtig gewesen sein. Dies ist der Fall, wenn eine Rechtsgutsverletzung unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert. Unmittelbar bevorstehend ist nach ständiger Rechtsprechung ein Verhalten, „das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde“ (vgl. beispielhaft BGH, Beschl. v. 1.2.2017 – 4 StR 635/16, BeckRS 2017, 102724, Rn. 7; BGH, Urt. v. 24.11.2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39 m.w.N.). Hat bereits eine Verletzungshandlung durch den Angreifer stattgefunden, so dauert der Angriff so lange fort, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Verletzung durch eine erneute Handlung vertieft werden könnte (BeckOK StGB/Momsen/Savic, 42. Ed. 1.5.2019, StGB § 32 Rn. 21). Maßgeblich ist dabei die objektive Sachlage, subjektive Befürchtungen des Angegriffenen sind ohne Belang (BGH, Urt. v. 24.11.2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38). Im vorliegenden Fall war dem Geschehen bereits eine verbale und körperliche Auseinandersetzung vorangegangen. Zudem bedrängte der C den W zum maßgeblichen Zeitpunkt immer noch durch Schubsen und leichte Schläge, sodass festzustellen ist, dass der Angriff noch fortdauerte. Mithin handelte es sich auch um einen gegenwärtigen Angriff. Der Angriff stand auch – da der C seinerseits nicht gerechtfertigt handelte – im Widerspruch zur Rechtsordnung, er war mithin rechtswidrig. Eine Notwehrlage lag damit vor.
Anmerkung: Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Notwehrlage erfolgt hier aus didaktischen Gründen und sollte selbstverständlich in einem Fall, in dem eine Notwehrlage offensichtlich gegeben ist, aus Gründen der Schwerpunktsetzung kürzer ausfallen.
2. Notwehrhandlung
Ferner müsste es sich bei dem sofortigen Messereinsatz um eine erforderliche und gebotene Notwehrhandlung gehandelt haben.
a) Erforderlichkeit
Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist erforderlich, wenn sie nach objektiver ex-ante-Sicht zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs führt und sie das mildeste Abwehrmittel darstellt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (s. hierzu auch BGH, Beschl. v. 22.6.2016 – 5 StR 138/16, NStZ 2016, 593, 594). Die Notwehrhandlung müsste damit zunächst überhaupt zur sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs geeignet gewesen sein. Hierbei ist ausreichend, dass der Angriff durch die Handlung abgeschwächt wird. Im konkreten Fall beseitigte der Messereinsatz den Angriff sogar; der C ließ von W ab.
Fraglich ist indes, ob es sich hierbei auch um das mildeste Mittel handelte, das dem W in der konkreten Situation zur Abwehr des Angriffs zur Verfügung stand. Es handelt sich bei einer spezifischen Verteidigungshandlung dann um das relativ mildeste Mittel, wenn unter mehreren bereitstehenden Mitteln dasjenige eingesetzt wird, das sich für den Angreifer am wenigsten gefährlich darstellt. So ist beispielsweise ein Schuss auf die Beine grundsätzlich einem Schuss in die Brust vorzuziehen, gleiches gilt für einen Schlag mit einer Pistole anstelle eines Schusses (BeckOK StGB/Momsen/Savic, 42. Ed. 1.5.2019, StGB § 32 Rn. 30). Auch ein Messereinsatz ist in der Regel – vor allem gegenüber einem unbewaffneten Angreifer – vorher anzudrohen. Dabei gilt indes – insbesondere angesichts des Schutzzwecks der Notwehr, auch die Rechtsordnung zu verteidigen: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Konkret heißt das, dass der Täter zwar das mildeste Mittel wählen muss, allerdings werden in die Auswahl nur diejenigen Mittel einbezogen, die auch geeignet sind, den Angriff sofort und endgültig abzuwehren. Sofern weniger gefährliche Verteidigungsmittel zur Verfügung stehen, muss der Angegriffene nur dann darauf zurückgreifen, „wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Die mildere Einsatzform muss im konkreten Fall eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann“ (BGH, Beschl. v. v. 22.6.2016 – 5 StR 138/16, NStZ-RR 2016, 271). Dies hat der BGH in seinem Beschluss noch einmal bezogen auf den sofortigen Messereinsatz ausdrücklich festgestellt:
„Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines Messers kann danach durch Notwehr gerechtfertigt sein, ohne dass zunächst aufgrund der konkreten Gefährdungslage der Einsatz eines Messers angedroht werden muss, was bei einem unbewaffneten Angreifer in der Regel jedoch der Fall ist, wenn es hinreichenden Erfolg verspricht.“ (Rn. 10)
Ob also der Einsatz zuvor angedroht werden muss, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Nach diesen Maßstäben hatte die Vorinstanz die Erforderlichkeit unter anderem mit dem Argument verneint, eine Androhung wäre ebenso gut geeignet gewesen, die Einwirkungen sofort zu beenden, denn C sei unbewaffnet und die Intensität des Angriffs nicht hochgradig gewesen. Überdies habe der C nicht bemerkt, dass W das Messer ergriffen habe, sodass er auf die veränderte Kampflage nicht habe reagieren können. Dem ist der BGH entschieden entgegengetreten:
„Es bleibt an dieser Stelle von der Strafkammer unberücksichtigt, dass sich der Angeklagte einem seit einigen Minuten dauernden Angriff durch den Nebenkläger ausgesetzt sah, der immer wieder von Schlägen begleitet wurde. Dass dieser Angriff nur von einem Gegner geführt wurde, nicht auf das Leben des Angeklagten, sondern „nur“ auf seinen Leib und seine körperliche Unversehrtheit zielte und die Intensität des Angriffs nicht „hochgradig“ war, ändert nichts am Vorliegen einer objektiven Notwehrlage, die den Angeklagten grundsätzlich berechtigte, zur Beendigung dieses Angriffs ein sofort wirksames Mittel einzusetzen.“ (Rn. 13)
Überdies sei die Androhung des Messereinsatzes auch nicht ebenso gut geeignet gewesen, den Angriff sofort und endgültig zu beenden:
„Dass diese Auseinandersetzung sich vor den Augen zahlreicher anderer Gäste zutrug und zudem zwei davon dabei waren, den Nebenkläger zu beschwichtigen und aus dem Thekenbereich zu ziehen, ist – entgegen der Ansicht des Landgerichts – kein Umstand, der in der konkreten Situation dafür sprach, die Androhung des Messereinsatzes wäre genau so erfolgversprechend gewesen. Dies schon deshalb, weil der einige Zeit andauernde Angriff trotz des Eingreifens von zwei Personen, die den Nebenkläger erkennbar erfolglos zu beschwichtigen versuchten, nicht beendet werden konnte. (…) In dieser Situation erweist sich mit Blick auf die Angriffslage und die geringe Kalkulierbarkeit eines Fehlschlagrisikos die Entscheidung des Angeklagten für den Messereinsatz und gegen eine vorherige Androhung als rechtlich unbedenklich. Soweit die Strafkammer insoweit anführt, dem Angeklagten hätten keine Anhaltspunkte für eine Eskalation der Situation vorgelegen, stellt dies kein tragfähiges Argument gegen einen ohne vorherige Androhung erfolgten, unmittelbaren Messereinsatz dar. Denn es geht bei der Entscheidung für ein erforderliches Abwehrmittel im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB nicht darum, ob durch die Androhung des Messereinsatzes eine weitere Eskalation der Situation heraufbeschworen wird; maßgeblich ist vielmehr die Frage, ob es in der zugespitzten Angriffssituation gewährleistet ist, dass der Angriff endgültig beendet wird.“ (Rn. 14 f.)
Auf dieser Grundlage kann sich also auch der sofortige Messereinsatz gegenüber dem unbewaffneten Angreifer als erforderlich darstellen, wenn in der konkreten Kampfsituation die vorherige Androhung nicht gewährleisten kann, dass der Angriff sofort und endgültig beendet wird. Daher ist im konkreten Fall davon auszugehen, dass die Notwehrhandlung des W erforderlich war.
b) Gebotenheit
Des Weiteren müsste die Notwehrhandlung auch geboten gewesen sein. In der Regel wird dies angenommen, wenn sie erforderlich ist. Lediglich in Ausnahmefällen kann die Gebotenheit zu verneinen sein, und zwar dann, wenn unter sozialethischen Gesichtspunkten dem Angegriffenen dennoch ein Notwehrrecht verwehrt werden muss. Von den diesbezüglich anerkannten Fallgruppen (s. hierzu ausführlich Schönke/Schröder/Perron/Einsele, StGB, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 43 ff.) ist hier aber keine einschlägig. Mithin war der Messereinsatz auch die gebotene Verteidigung.
3. Verteidigungswillen
Schließlich wird – als subjektives Rechtfertigungselement – von der h.M. vorausgesetzt, dass der W mit Verteidigungswillen gehandelt hat. Er muss mithin in Kenntnis der Notwehrlage handeln sowie Absicht im Sinne eines zielgerichteten Wollens besitzen, den Angriff abzuwehren oder zumindest abzuschwächen. Dabei ist es unschädlich, wenn andere Motive wie beispielsweise Wut oder Hass vorliegen, solange der Wille zur Verteidigung nicht als ganz nebensächlich zurücktritt (BeckOK StGB/Momsen/Savic, 42. Ed. 1.5.2019, StGB § 32 Rn. 46). Den Angaben im Sachverhalt zufolge war wohl die Wut des W bewusstseinsdominant; gleichwohl ist angesichts der Kampfumstände anzunehmen, dass er den Angriff auch zielgerichtet abwehren wollte – so hat es jedenfalls die Vorinstanz angenommen, was auch durch den BGH nicht beanstandet wurde.
Anmerkung: Mangels detaillierter Angaben zum Verteidigungswillen könnte hier in einer Klausur mit guter Begründung sicherlich auch anderes vertreten werden, zumal im Sachverhalt eindeutig die Wut des W in den Vordergrund gestellt wird.
4. Ergebnis
Damit war das Handeln des W durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt. Eine Strafbarkeit nach §§ 223, 224 StGB scheidet aus.
III. Fazit
Bezüglich der Erforderlichkeit der Notwehrhandlung sollte man sich also merken: Der Angegriffene muss zwar das relativ mildeste Mittel wählen, aber in die Auswahl der Verteidigungsmittel werden nur diejenigen einbezogen, die auch geeignet sind, den Angriff sofort und endgültig abzuwehren. Welches Verteidigungsmittel hiervon ausgehend in einer konkreten Situation zu wählen ist, ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Pauschale Aussagen dahingehend, dass der sofortige Messer- oder Waffeneinsatz stets nicht erforderlich ist, soweit eine Androhung noch möglich ist, verbieten sich. Wie der BGH festgestellt hat, kann vielmehr auch ein sofortiger Messereinsatz gegen einen unbewaffneten Angreifer im Wege der Notwehr gerechtfertigt sein, sofern nur ein solcher in der konkreten Situation geeignet ist, den Angriff sofort und endgültig zu beenden.
Oscar Pistorius ist wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen worden (s. hier). Er hatte seine Freundin durch eine Badezimmertür erschossen, weil er einen Einbrecher hinter dieser vermutet hatte. Der Fall bietet – übertragen auf das deutsche Rechte – viele Anknüpfungspunkte für eine mündliche Prüfung oder gar eine Examensklausur im Strafrecht. An dieser Stelle sei auf unsere ausführlichen Artikel zum Erlaubnistatbestandsirrtum in der Klausur sowie der irrtümlichen Notwehrlage eines HellsAngels Mitglieds hingewiesen. Letztlich läuft der Fall Pistorius analog. Im Folgenden werden die wohl wesentlichen Prüfungspunkte dargestellt:
I. Subjektiver Tatbestand: Zunächst bräuchte Pistorius Vorsatz, das heißt Wissen und Wollen, hinsichtlich der Tötung seiner Freundin. Da Pistorius jedoch einen Einbrecher vermutete, liegt ein error in persona vor. Dieser ist aber unbeachtlich, da die Tatobjekte rechtlich gleichwertig sind. In einer mündlichen Prüfung könnte die Abgrenzung von (unbeachtlichem) error in persona zu einem aberratio ictus (Fehlgehen der Tat) abgefragt werden.
II. Rechtfertigung: In Betracht kommt die Notwehr nach § 32 StGB. Tatsächlich lag kein kein gegenwärtiger rechtswidrig Angriff auf Pistorius vor, sodass es schon an einer Notwehrlage mangelt.
III. Erlaubnistatbestandsirrtum: Subjektiv hat sich Pistorius (nach Beweislage) aber vorgestellt, dass ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff, also eine Notwehrlage vorlag. Dies führt zum Problem des Erlaubnistatbestandsirrtum, der von verschiedenen Seiten unterschiedlich behandelt wird (die Vorsatztheorie bzw Lehre von den negativen TB-Merkmalen gem. § 16 Abs. 1 StGB, die strenge Schuldtheorie gem. § 17 StGB, die eingeschränkte Schuldtheorie gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB analog und die rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie, der im Ergebnis gefolgt werden sollte gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB analog).
Anschließend muss geprüft werden, ob nach der Vorstellung von Pistorius ein Notwehrrecht tatsächlich vorgelegen hätte und ob dieses dann nach seiner Vorstellung rechtmäßig ausgeübt wurde. Hier kann man Überlegungen anstellen, ob mehrere Schüsse durch eine geschlossene Badezimmertür ohne vorherige Ankündigung noch ein erforderliches Mittel zur Abwehr des (vermeintlichen) Angriffes sind. Für eine Erforderlichkeit kann angeführt werden, dass Pistorius beinamputiert ist und in der besagten Nacht keine Prothese trug. Somit war er in seiner Verteidungsbereitschaft stark eingeschränkt, was zu einer Absenkung der Anforderungen an einen Schusswaffengebrauch führen kann. Die Theorien zur Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums sollten letztlich erst an dieser Stelle ausführlich diskutiert werden, da diese nur bei tatsächlichem Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtum eine Rolle spielen.
Nimmt man nun an, dass Pistorius die Grenzen seines vermeintlichen Notwehrrechtes aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten hat (die Vermutung könnte insbesondere wegen des unangekündigten Schusswaffengebrauches nahe liegen), käme man zu einem sog. Putativnotwehrexzess, also einer Überschreitung seines Notwehrrechts gem. § 33 StGB bei gleichzeitigem Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums. Wie dieser Putativnotwehrexzess rechtlich zu behandeln ist, ist umstritten.
a.A.: Sieht man die Grenzen des vermeintlichen Notwehrrechtes hingegen als gewahrt an und lehnt im Folgenden eine Vorsatzstrafbarkeit ab, muss noch die fahrlässige Tötung geprüft werden gem. § 222 StGB. Die Strafbarkeit ergibt sich hierbei aus § 16 Abs. 1 S. 2 StGB (analog).
Man sieht: Der Fall kann Futter für eine mündliche Prüfung liefern und sollte daher ein Mal komplett durchdacht sein. Trotz aller Kritik – die der Polemik im Fall der Tötung eines Polizisten durch ein Mitglied der HellsAngels nahe kommt – ist das Urteil zumindest nach deutschem Recht nachvollziehbar.