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Schlagwortarchiv für: EGMR

Dr. Lena Bleckmann

BGH: Neues zur Anstiftung durch den agent provocateur

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, StPO, Strafrecht, Strafrecht AT

In seinem Urteil vom 16.12.2021 (Az. 1 StR 197/21) äußerte sich der BGH zur allseits beliebten Fallkonstellation der An- bzw. Aufstiftung durch einen verdeckten Ermittler. Die sog. agent provocateur-Fälle sind ein Klassiker im Allgemeinen Teil des Strafrechts – die neue Entscheidung sollte Anlass geben, die wichtigsten Eckpunkte der Problemstellung zu wiederholen.
I. Was ist passiert? (Sachverhalt gekürzt und leicht abgewandelt)
Der Sachverhalt ist schnell erzählt. Die nicht einschlägig vorbestraften T und M handelten gemeinsam mit Betäubungsmittelprodukten. Hiervon erfuhren offenbar auch die Strafverfolgungsbehörden – Anfang März 2020 nahm daher der verdeckte Ermittler V Kontakt zu T auf, um eine kleinere Menge Marihuana zu erwerben. Zugleich fragte V, ob es auch möglich sei, größere Mengen zu erwerben. Hieran schlossen sich mehrere Betäubungsmittelkäufe des V bei T an, bei denen V immer wieder nach größeren Mengen fragte (3kg Marihuana und 50 bis 100g Kokain). Das entsprach nicht den Mengen, mit denen T und  M üblicherweise handelten, sie konnten aber schließlich über den D die Betäubungsmittel in entsprechendem Umfang besorgen. Bei der vereinbarten Übergabe an V erfolgte die Festnahme von T und M.
II. Die Strafbarkeit des Lockspitzels in der Strafrechtsklausur
Derartige Konstellationen sind der Strafrechtswissenschaft nicht unbekannt. Unter dem Begriff des Lockspitzels oder agent provocateur wird insbesondere die Problematik der Strafbarkeit desjenigen erörtert, der – beispielweise als verdeckter Ermittler – andere zu einer Straftat veranlasst, gerade um deren Festnahme zu veranlassen (vgl. BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 22; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 21). Hier nur eine knappe Rekapitulation der Problematik – sofern hier Lücken bestehen, wird eine entsprechende Wiederholung dringend empfohlen.
Zu erörtern ist das Problem beim Prüfungspunkt des doppelten Anstiftervorsatzes. Dieser muss sich, so viel sollte bekannt sein, sowohl auf die Anstiftung, d.h. auf die Bestimmenshandlung, als auch auf die Vollendung der vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat beziehen (BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 19). Auf dieser Grundlage lässt sich die Strafbarkeit des Lockspitzels, der auf eine Festnahme des Täters schon im Versuchsstadium abzielt, bereits verneinen: Er hat keinen Vorsatz hinsichtlich der Vollendung der Haupttat und verwirklicht damit nicht den subjektiven Tatbestand der Anstiftung (so die hM, siehe (BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 22; Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 21). Grund für die Einschränkung dahingehend, dass sich der Vorsatz des Anstifters auch auf die Vollendung der Haupttat richten muss, ist der Strafgrund der Teilnahme: Das Unrecht der Teilnahme besteht darin, dass ein über den Haupttäter vermittelter Angriff auf das geschützte Rechtsgut erfolgt oder nach dem Vorsatz zumindest erfolgen soll, denn nur dann liegt ein strafwürdiges, sozialschädliches Verhalten vor (vgl. Rönnau, JuS 2015, 19).
Schwieriger – und damit umso klausurrelevanter – ist die Frage der Strafbarkeit des agent provocateur, der zwar die formelle Vollendung der Haupttat anstrebt bzw. vorhersieht, nicht aber deren materielle Beendigung. Lehrbuchbeispiel ist der Einbruchdiebstahl, bei dem die Festnahme des angestifteten Haupttäters erst nach Verlassen des Hauses erfolgen soll (Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 23; Rönnau, JuS 2015, 19 (20)). Auch und gerade beim Handel mit Betäubungsmitteln, um den es auch in der genannten Entscheidung des BGH ging, spielt diese Konstellation eine Rolle. Der Handel als solcher ist zum Zeitpunkt der Festnahme meist bereits erfolgt (BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 78). Dasselbe Problem stellt sich auch bei allen anderen Tätigkeitsdelikten (Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 23). Auch hier gelangt die herrschende Meinung jedoch zur Straflosigkeit des Lockspitzels – weil eine tatsächliche Verletzung des geschützten Rechtsguts nicht gewollt ist, soll trotz materieller Vollendung der Tat keine strafrechtlich relevante Anstiftung vorliegen (Schönke/Schröder/Heine/Weißer, StGB, § 26 Rn. 23 m.w.N.; ausführlich auch Rönnau, JuS 2015, 19 (20 f.); zu Betäubungsmitteldelikten insbesondere OLG Oldenburg, Beschl. v. 4.3.1999 – Ss 40-00, NJW 1999, 2751).
III. Die Verurteilung des zur Tat provozierten Haupttäters
Doch all das soll an dieser Stelle gar nicht im Fokus stehen. Bevor sich der Klausurkandidat mit der Strafbarkeit des agent provocateurs auseinandersetzt, wird er in aller Regel zunächst diejenige des Haupttäters prüfen. Auch wenn die Verwirklichung des jeweiligen Straftatbestands, das Vorliegen aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale sowie die Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit des Verhaltens unproblematisch sind, muss das nicht heißen, dass der Betroffene am Ende tatsächlich bestraft werden kann. Zugegebenermaßen handelt es sich bei den Fragen, welche spezifisch die Verurteilung des zur Tat Provozierten betreffen, um solche der Strafzumessung bzw. Strafverfolgung, die für Kandidaten des Ersten Staatsexamens von untergeordneter Bedeutung sind. Insbesondere in einer mündlichen Prüfung kann die Kenntnis der Problematik jedoch auch hier durchaus vorausgesetzt werden – das gilt insbesondere im Lichte der nun ergangenen Entscheidung des BGH.
Problematisch sind hier insbesondere Fälle der Tatveranlassung durch polizeiliche Ermittlungspersonen. Diese kann zu einem Konflikt mit dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit führen, wenn bislang unverdächtige oder nicht tatgeneigte Personen angestiftet werden oder eine besonders intensive Einwirkung etwa durch beträchtliche Erhöhung des Unrechtsgehalts (Aufstiftung) erfolgt (vgl. auch Rönnau, JuS 2015, 19 (21)).
Schon früh führte der BGH insoweit aus:

„Nach der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des BGH ist im Rahmen der Ermittlung und Bekämpfung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Straftaten, zu denen auch der Rauschgifthandel gehört, der Einsatz polizeilicher Lockspitzel im Grundsatz geboten und rechtmäßig. Dies gilt aber nicht uneingeschränkt. Es ist anerkannt, daß dem tatprovozierenden Verhalten des Lockspitzels Grenzen gesetzt sind, deren Außerachtlassung als ein dem Staat zuzurechnender Rechtsverstoß in das Strafverfahren gegen den Täter hineinwirken würde. Das dem GG und der StPO immanente Rechtsstaatsprinzip untersagt es den Strafverfolgungsbehörden, auf die Verübung von Straftaten hinzuwirken, wenn die Gründe dafür vor diesem Prinzip nicht bestehen können; wesentlich für die Beurteilung sind dabei Grundlage und Ausmaß des gegen den Täter bestehenden Verdachts, Art, Intensität und Zweck der Einflußnahme des Lockspitzels, Tatbereitschaft und eigene, nicht fremdgesteuerte Aktivitäten dessen, auf den er einwirkt.“ (BGH, Urt. v. 6.2.1981 – 2 StR 370/80, NJW 1981, 1626, Nachweise im Zitat ausgelassen).

a) Grundlegende Entscheidung des BGH im Jahr 1984
Ein Überschreiten dieser durch das Rechtsstaatsprinzip gesetzten Grenzen führte allerdings bislang nach Ansicht des BGH nicht zu einem Verfahrenshindernis. Ein solches soll nur unter strengsten Voraussetzungen in Betracht kommen, die nicht bei jedem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen sollen:

„Als Verfahrenshindernisse kommen nur Umstände in Betracht, die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das Strafverfahren so schwer wiegen, daß von ihrem Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß. Dies gilt auch für Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip. Bei der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips und der in ihm angelegten Gegenläufigkeiten verbieten sich unterschiedslose verfahrensrechtliche Sanktionen für Verletzungen von selbst.“  (BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84, NJW 1984, 2300 (2301), Nachweise im Zitat ausgelassen).

Stattdessen soll die nachhaltige und erhebliche Einwirkung des Lockspitzels auf den Täter, mag sie auch mit den Grundsätzen des Rechtsstaats nicht mehr vereinbar sein, lediglich zu einem Strafmilderungsgrund führen (BGH, Urt. v. 23.5.1984 – 1 StR 148/84, NJW 1984, 2300 (2302)).
b) Die Rechtsprechung des EGMR
Anders die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser nimmt einen Verstoß gegen das Verbot des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) an, wenn eine polizeiliche Provokation zur Tat erfolgt, der Täter zuvor nicht tatverdächtig war und die verdeckte Ermittlungstätigkeit der Polizei nicht durch ein Gericht kontrolliert war (EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 44/1997/828/1034, NStZ 1999, 47). Der Gerichtshof führt aus:

„Die Nutzung von verdeckt arbeitenden Ermittlern („undercover agents“) muß begrenzt werden, und Sicherungen sind auch für die Fälle der Bekämpfung des Drogenhandels zu gewährleisten. Wenn auch der Anstieg der organisierten Kriminalität zweifellos das Ergreifen angemessener Maßnahmen erfordert, nimmt das Recht auf eine faire Rechtspflege doch einen derart hervorragenden Platz ein (a. Delcourt gegen Belgien, Urt. v. 17. 1. 1970, Serie A Nr. 11, S. 15, § 25), daß es nicht um der Nützlichkeit willen geopfert werden kann. Die allgemeinen Erfordernisse der Fairneß, wie sie in Art. 6 niedergelegt sind, sind auf Verfahren jeglicher Art von Kriminalität anzuwenden, von der einfachsten bis hin zu der kompliziertesten. Das öffentliche Interesse kann nicht die Verwendung von Beweismaterial rechtfertigen, das aus polizeilicher Anstiftung resultiert. (…) Letztlich stellt der Gerichtshof fest, daß die nationalen Gerichte in ihren Entscheidungen ausführen, daß der Bf. hauptsächlich aufgrund der Aussagen der beiden Polizeibeamten verurteilt worden ist. Im Lichte aller dieser Überlegungen folgert der Gerichtshof, daß die Handlungen der beiden Polizeibeamten über die von verdeckten Ermittlern hinausgingen, weil sie zu der Tat anstifteten und es keinen Hinweis darauf gibt, daß diese Tat ohne ihr Einschreiten begangen worden wäre. Dieses Eingreifen und dessen Verwendung im angefochtenen Strafverfahren bedeutet, daß dem Bf. von Beginn an vollständig ein faires Verfahren entzogen war. Damit lag eine Verletzung von Art. 6 I vor (…)“ (EGMR, Urt. v. 9.6.1998 – 44/1997/828/1034, NStZ 1999, 47 (48)).

Hieran anknüpfend fanden sich in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur Stimmen, nach denen der Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nur dann hinreichend sanktioniert würde, wenn der rechtsstaatswidrige Einsatz von Lockspitzeln ein Verfahrenshindernis darstellen würde (siehe BeckOK StGB/Kudlich, § 26 Rn. 23.1 m.w.N.). Der BGH jedoch hielt an der Strafzumessungslösung fest (BGH, Urt. v. 18.11.1999 – 1 StR 221/99, NStZ 2000, 269).
In einer Entscheidung aus dem Jahr 2020 wurde der EGMR noch deutlicher. Dort heißt es:

„Liegt eine konventionswidrige Anstiftung vor, so sind die zuständigen Behörden bzw. Gerichte verpflichtet, entweder das Verfahren wegen Verfahrensmissbrauchs einzustellen oder alle durch die Anstiftung erlangten Beweise auszuschließen bzw. auf andere Weise vergleichbare Ergebnisse herbeizuführen. Eine erhebliche Milderung der Strafe führt nicht zu vergleichbaren Ergebnissen. Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation kann daher nicht lediglich auf der Ebene der Strafzumessung Berücksichtigung finden; hierdurch wird die durch die Tatprovokation verursachte Verletzung von Art. 6 I EMRK nicht ausreichend kompensiert und der Beschwerdeführer kann weiterhin behaupten, Opfer einer Verletzung von Art. 6 I EMRK zu sein.“ (EGMR, Urt. v. 15.10.2020 – 40495/15, 40913/15, 37273/15, NJW 2021, 3515).

c) Die aktuelle Entscheidung des BGH
Diese nunmehr eindeutige Rechtsprechung des EGMR hat auch der BGH zur Kenntnis genommen. In der Pressemitteilung zum Urteil v. 16.12.2021 heißt es:

„Läge eine nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte rechtsstaatswidrige Tatprovokation vor, dann würde dies ein Verfahrenshindernis begründen. Dafür kommt es entscheidend darauf an, ob der Täter und gegebenenfalls in welchem Umfang („Aufstiftung“ zu deutlich gewichtigeren Straftaten) bereits in Betäubungsmittelgeschäfte verwickelt war und inwieweit der Verdeckte Ermittler physischen oder psychischen Druck aufgebaut hat.“ (PM Nr. 227/2021).

Die Vorinstanz, das LG Freiburg, hatte demgegenüber noch die oben geschilderte Strafzumessungslösung angewandt und dem Betroffenen lediglich eine Strafmilderung gewährt. Eine endgültige Entscheidung konnte der BGH noch nicht treffen, da er ausweislich der Pressemitteilung eine weitere Aufklärung der für die Beurteilung der polizeilichen Tatprovokation notwendigen Tatsachen für notwendig hielt. Die Sache wurde an das LG zurückverwiesen.
III. Was bleibt?
Lockspitzel- bzw. agent-procovateur-Fälle werden den meisten Studierenden und Examenskandidaten ein Begriff sein. Erörtert werden sie insbesondere im ersten Examen gerade aus der Perspektive der Strafbarkeit des Lockspitzels, d.h. unter dem Gesichtspunkt der Anstiftung. Auch die strafrechtliche Behandlung des Haupttäters ist jedoch nicht unproblematisch. Durch die aktuellen Entscheidungen des EGMR und des BGH dürfte Bewegung in die diesbezüglich noch anhaltende Diskussion gekommen sein. Gerade von gut informierten Kandidaten in mündlichen Prüfungen könnte die Kenntnis des Problems daher erwartet werden. Davon unabhängig wird selbstverständlich auch eine Wiederholung der Anstiftungskonstellation wärmstens empfohlen – auch diese taucht in Klausuren in Studium und Examen immer wieder auf.

17.12.2021/1 Kommentar/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2021-12-17 10:30:292021-12-17 10:30:29BGH: Neues zur Anstiftung durch den agent provocateur
Dr. Maximilian Schmidt

BVerfG: Kein NPD-Verbot – Ein Überblick über die wichtigsten Aussagen

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das Urteil des BVerfG vom 17.1.2017 – 2 BvB 1/13 zum Verbot der rechtsextremen Partei NPD ist nicht nur in der juristischen Welt auf großen Widerhall gestoßen, sondern wird auch in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Im Folgenden sollen die für Studenten der Rechtswissenschaft wichtigsten Thesen des BVerfG dargestellt und erläutert werden. Gerade in einer anstehenden mündlichen Prüfung könnten neben dem Verbotsverfahren auch weitere Fälle rund um die NPD thematisiert werden – sei es die Bezeichnung durch den Bundespräsidenten als „Spinner„, Versammlungsrechtsstreitigkeiten oder die Kündigung im öffentlichen Dienst wegen einer Mitgliedschaft in der NPD. Ein Überblick über die wichtigsten Entscheidungen rund um die NPD findet sich hier. 
I. Die wichtigsten Aussagen des BVerfG
Zunächst stellt das BVerfG fest, dass das Parteiverbot eine Art „ultima ratio“ des Rechtstaats ist. Grundsätzlich soll ein Meinungskampf stattfinden, der auch extreme Ansichten zulässt.

„Das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG stellt die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde dar. Es soll den Risiken begegnen, die von der Existenz einer Partei mit verfassungsfeindlicher Grundtendenz und ihren typischen verbandsmäßigen Wirkungsmöglichkeiten ausgehen.“

Mit Bezug zum NPD-Verfahren I, das wegen V-Leuten in der Führungsebene der Partei ebenfalls zur Ablehnung eines Verbots führte (s. unseren Grundlagenartikel), benennt das BVerfG noch einmal den Grundsatz der Staatsfreiheit politischer Parteien sowie die Notwendigkeit eines fairen Verfahrens. Dieses ist jedenfalls dann nicht gewahrt, wenn nicht mehr unterscheidbar ist, ob V-Leute oder echte Parteimitglieder verfassungsfeindliche Ziele verfolgen und dies öffentlich kundtun. Zudem dürfen die von V-Leuten gewonnenen Erkenntnisse über interne Umstände der Partei grundsätzlich nicht im Verbotsverfahren verwendet werden.
Besonders lesenswert sind die Ausführungen des BVerfG zu der Frage, was denn Art. 21 Abs. 2 GG überhaupt unter „freiheitlich demokratischer Grundordnung“ versteht. Insoweit ist eine enge Auslegung vorzunehmen, da andernfalls die Gefahr einer übermäßigen Einschränkung der Meinungsfreiheit drohte. Letztlich sind insoweit nur die schlechthin unabdingbaren Grundprinzipien unserer Verfassung geschützt: Würde des Menschen sowie Demokratie- und Rechtstaatsprinzip.
Ebenfalls von großer Bedeutung für die Prüfung des Art. 21 Abs. 2 GG ist die Frage, wessen Verhalten einer Partei überhaupt zurechenbar ist. Häufig wehren sich extreme Parteien mit der Behauptung, dass bestimmte Äußerungen gerade nicht „von“ der Partei stammten, sondern Einzelmeinungen darstellten. Der Bezug zur Rede des AfD-Politikers Hoecke in Dresden vom Montag ist schnell hergestellt. Das BVerfG differenziert insoweit sauber zwischen verschiedenen Personengruppen:

  • Tätigkeit ihrer Organe, besonders der Parteiführung und leitender Funktionäre sind ohne weiteres zurechenbar.
  • Bei Äußerungen oder Handlungen einfacher Mitglieder ist eine Zurechnung nur möglich, wenn diese in einem politischen Kontext stehen und die Partei sie gebilligt oder geduldet hat.
  • Bei Anhängern, die nicht der Partei angehören, ist grundsätzlich eine Beeinflussung oder Billigung ihres Verhaltens durch die Partei notwendige Bedingung für die Zurechenbarkeit.
  • Eine pauschale Zurechnung von Straf- und Gewalttaten ohne konkreten Zurechnungszusammenhang kommt nicht in Betracht.

Somit dürfte immer eine zumindest konkludente Billigung durch leitende Organe der Partei notwendig sein, um Äußerungen Dritter zurechnen zu können. Im Einzelfall muss dann zwischen einer konkludenten Billigung und einer bloß unterlassenen Distanzierung (die bei Dritten gerade nicht ausreicht) differenziert werden.
Schließlich folgt der Kern der Entscheidung. Hier gibt es Neues, und zwar zu Recht: Eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung einer Partei reicht für die Anordnung eines Parteiverbots allein nicht aus. Die bloße verfassungsfeindliche Gesinnung kann ein Verbot also nicht begründen. Vielmehr ist eine kämpferische Haltung der Partei notwendig. Andererseits muss nicht bereits eine konkrete Gefahr für den Bestand der freiheitliche demokratischen Grundordnung bestehen. Hiermit hat das BVerfG seine Rechtsprechung aus der KPD-Entscheidung ausdrücklich aufgegeben (BVerfG 5, 85), in der es davon ausgegangen war, dass es einem Parteiverbot nicht entgegenstehe, wenn für die Partei nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen kann. Auch der EGMR hatte – wenn auch mit anderer Nuancierung – bereits zu Art. 11 EMRK deutlich gemacht, dass mehr als das bloße Verfolgen verfassungsfeindlicher Ziele für ein Parteienverbot vorliegen müsse (Urt. v. 13.02.2003, Antrag Nr. 41340/98 u.a.). 
Zuletzt tritt das BVerfG noch der Ansicht entgegen, dass die Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus eine die Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 GG ersetzende Funktion habe. Eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus könne allein indizielle Bedeutung hinsichtlich der Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele einer Partei entfalten.
II. Fazit: „Erlaubt ist, was schwach ist“
Das Urteil hat ohne Zweifel sowohl juristisch als auch gesellschaftlich Charme: Es wird eindeutig festgestellt, dass die NPD eine Partei ist, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Allerdings fehlt es ihr schlichtweg (zum Glück!) an faktischer Durchsetzungsmacht. Letztlich mag die NPD somit ein Verfahren „gewonnen“ haben, steht aber doch als großer Verlierer da. Die FAZ hat auch den juristischen Kern der Diskussion um ein Verbot der NPD auf den Punkt gebracht: Erlaubt ist, was schwach ist!

20.01.2017/2 Kommentare/von Dr. Maximilian Schmidt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Maximilian Schmidt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Maximilian Schmidt2017-01-20 09:00:182017-01-20 09:00:18BVerfG: Kein NPD-Verbot – Ein Überblick über die wichtigsten Aussagen
Dr. Deniz Nikolaus

EGMR: Das sichtbare Tragen eines Kruzifix am Arbeitspatz ist von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt

Rechtsprechung, Startseite

Der EGMR (ECHR 012 (2013)) hat am 15.01.2013 entschieden, dass das sichtbare Tragen eines Kruzifixes am Arbeitsplatz grundsätzlich von der Religionsfreiheit geschützt ist. Dies ist nur im Einzelfall, nämlich dann, wenn die Religionsfreiheit mit kollidierenden Rechten anderer nicht in Einklang zu bringen ist, anders. Während eine British-Airways-Stewardess bei der Arbeit eine Kette mit Kreuz tragen darf, ist dies einer Krankenschwester nach Ansicht des Gerichts vor dem Hintergrund der Religionsfreiheit indessen nicht zwingend zu gestatten. Mit Eintritt der Rechtskraft wird diese Entscheidung für alle 46 Mitgliedsländer des Europarates, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert haben, bindend. Gerügte Staaten sind angehalten, ihre Gesetze entsprechend zu ändern und anzupassen.
Die (noch nicht im Volltext vorliegende) Entscheidung steht im Einklang mit der Kruzifix-Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 2011, in der die Straßburger Richter Kreuze in italienischen Klassenräumen für zulässig hielten (wir berichteten dazu hier, zu Kopftuch und anderen religiösen Bekleidungsstücken, siehe hier).
Sachverhalt
Geklagt hatten zwei praktizierende Christinnen britischer Staatsangehörigkeit. Eine davon war Angestellte des Bodenpersonals der Fluggesellschaft British Airways und die andere Krankenschwester in einem Krankenhaus. Beide sahen sich durch eine Anordnung ihres Arbeitgebers, ihre Kruzifixe bei der Arbeit unter der Kleidung zu tragen, in ihrer Religionsfreiheit verletzt.
Die Kleiderordnung der Fluggesellschaft British Airways sah eine Uniform vor und untersagte den Mitarbeitern, Schmuck oder jegliche religiöse Symbole ohne Erlaubnis offen zu tragen. Dagegen erlaubte die Fluggesellschaft muslimischen Frauen oder Sikhs, ein Kopftuch beziehungsweise einen Turban in den Farben der Uniform zu tragen.
Im Fall der Krankenschwester verboten die einschlägigen Bestimmungen das Tragen von Schmuck im Krankenhaus aus gesundheitlichen und sicherheitsrechtlichen Gründen, da die Patienten sich bei unbedachten Bewegungen an der Kette verletzen oder bei offenen Wunden infizieren könnten.
Beide Klägerinnen behaupteten, das sichtbare Tragen des Kreuzes sei ein wichtiger Bestandteil der Manifestation ihres Glaubens. Sie fühlten sich daher durch das Verbot diskriminiert.
Entscheidung
Der EGMR entschied im Fall der Flugbegleiterin, dass das Verbot der Fluggesellschaft,keine sichtbaren Kreuze tragen zu dürfen, einen Verstoß gegen Artikel 9 (freedom of religion) EMRK darstellt. Die Richter wogen die Religionsfreiheit der Mitarbeiterin und das (von der Fluggesellschaft vorgebrachte) entgegenstehende Interesse, ein bestimmtes öffentliches Image zu wahren, gegeneinander ab und entschieden zu Gunsten der Klägerin. Ihren religiösen Glauben nach außen zu manifestieren überwiege im Lichte der Religionsfreiheit das (grundsätzlich ebenfalls anzuerkennende) Interesse der Fluggesellschaft. Die Richter sprachen der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 2000 Euro zu.
Anders lag nach Ansicht des Gerichts der Fall der christlichen Krankenschwester. Hier stehe der Religionsfreiheit der Klägerin der Schutz der Gesundheit der Patienten gegenüber. Es bestünde nämlich die (aus Sicht der Klinikleitung begründete) Gefahr, dass sich die (vornehmlich älteren) Patienten an dem offen getragenen Kreuz verletzen könnten. Insoweit überwiegt nach Ansicht des Gerichts der Gesundheitsschutz die durch Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 14 (prohibition of discrimination) EMRK geschützte Religionsfreiheit der Krankenschwester.
Kruzifix-Entscheidung des BVerfG
Um die Entscheidung in den nationalen Kontext einordnen zu können, soll an dieser Stelle auf die aufsehenerregende Kruzifix-Entscheidung des BVerfG vom 10. August 1995 (BVerfGE 93, 1) eingegangen werden. Hier wurde der Verfassungsbeschwerde dreier minderjähriger schulpflichtiger Kinder und ihrer Eltern stattgegeben, die sich gegen die Anbringung von Kruzifixen und Kreuzen in bayrischen Klassenzimmern gewandt hatten. Die Anbringung von Kruzifixen beruhte auf einer Rechtsverordnung für die Volksschulen in Bayern (VSO) dessen einschlägiger Teil in § 13 Abs. 1 S. 2 wie folgt lautete:

…In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen…

Daraufhin hielt das BVerfG in seinem Leitsatz fest:

Die staatlich angeordnete Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.

Der Senat des BVerfG stellte vorerst auf die Verletzung der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG ab. Zur Freiheit der positiven Ausübung umfasse die Glaubensfreiheit aber auch, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese negative Freiheit beziehe sich ebenfalls auf Glaubenssymbole. Dem Staat sei durch Art. 4 Abs. 1 GG eine Pflicht auferlegt, Einzelnen oder religiösen Gemeinschaften einen Betätigungsraum zur Entfaltung zu sichern und vor Angriffen konkurrierender Religionsgruppen zu schützen. Allerdings entfalte Art. 4 Abs. 1 GG keinen Anspruch des Einzelnen darauf, durch staatliche Hilfe seiner religiösen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Dies folge aus dem Grundsatz staatlicher Neutralität. Der Staat könne die friedliche Koexistenz nur bewahren, wenn er in Glaubensfragen Neutralität bewahre. Dieses Gebot fände seine Grundsätze neben Art. 4 Abs. 1 GG auch in Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 1 sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 11 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV.
Im Anschluss daran erwog das BVerfG die Verletzung der Glaubensfreiheit durch § 13 Abs. 1 S. 3 VSO. Die staatliche Anbringung des Kreuzes führe dazu, dass die Schüler ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert seien und gezwungen würden, „unter dem Kreuz zu lernen“ (Kreuz als Zwangselement). Das Kreuz (mit oder ohne Korpus) sei das spezifische Glaubenssymbol der Christen und nicht nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur. Für Nichtchristen und Atheisten sei das Kreuz gerade wegen der Bedeutung Symbol der „missionarischen Ausbreitung“ bestimmter Glaubensüberzeugungen. Ein staatliches Bekenntnis zu diesem Glaubensinhalt berühre daher die Religionsfreiheit.
Im dritten Teil befasste sich das BVerfG mit einer möglichen Rechtfertigung. Da das Grundrecht auf Glaubensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet wird, muss sich die Einschränkung aus der Verfassung selbst ergeben. Als Erstes wurde eine Rechtfertigung aus Art. 7 Abs. 1 GG (staatliche Schulhoheit) angesprochen. Art. 7 Abs. 1 GG erteile dem Staat ein Erziehungsauftrag unabhängig von den Eltern. Problematisch hierbei ist jedoch, dass in der Schule unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern intensiv aufeinander treffen. Um diesen Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern zu lösen, zieht das BVerfG den Grundsatz der „praktischen Konkordanz“ heran. Dieser Grundsatz fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden darf, sondern dass alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren. Ein solcher Ausgleich könne aber nicht dazu führen, dass alle kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen abgestreift werden. Allerdings sei es in einer pluralistischen Gesellschaft unmöglich, allen Erziehungsvorstellungen voll Rechnung zu tragen. Das Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit sei mithin vom Landesgesetzgeber unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen. Dem Landesgesetzgeber sei die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht verboten. Voraussetzung sei jedoch, dass damit nur das unerlässliche Minimum an Zwangselementen verbunden ist. Im vorliegenden Fall überschreite die staatlich angeordnete Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern die Grenzen religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Art. 7 Abs. 1 GG als Einschränkung der Glaubensfreiheit wurde daher im Ergebnis verneint.
Weiterhin wurde auch eine Rechtfertigung der Anbringung der Kreuze aufgrund der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens abgelehnt. Gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezwecke in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten, so dass es keine Bedeutung habe, dass die Anhänger christlichen Glaubens im Klassenzimmer in der Mehrheit seien.
Fazit
Diese Entscheidung des BVerfG ist nicht als Widerspruch zu den Entscheidungen des EGMR zu betrachten. Als säkularer Staat ist Deutschland grundsätzlich religionsfreundlich, sog. „offene Neutralität“. Jedoch wurde die Neutralität vom Gericht nicht, wie teilweise angenommen, im Sinn eines Laizismus gedeutet, der die Entfernung aller religiösen Elemente aus dem öffentlichen Leben verlangt. Es wurde ausdrücklich anerkannt, dass religiöse Bezüge auch in den Bereich des öffentlichen Schulwesens hineinwirken können. Das Gericht hat sich nur von der staatlich angeordneten Anbringung von Kreuzen ohne Ausgleichsregelung distanziert, nicht von Kreuzen in Klassenzimmern generell.
Wie die aktuelle Entscheidung des EGMR noch einmal verdeutlicht, gilt auch in Europa auf Grundlage der EMRK die Religionsfreiheit. Sie ist sowohl von den Mitgliedsstaaten als auch von den Staatsangehörigen (namentlich in Person der Arbeitgeber) zu achten. Allerdings gilt die Religionsfreiheit auch insoweit nicht uneingeschränkt. Insbesondere wenn höherrangige Interessen wie gesundheitliche und sicherheitsrechtliche Aspekte entgegenstehen, kann diese eingeschränkt werden. Pauschale Verbote, Religionssymbole am Arbeitsplatz sichtbar zu tragen, verstoßen aber grundsätzlich gegen Artikel 9 EMRK.
 

22.01.2013/1 Kommentar/von Dr. Deniz Nikolaus
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Deniz Nikolaus https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Deniz Nikolaus2013-01-22 10:00:422013-01-22 10:00:42EGMR: Das sichtbare Tragen eines Kruzifix am Arbeitspatz ist von der Religionsfreiheit grundsätzlich geschützt
Nicolas Hohn-Hein

BGH: „Playboy am Sonntag“

Bereicherungsrecht, Deliktsrecht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Verfassungsrecht, Zivilrecht, Zivilrecht

In einer kürzlich im Volltext veröffentlichten Entscheidung des BGH (Az. I ZR 234/10 – Urteil v. 31.05.2012) ging es um die Frage, ob eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR) nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG gegeben ist, wenn eine Zeitung (hier: BILD am Sonntag) ein Foto eines Prominenten (hier: Gunter Sachs) abbildet, das die Person beim Lesen eben dieser Zeitung in der Freizeit zeigt. Nach den gängigen Grundsätzen ist – im Falle der Verletzung des APR – der Verletzer zur Zahlung eines angemessenen Lizenzbetrags verpflichtet.
Sachverhalt (vereinfacht)
Kläger G ist ein bekannter Schauspieler, Entertainer und Lebemann, der in der Vergangenheit große öffentliche Aufmerksamkeit genossen hat. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und seinem Rückzug ins Private besteht immer noch ein erhebliches Medieninteresse. Ein großes deutsches Boulevardblatt (B) lässt es sich daher nicht nehmen, G bis in den Urlaub auf seiner Yacht in St. Tropez zu folgen. B gelingt es, ohne Wissen des G, ein Foto davon zu machen wie G gerade die Sonntagsausgabe der B liest.
In der Folge veröffentlich B das Foto:

Das Foto ist großformatig übertitelt mit:

„Psst, nicht stören!
Playboy (75) am Sonntag
Auf einer Jacht in St.-Tropez schaukelt G“

Im daneben stehenden Artikel heißt es u.a.: „Genüsslich blättert er durch die Seiten der B„. G ist entsetzt. Er sei niemals mit der Veröffentlichung solcher Fotos einverstanden gewesen. Er habe sich völlig unbeobachtet gefühlt. Darüber hinaus lese er zwar tatsächlich ab und an die B. Bei dem konkreten Artikel handele es sich aber um eine gezielte Werbemaßnahme der B, die nicht dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit diene, sondern allein kommerziellen Zwecken.
Kann G von B eine fiktive Lizenzgebühr in Höhe von 50.000 Euro verlangen?
Abgestuftes Schutzkonzept des BGH bei §§ 22, 23 KUG
Der Einstieg in die Prüfung der Rechtslage erfolgt über die Feststellung, dass im vorliegenden Fall eine mögliche Rechtsverletzung durch die Veröffentlichung des Bildnisses des G an den Voraussetzungen der §§ 22, 23 Kunsturhebergesetz (KUG) zu messen ist. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG ist eine Einwilligung des Betroffenen (§ 22 KUG) nicht erforderlich, wenn es sich um eine Person der Zeitgeschichte handelt. Eine Ausnahme bildet § 23 Abs. 2 KUG, wonach das Zustimmungserfordernis wieder auflebt, wenn der Verbreitung des Bildnisses ein berechtigtes Interesse des Betroffenen entgegensteht (zur Rechtsprechung des BGH vgl. insbes. GRUR 2011, 259, Rn. 13 = NJW 2011, 746 – „Rosenball in Monaco“ mwN).
Zustimmung aufgrund des werbenden Charakters der Berichterstattung erforderlich
Das Gericht hält § 23 Abs. 2 KUG im vorliegenden Fall für anwendbar, da es, nach Ansicht der Richter, der B nicht um das reine Informationsinteresse der Öffentlichkeit ging, sondern zu Werbezwecken für das eigene Blatt geschah. Ein Bildnis, das zu Werbezwecken zur Verfügung gestellt wird, ist grundsätzlich vermögensrechtlicher Bestandteil des APR. Dabei muss die Werbung keine Werbung „im klassischen“ Sinne sein (z.B. Printanzeige, Werbespot o.ä.). Ein werbender Charakter sei insoweit ausreichend, denn

[…] die für die Beurteilung der Verwendung von Bildnissen im Rahmen von Werbeanzeigen entwickelten Grundsätze gelten gleichermaßen für eine redaktionelle Bildberichterstattung, die (auch) der Eigenwerbung dient (zum Titelbild von Zeitschriften vgl. BGH, Urteil vom 14. März 1995 – VI ZR 52/94, NJW-RR 1995, 789 f. – Chris-Revue; BGH, GRUR 2009, 1085, Rn. 24 ff. – Wer wird Millionär?; GRUR 2011, 647 Rn. 12 ff. – Markt & Leute). Ein Eingriff in das Recht am eigenen Bild kommt insoweit insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwendung des Bildnisses den Werbe- und Imagewert des Abgebildeten ausnutzt, indem die Person des Abgebildeten als Vorspann für die Anpreisung des Presseerzeugnisses vermarktet wird (BGH, GRUR 2009, 1085 Rn. 29 f. – Wer wird Millionär?).

B könne sich ferner auch nicht darauf berufen, es handele sich lediglich um eine Berichterstattung über wahre Tatsachen. Maßgeblich sei der Kontext, in dem die Wort-Bildberichterstattung erfolge, und der Empfängerhorizont eines durchschnittlichen Lesers. Der BGH schließt sich diesbezüglich den Ausführungen des Berufungsgerichts an.

Das Berufungsgericht ist vielmehr davon ausgegangen, dass der Leser durch den Kontext der begleitenden Wortberichterstattung, die bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, die Berichterstattung vor allem als Eigenwerbung für das Blatt der Beklagten verstehen musste, die über eine reine Tatsachenberichterstattung hinaus geht. So hat es angenommen, der Eingriff in den vermögensrechtlichen Bestandteil des Persönlichkeitsrechts des Klägers wiege deshalb so besonders schwer, weil die werbliche Vereinnahmung des Klägers im Mittelpunkt der Berichterstattung stehe. Die einzig aktuelle Information erschöpfe sich in der Lektüre des Blatts der Beklagten. Diese Information habe aber keinen Nachrichtenwert und biete insofern keine Orientierung im Hinblick auf eine die Allgemeinheit interessierende Sachdebatte. Die übrige Wortberichterstattung verfolge allein den Zweck, den Werbewert des Klägers zu vergrößern. Damit habe der Beitrag inhaltlich ganz überwiegend den Charakter einer Werbeanzeige.

Ein Eingriff in das APR des G war – mangels erforderlicher Einwilligung gemäß § 23 Abs. 2 KUG – damit grundsätzlich gegeben.
APR des G überwiegt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit
Üblicherweise schließt sich an die Bejahung des Eingriffs in das APR die Frage an, ob dieser rechtswidrig erfolgte. Hierzu trifft das Gericht eine Abwägungsentscheidung zwischen dem Interesse des Betroffenen an dem Schutz seiner Person (Art. 1 Abs. 1 GG iVm. Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit (Informations- und Pressefreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Die Abwägung erfolgt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls.
Der BGH stellt in diesem Zusammenhang zunächst die berechtigten Interessen der Beteiligten gegenüber. Zum einen finde ein gewisser Imagetransfer zugunsten der B und zulasten des G statt, sodass eine Beeinträchtigung des G anzunehmen sei. Dagegen genieße jedoch auch Eigenwerbung für ein Presseerzeugnis Schutz gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG wie das Presseerzeugnis selbst.
Im Ergebnis stellt der BGH auf den mangelnden Nachrichtenwert der Meldung und die besondere Hervorhebung der Werbewirksamkeit der Abbildung ab. Dies wirkt insbesondere dann um so schwerer, wenn es sich um einen Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen handelt und dieser in der konkreten Situation davon ausgehen konnte „für sich“ zu sein.

Es hat insoweit angenommen, der Kläger werde durch das große Foto, welches ihn lesend auf seiner Jacht im Hafen von Saint-Tropez zeige sowie die begleitende Wortberichterstattung in seiner Privatsphäre sowie seinem Recht am eigenen Bild verletzt, weil ihn das Bild und der Begleittext in einer offensichtlich privaten Situation der Öffentlichkeit präsentierten, in der er habe davon ausgehen können, unbeobachtet zu sein. Demgegenüber bestehe nur ein geringes schutzwürdiges Informationsinteresse. […]

Bei der Bildberichterstattung sind für die Gewichtung der Belange des Persönlichkeitsschutzes auch der Anlass und die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Aufnahme entstanden ist, etwa unter Ausnutzung von Heimlichkeit oder beharrlicher Nachstellung. Auch ist bedeutsam, in welcher Situation der Betroffene erfasst und wie er dargestellt wird. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts wiegt schwerer, wenn die visuelle Darstellung durch Ausbreitung von üblicherweise öffentlicher Erörterung entzogenen Einzelheiten des privaten Lebens thematisch die Privatsphäre berührt oder wenn der Betroffene nach den Umständen typischerweise die berechtigte Erwartung haben durfte, nicht in den Medien abgebildet zu werden. Das kann nicht nur bei einer durch räumliche Privatheit geprägten Situation, sondern außerhalb örtlicher Abgeschiedenheit auch in Momenten der Entspannung oder des Sich-Gehen-Lassens außerhalb der Einbindung in die Pflichten des Berufs und des Alltags der Fall sein (BGH, Urteil vom 1. Juli 2008 – VI ZR 243/06, GRUR 2008, 1024 Rn. 24 = NJW 2008, 3138 – Shopping mit Putzfrau auf Mallorca). […]

Art. 5 Abs. 1 GG gebietet es nicht generell anzunehmen, dass mit jeder visuellen Darstellung aus dem Privat- und Alltagsleben prominenter Personen ein Beitrag zur Meinungsbildung verbunden ist, der es aufgrund ihrer positiven oder negativen Leitbildfunktionen für sich allein rechtfertigt, die Belange des Persönlichkeitsschutzes zurückzustellen. Zwar gilt die Pressefreiheit auch für unterhaltende Beiträge über das Privat- oder Alltagsleben von Prominenten und über ihr soziales Umfeld einschließlich der ihnen nahe stehenden Personen. Denn der Unterhaltung dienende Beiträge stellen einen wesentlichen Bestandteil der Medienbetätigung dar. Allerdings bedarf es gerade bei unterhaltenden Inhalten in besonderem Maß der abwägenden Berücksichtigung der kollidierenden Rechtspositionen der Betroffenen (BGH, GRUR 2008, 1024, Rn.20 – Shopping mit Putzfrau auf Mallorca). Auch nach Art. 10 EMRK ist das Recht auf Meinungsäußerung der Presse bei der Berichterstattung über Personen des öffentlichen Lebens oder allgemein bekannte Personen eng auszulegen, wenn sich die veröffentlichten Fotos und die Berichte dazu auf Einzelheiten des Privatlebens beziehen und nur die öffentliche Neugier befriedigen sollen (EGMR, NJW 2012, 1056 Rn. 110 – von Hannover/Deutschland Nr. 2). Die Grenze der zulässigen Berichterstattung über das Alltagsleben prominenter Personen wird daher – wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat – ebenfalls maßgeblich vom Informationswert der Berichterstattung bestimmt. […]

Die Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG musste daher im vorliegenden Fall zurückstehen.
Anmerkung: Anspruchsgrundlage war hier eine Eingriffskondiktion aus § 812 Abs. 1 S. 1 Fall 2 BGB jedenfalls wegen des Eingriffs in den Zuweisungsgehalt des Rechts am eigenen Bild durch die kommerzielle Nutzung des Fotos. Darüber, ob auch § 823 Abs. 1 BGB herangezogen werden konnte, musste der BGH daher nicht mehr entscheiden, sodass es auf die Frage eines Verschuldens der B nicht ankam.
Fazit
G konnte hier die Zahlung einer fiktiven Lizenzgebühr in Höhe von 50.000 Euro verlangen. Eine interessante Entscheidung, die Anlass geben wird, die Grundsätze rund um das APR und die Bezüge zum KUG abzuprüfen. Zu diesem aktuellen Thema ergehen regelmäßig Entscheidungen (vgl. z.B. hier und hier, etwas älter hier). Dass die deutsche Rechtsprechung sich mittlerweile seit der Caroline-Entscheidung des EGMR im Jahr 2004 von den Begriffen der „relativen“ und der „absoluten“ Personen der Zeitgeschichte verabschiedet hat, sollte dem Kandidaten bekannt sein.

03.01.2013/0 Kommentare/von Nicolas Hohn-Hein
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Nicolas Hohn-Hein https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Nicolas Hohn-Hein2013-01-03 09:00:112013-01-03 09:00:11BGH: „Playboy am Sonntag“
Tom Stiebert

EGMR vs. BVerfG: Das Ende der Jagdgenossenschaft?

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Europarecht, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Der EGMR hat am 26.06.2012 ein aufsehenerregendes Urteil (Beschwerdenummer 9300/07) gefällt, das sowohl für die Praxis aber vor allem auch für das juristische Examen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist (Pressemitteilung). Es geht dabei um die Zulässigkeit der deutschen Regelungen zum Jagdrecht und insbesondere um die Zulässigkeit der Zwangsbildung einer Jagdgenossenschaft und dem Bestehen eines gemeinsamen Jagdbezirks. Die Rechtsprechung ist deshalb von sehr hoher Bedeutung, da sie sich (teilweise) gegen ein entsprechendes Urteil des BVerfG vom 13.12.2006 (1 BvR 2084/05) wendet. Ohne sich weit aus dem Fenster zu lehnen, kann man diese Konstellation damit als absoluten Pflichtstoff für die Klausur bezeichnen.
Entscheidend sind folgende Normen:

§ 7 Abs. 1 Satz 1 BJagdG: Zusammenhängende Grundflächen mit einer land-, forst- oder fischereiwirtschaftlich nutzbaren Fläche von 75 Hektar an, die im Eigentum ein und derselben Person oder einer Personengemeinschaft stehen, bilden einen Eigenjagdbezirk.

§ 8 Abs. 1 BJagdG: Alle Grundflächen einer Gemeinde oder abgesonderten Gemarkung, die nicht zu einem Eigenjagdbezirk gehören, bilden einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk, wenn sie im Zusammenhang mindestens 150 Hektar umfassen.
§ 9 Abs. 1 Satz 1 BJagd G: Die Eigentümer der Grundflächen, die zu einem gemeinschaftlichen Jagdbezirk gehören, bilden eine Jagdgenossenschaft.
§ 8 Abs. 5 BJagdG: In gemeinschaftlichen Jagdbezirken steht die Ausübung des Jagdrechts der Jagdgenossenschaft zu.
Dies bedeutet, dass jeder Eigentümer eines entsprechenden Grundstücks automatisch Mitglied der Jagdgenossenschaft wird, mit der Folge, dass er die Ausübung des Jagdrechts auf seinem Grundstück dulden muss. Dies bedeutet, dass die Mitglieder der Jagdgenossenschaft oder entsprechende Pächter ( 10 Abs. 1 Satz 1 BJagdG) die Jagd auf einem fremden Grundstück durchführen dürfen.
Diese Regelung war Bestandteil zahlreicher Streitigkeiten im deutschen Verfassungsrecht. Diese rührten daher, dass sich der jeweilige Grundstückseigentümer in seinem Recht an einer selbstgewählten Nutzung des Grundstücks verletzt sah. Zudem wird dieses Problem dann noch verstärkt, wenn der Betroffene die Jagd aus Gewissensgründen ablehnt. Mit gleichen Gründen kann auch bereits die Mitgliedschaft in der jeweiligen Jagdgenossenschaft abgelehnt werden.
Offensichtlich bestehen also eine Vielzahl von Grundrechten, deren Verletzung in Betracht kommt.
I. Urteil des BVerfG
In seinem Urteil prüfte das BVerfG eine Verletzung der Grundrechte aus Art. 2, 3, 4, 9 und 14 GG, jeweils einzeln und in Verbindung mit Art. 19, 20, 20 a GG.
1. Verletzung Art. 14
Zentral ist wohl die Frage nach einer möglichen Verletzung des Eigentumsschutzes aus Art. 14 GG. Es handelt sich bei den Regelungen zum BJagdG nicht um eine Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) sondern lediglich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG.
Fraglich ist aber, ob eine solche Bestimmung verhältnismäßig ist. Das BVerfG definiert das wie folgt:
Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse dürfen nicht weitergehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient. Der Kernbereich der Eigentumsgarantie darf dabei nicht ausgehöhlt werden. Zu diesem gehört sowohl die Privatnützigkeit, also die Zuordnung des Eigentumsobjekts zu einem Rechtsträger, dem es als Grundlage privater Initiative von Nutzen sein soll, als auch die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand.
a) Keine Verletzung Kernbereich
Die Zulässigkeit einer entsprechenden Bestimmung ergibt sich damit daraus, wie stark der soziale Bezug der jeweiligen Regelung ist bzw. wie massiv in den individuellen Bereich des Eigentümers eingegriffen wird. Unzulässig wäre ein Eingriff in den Kernbereich des Eigentums. Dieser wäre nur dann erfasst, wenn ohne das genommene Recht, die verbliebene Position so schwach wäre, dass sie nicht mehr als Eigentum angesehen werden kann. Im konkreten Fall wird dem Eigentümer eine bestimmte Pflicht auferlegt, die sein Eigentum betrifft und die ihn damit das Grundstück nicht mehr vollsttändig so nutzen lässt, wie er es wünscht, es verbleiben aber noch ausreichend freie Nutzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Das BVerfG formuliert das wie folgt:
Mit dem Jagdausübungsrecht wird dem Beschwerdeführer nur ein inhaltlich klar umrissener, begrenzter Teil der Nutzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten genommen, die ihm sein Grundeigentum einräumt. Dem Beschwerdeführer verbleibt auch nach Übergang des Jagdausübungsrechts auf die Jagdgenossenschaft eine Rechtsposition, die den Namen „Eigentum“ noch verdient (vgl. nur BVerfGE 24, 367 <389>).
b) Damit allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung
Es ist damit eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen und zu ermiteln, ob die Regelung von einem legitimen Zweck erfasst ist und erforderlich und angemessen ist.
Das Ziel der Regelung wird dabei bereits in § 1 Abs. 2 BJagdG deutlich, wo es heißt: „Die Hege hat zum Ziel die Erhaltung eines den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepaßten artenreichen und gesunden Wildbestandes sowie die Pflege und Sicherung seiner Lebensgrundlagen; […].“ Diese Zielbestimmung entspricht auch gerade den grundgesetzlich vorgegebenen Bestimmungen zum Tierschutz (Art. 20a GG) und widerspricht diesen nicht etwa. Ist aber das Ziel sogar im Grundgesetz vorgegeben und ergibt sich, dass die Regelung auch dieses Ziel erfüllen will, so muss es als legitim angesehen werden. Weiterhin steht der Schutz der Natur als Gut der Allgemeinheit im Fokus der Betrachtung. Daneben ist auch noch der Schutz des Eigentums Dritter als verfolgtes Ziel zu bejahen.
Auch das in Art. 20 a GG aufgenommene Staatsziel des Tierschutzes führt zu keiner anderen Beurteilung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit seiner Einfügung in Art. 20 a GG vornehmlich den ethisch begründeten Schutz des Tieres als je eigenes Lebewesen (vgl. dazu BVerfGE 104, 337 <347>) stärken wollen, wie er bereits bisher Gegenstand des Tierschutzgesetzes war (vgl. BTDrucks 14/8860, S. 1; 14/8360, S. 1). Zu Recht weist das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz daher nur Einfluss auf die Art und Weise der Jagdausübung haben, nicht aber die Legitimität der mit den angegriffenen Bestimmungen des Jagdrechts verfolgten Ziele einer dem Gemeinwohl verpflichteten Jagd und Hege in Frage stellen kann.
Weiterhin legt das BVerfG dar, dass die Regelung auch erforderlich ist. Die Nichtdurchführung der Jagd auf einzelnen Grundstücken würde die effektive Durchsetzung des Ziels vereiteln oder zumindest erschweren. Alternativen werden damit nicht gesehen:
Würde man einzelnen oder allen Eigentümern das Jagdrecht zur freien Ausübung belassen, bedürfte es – um die genannten Jagd- und Hegeziele zu erreichen – eines voraussichtlich erheblich höheren Regelungs- und Überwachungsaufwands durch den Staat, als dies gegenwärtig gegenüber den auch selbstverwaltend tätigen Jagdgenossenschaften der Fall ist. Ein solches System dürfte zumindest nicht geringere Belastungen des Grundeigentums mit sich bringen als das gegenwärtige.
Auch die Angemessenheitsprüfung führt zu keinem anderen Ergebnis. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass der Betroffene die Handlungen der Jagdgenossenschaft nicht passiv erdulden muss, sondern selbst aktiv mitwirken darf, bzw. zumindest einen Anspruch auf anteilsmäßige Zuweisung der Jagderträge hat. Er bekommt damit zumindest eine Art „Ersatz“. Dieser Ersatz hat zumindest einen objektiven Wert, nur hierauf kann es ankommen. Insgesamt stellt sich damit der Eingriff als verhältnismäßig mild dar und es überwiegen die Interessen, die für die Jagdgenossenschaft sprechen.
Eine Verletzung von Art. 14 GG scheidet also aus.
2. Verletzung Art. 9 GG
Ebenso wird auch eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG abgelehnt. Es handelt sich hierbei um einen öffentlich-rechtlichen Zwangszusammenschluss, der bereits nicht von Art. 9 GG erfasst ist.
Der Schutzbereich der durch Art. 9 Abs. 1 GG geschützten Vereinigungsfreiheit ist schon nicht berührt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts garantiert die Vereinigungsfreiheit nur das Recht, privatrechtliche Vereinigungen zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben (BVerfGE 10, 89 <102>; 15, 235 <239>; 38, 281 <297 f.>). Eine Anwendung des Grundrechts auf öffentlich-rechtliche Zwangszusammenschlüsse scheidet aus. Dies folgt nicht zuletzt aus der Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 1 GG (BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 7. Dezember 2001 – 1 BvR 1806/98 -, NVwZ 2002, S. 335 <336>).
3. Verletzung Art. 4 GG
Zwar ist offensichtlich der Schutzbereich der Gewissensfreiheit aus Art. 4 GG eröffnet, auch hier ist der Eingriff aber durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt. Es gilt hier Vergleichbares wie bei Art. 14 GG.
Der Gewissensfreiheit des Beschwerdeführers stehen mithin kollidierende Verfassungsgüter aus Art. 14 GG und Art. 20 a GG gegenüber. Es handelt sich dabei um die gleichen, auf verfassungsrechtliche Wertentscheidungen rückführbaren Ziele des Jagdrechts, die auch die jagdrechtliche Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundeigentums rechtfertigen.
4. Verstoß gg. Art 2 Abs. 1 GG
Mangels Einschlägigkeit von Art. 9 Abs. 1 GG ergeben sich die Grenzen einer Zulässigkeit der Zwangsmitgliedschaft aus Art. 2 Abs. 1 GG.
Zwangsverbände sind danach nur zulässig, wenn sie öffentlichen Aufgaben dienen und ihre Errichtung, gemessen an diesen Aufgaben, verhältnismäßig ist. Voraussetzung für die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Verbands mit Zwangsmitgliedschaft ist, dass der Verband legitime öffentliche Aufgaben erfüllt.
Diese legitimen Aufgaben werden, wie gezeigt, von der Bundesjagdgenossenschaft erfüllt.
5. Verstoß gg. Art. 3 Abs. 1 GG
Auch eine unzulässige Ungleichbehandlung muss abgelehnt werden, denn hier liegt (wie gezeigt) ein sachlicher Grund vor, große und kleine Grundstücke unterschiedlich zu behandeln. Ebensogut wäre es hier auch möglich, bereits die Gleichheit der beiden Gruppen zu verneinen.
6. Zwischenergebnis
Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts scheidet damit eine Verletzung des Klägers in Grundrechten aus.
II. Das Urteil des EGMR vom 26.6.2012
Eine neue Dynamik der Diskussion könnte sich aber durch eine aktuelle Entscheidung des EGMR ergeben. Das Urteil bezog sich auf  den identischen Sachverhalt wie das BVerfG und ist eine Folgeentscheidung hierzu. Interessant ist, dass sich der EGMR bereits zum zweiten Mal mit der Frage der Bundesjagdgenossenschaft auseinanderzusetzen hatte: Nachdem in einer Kammerentscheidung vor einem Jahr (20.01.2011) eine Verletzung von Menschenrechten noch (mit knapper Mehrheit) verneint wurde, so hat die Große Kammer diese nunmehr bejaht.
Dass der EGMR eine solche Frage überhaupt zu entscheiden hat, ergibt sich daraus, dass vergleichbare Rechte wie die deutschen Grundrechte von der EMRK geschützt sind: Artikel 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), Artikel 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) sowie insbesondere Artikel 1 Protokoll Nr. 1 zur EMRK (zum Schutz des Eigentums).

Art. 1  EMRK Schutz des Eigentums: Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.

1. Eingriff in Eigentum
Klar ist, dass ein Eingriff in das Eigentum vorliegt. Dieser könnte aber durch die Erfüllung der Allgemeininteressen gerechtfertigt sein. Eine solche Möglichkeit sieht die Regelung explizit vor. Der Gerichtshof stellte fest, dass zu den Zwecken des Bundesjagdgesetzes die Hege mit dem Ziel der Erhaltung eines artenreichen und gesunden Wildtierbestandes gehört. Es muss ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen gefunden werden. Insbesondere prüft der EGMR, ob die kritisierten Regelungen tatsächlich erforderlich sind, um die (anerkannten) Ziele zu erreichen, oder ob nicht eine andere weniger belastende Regelung geboten ist. Zudem wird auch eine Art Plausibilitätskontrolle der vorgebrachten Ziele durchgeführt.
Die Regelung wäre jedenfalls dann nicht plausibel, wenn sie nicht bundeseinheitlich gilt, da das verfolgte Ziel nur einheitlich geschützt werden kann. Durch die Föderalismusreform steht nun den Bundesländern die Möglichkeit zu, eigenständige Regelungen zu treffen. Diese haben sie allerdings (noch) nicht wahrgenommen, sodass die Regelung des BjagdG weiterhin bundeseinheitlich gilt. Aus diesem Grund lässt sich hieraus keine fehlende Plausibilität der Norm herleiten. Dessen ungeachtet scheint der EGMR die Möglichkeit der nicht bundeseinheitlichen Regelung zumindest als Gesichtspunkt gegen eine Rechtfertigung anzusehen.
Noch schwerer scheint nach Ansicht des EGMR zu wiegen, dass es von der Regelung des BJagdG Ausnahmen zu geben scheint. Auch dies widerspricht der Annahme, dass eine Regelung – ohne Abweichungsmöglichkeiten für den Einzelnen – zwingend notwendig sei.
Im Übrigen sieht die Gesetzgebung in allen drei Ländern bestimmte räumliche und personenbezogene Ausnahmen vor. So sind Natur- und Wildschutzgebiete in Frankreich und Deutschland von Jagdbezirken ausgeschlossen. In Frankreich und Luxemburg sind staatlicher Grundbesitz bzw. Land im Eigentum des Großherzogs von Jagdbezirken ausgeschlossen, während es in Deutschland unterschiedliche Regelungen je nach Größe des Grundeigentums gibt.
Dieses Argument erscheint allerdings wenig überzeugend. Zwar existieren in § 6 Abs. 1 BJagdG und § 20 BjagdG Ausnahmen, diese knüpfen allerdings an übergeordnetet Interessen an und sind damit sachlich begründet. Die Ausnahmen für Inhaber großer Grundstücke über 75 Hektar lässt zudem die Pflicht zur Jagd nicht entfallen, sondern weist sie dem Eigentümer allein zu, der dies effektiv erfüllen kann.
Ein weiterer Aspekt für die Unzulässigkeit der Regelung ergibt sich daraus, dass dem Betroffenen zwar finanzielle Ansprüche zustehen, diese aber explizit geltend gemacht werden müssen. Dies erscheint bei einer Belastung des Gewissens allerdings gerade problematisch.
In Deutschland muss der Anspruch auf eine solche Auszahlung ausdrücklich geltend gemacht werden. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass die Verpflichtung eines Jagdgegners, für die von ihm abgelehnte Tätigkeit eine Entschädigung geltend zu machen, nicht mit der Achtung für die Ablehnung der Jagd aus Gewissensgründen in Einklang zu bringen war. Es war zweifelhaft, ob tiefe persönliche Überzeugungen durch eine Entschädigungszahlung aufzuwiegen waren.
Die Verletzung des Eigentums wird damit mit einer Verletzung der Gewissensfreiheit gemischt. Insgesamt ergibt sich nach Ansicht des EGMR der Befund, dass der Eingriff in die Eigentumsrecht nicht gerechtfertigt ist: Zum einen weil der Zweck schon nicht erforderlich und unplausibel sei, zum anderen weil die Geltendmachung des möglichen Ersatzes nicht zumutbar ist. Hinsichtlich des Ersatzanspruchs erscheint die Entscheidung sehr gut vertretbar; hinsichtlich der Widerspruchsfreiheit der deutschen Regelung bleibt sie allerdings in einigen Punkten unklar. Aus der mangelnden Bundeseinheitlichkeit lassen sich noch Argumente gegen die Zielverfolgung des Gesetzes herleiten. Das Abstellen auf die Ausnahmen überzeugt hingegen nicht.
2. Eingriff in Gewissensfreiheit und Vereinigungsfreiheit
Ein Eingriff in weitere Vorschriften der EMRK wurde mangels Relevanz nicht mehr geprüft. Konsequenterweise müsste allerdings zumindest eine Verlettzung der Gewissensfreiheit bejaht werden.
Hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit sieht der EGMR hingegen gleiche Wertungen wie das BVerfG vor:
Unter Berücksichtigung dieser Umstände kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die auf dem Jagdgesetz des Landes Rheinland-Pfalz beruhenden Jagdgenossenschaften als Einrichtungen des öffentlichen Rechts anzusehen sind. Folglich ist Artikel 11 der Konvention in der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar.
3. Kurze Anmerkung zum Urteil
Hier wurde versucht, das Urteil so aufzubereiten, wie es in der Klausur zu prüfen wäre. Liest ma das urteil, so fällt im Gegensatz dazu auf, dass die Prüfung anders strukturiert ist: Hier wendet der EGMR eine Art case law Methode an. Für das luxemburgische und französische Jagdrecht ist ein ähnlicher Sachverhalt bereits entscheiden worden. Der EGMR hat deshalb nur begründet, warum sich die Fälle nicht strukturell unterscheiden und damit ein identisches Ergebnis (Unzulässigkeit der Jagdgenossenschaft) geboten war.
Einen solchen Unterschied lehnte er ab, so dass im Gegensatz zum BVerfG die Unzulässigkeit der Regelung zur Bundesjagdgenossenschaft bejaht worden.
III. Folgen für das deutsche Recht
  • Die Argumente des EGMR könnten durch den Kläger im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vorgebracht werden und damit suggeriert werden, dass es noch kein Urteil des EGMR gibt. In der Klausur müsste man sich damit nur fragen, ob diese Argumente plausibel sind. In der Besprechung wurde bereits versucht hierauf einzugehen.
  • Ebensogut ist es aber möglich, die „alte“ Verfassungsbeschwerde ohne die Argumente des EGMR abzuprüfen (wer diese dann trotzdem ansatzweise bringt, ist natürlich umso besser zu bewerten) und eine Zusatzfrage zu stellen, was passiert, wenn die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist, der EGMR aber eine Verletzung mit der EMRK feststellt. Kernfrage wäre dann, wie ein deutsches Gericht bzw. das BVerfG die Entscheidung einzubeziehen hat.
Die Antwort auf diese zweite Fallkonstellation soll an dieser Stelle kurz vorkonturiert werden:
Normenhierarchisch handelt es sich bei der EMRK um eine Regelung unterhalb der Verfassung. Sie hat den gleichen Rang wie einfaches nationales Recht, sodass das Urteil des EGMR nicht zu einer Unwirksamkeit oder Unanwendbarkeit der Regelungen des BjagdG führen kann. Hier zeigt sich damit auch ein zentraler Unterschied zum unionsrechtlichen Primärrecht.
Allerdings gleicht der Gewährleistungsrahmen der EMRK weitestgehend demjenigen des GG. Das BVerfG hat aus diesem Grund in der Entscheidung Görgülü am 14.10.2004 (2 BvR 1481/04) ausdrücklich festgestellt, dass Urteile des EGMR in der Entscheidung zu berücksichtigen sind. Alle staatlichen Organe sind damit verpflichtet (unter Berücksichtigung der Bindung an Recht und Gesetz aus Art. 20 Abs. 3 GG) einen Konventionsverstoß zu beenden. Das BVerfG hat zudem weiterhin konkretisiert, welche Folgen im Einzelnen aus einem Urteil des EGMR resultieren:
Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ können deshalb gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
 Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen.
Der Richter ist damit verpflichtet, das Urteil des EGMR in seine Rechtsfindung einzubeziehen. Eine entsprechende Nichtberücksichtigung kann – schlussendlich auch beim BVerfG – gerügt werden.
Vor diesem Hintergrund muss es jedenfalls möglich sein, gestützt auf das einschlägige Grundrecht, in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt. Dabei steht das Grundrecht in einem engen Zusammenhang mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vorrang des Gesetzes, nach dem alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit an Gesetz und Recht gebunden sind (vgl. BVerfGE 6, 32 <41>)
Unzulässig ist es allerdings, diekt ein Verletzung der EMRK beim BVerfG zu rügen.
Die Frage wäre damit wir folgt zu beantworten: Das Gericht muss das entsprechende Urteil des EMRK berücksichtigen und nach Möglichkeit die nationale Rechtsordnung hiermit in Einklang zu bringen. Eine Berücksichtigung scheidet aber dann aus, wenn das nationale Verfassungsrecht eine Nichtberücksichtigung zwingend gebietet, wenn also ein Verstoß gg. Art. 14 GG und Art. 9 GG ausgeschlossen ist. Dies kann wiederum nur durch das BVerfG festgestellt werden. Eine Verpflichtung des BVerfG nunmehr also anders zu entscheiden besteht damit nicht. Es ist allerdings zu erwarten, dass das Urteil dennoch entsprechend umgesetzt und beachtet wird, ist die Auslegung des EuGH doch nicht so massiv abweichend zur bisherigen Ansicht des BVerfG, als dass das Urteil des EGMR verfassungsrechtlichen Grundsätzen widerspricht. Zwingend ist dies allerdings nicht.
IV. Fazit
Viel gesagt werden muss zu dem Fall nicht mehr: Er wird sowohl die Gerichte als auch vor allem Studenten noch einige Jahre beschäftigen und hat das Zeug ein echter „Klassiker“ zu werden. Gerade die neuen Wertungen des EGMR und die Frage nach dem Verhältnis zum nationalen Recht erhöhen die Brisanz und Bedeutung der Fragestellung. Die Beschäftigung mit diesem Fall ist damit ein absolutes „Muss“.


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16.07.2012/4 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2012-07-16 09:30:532012-07-16 09:30:53EGMR vs. BVerfG: Das Ende der Jagdgenossenschaft?
Tom Stiebert

LG Karlsruhe: Entschädigung für (zu Unrecht) Sicherungsverwahrte

Deliktsrecht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Staatshaftung, Zivilrecht

Das LG Karlsruhe hat heute (25.04.2012) ein interessantes Urteil (2 O 278/11; 2O 279/11; 2 O 316/11) gefällt, das in den Medien für ein gewaltiges Blätterrauschen gesorgt hat  – schließlich bekamen vier zu Unrecht Sicherungsverwahrte Entschädigungsansprüche zwischen 49.000€ und 73.000€ zugesprochen. Eine – auf den ersten Blick – verhältnismäßig hohe Summe, die zudem deshalb in den Boulevardmedien auf Unverständnis stößt, weil es sich gerade nicht um unschuldig Verurteilte handelt, sondern von ihnen Taten wie Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und versuchter Mord begangen wurden.
Diese oftmals polemisch geführte Diskussion soll hier nicht aufgegriffen werden; vielmehr sollen die juristischen Hintergründe des Urteils aufgezeigt werden.
I. Grundlage des Urteils: Unzulässigkeit der Sicherungsverwahrung
Systematisch schließt sich das Urteil konsequenterweise der Rechtsprechung der letzten Jahre zur nachträglichen Sicherungsverwahrung an, die für unzulässig erklärt wurde. In diesem Zusammenhang ist das Urteil letztlich konsequent, wurde doch festgestellt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung unzulässig sei.
Zur Vertiefung dieser Problematik sei an dieser Stelle auf unsere entsprechenden Artikel hingewiesen:
Der EGMR hatte 2009 explizit festgestellt, dass die deutschen Regelungen unzulässig seien.
Ab 1.1.2011 wurde dann eine neue gesetzliche Regelung geschaffen; in der Zwischenzeit hatte sich in der Rechtsprechung eine Übergangslösung eingeprägt.
Klar ist damit aber auch, dass die Anwendung der nationalen Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung in der Vergangenheit gegen die EMRK verstoßen.
II. Dogmatische Verortung des Anspruchs
Das Urteil knüpft damit an die Verletzung der EMRK in den vergangenen 8 – 12 Jahren durch das jeweils maßgebliche Bundesland an, musste doch die Verhängung der Sicherungsverwahrung bzw. die Verlängerung durch die jeweiligen Richter angeordnet werden.
In den Medienberichten bleibt aber meist unklar, um welchen Anspruch es sich hier im konkreten Fall handelt – ist es ein Schadensersatzanspruch, ein Schmerzensgeld oder eine Entschädigung und wo liegen hierbei die Unterschiede? Parallelen zeigen sich hier zu zwei wichtigen Fällen: Dem Anspruch von Magnus Gäfgen wegen Androhung von Folterungen und dem Anspruch von Strafgefangenen wegen Unterbringung in zu kleinen Zellen (BVerfG v. 22.02.2001 – 1 BvR 409/09). Es handelt sich hierbei stets um einen Entschädigungsanspruch wegen Verletzung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Die exakte dogmatische Verortung lässt sich sehr gut dem Artikel zur causa Gäfgen entnehmen und soll deshalb hier nur ansatzweise dargestellt werden:
„Auch der Ersatz des immateriellen Schadens nach § 253 BGB ist ein Schadensersatz und kein Entschädigungsersatz. Schmerzensgeld stellt sich als eine Form des Schadensersatzes dar und soll gerade den erlittenen Schaden in Form der Schmerzen – also in Form des körperlichen Unbehagens – ersetzen; Zweck ist eine Kompensation. Aus diesem Grund wird dieser Ersatzanspruch nach besonderen festen Regeln berechnet (in der Praxis erfolgt die Berechnung anhand fester Schmerzensgeldtabellen, um ein angemessenes Verhältnis zur Art und Dauer der Verletzung zu erreichen) und orientiert sich an der Höhe der Verletzung, das heißt der Stärke der erlittenen Schmerzen. Ziel ist eine Kompensation des erlittenen Schadens – wie sich gerade aus dem Grundsatz des § 249 BGB ergibt.“
„Auch bei Verletzung der Menschenwürde sind Ersatzansprüche anerkannt (vgl. Caroline-Urteil) – die aber nicht mit Schadensersatzansprüchen zu verwechseln sind und damit auch nicht mit Schmerzensgeldzahlungen vergleichbar sind. Ein solcher Anspruch passt sich damit schwer in die Reihe der Anspruchsgrundlagen des BGB ein, wird aber aus § 823 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet. Für die Rechtsfolgen selbst passen dann freilich §§ 249 ff BGB nicht; vielmehr ist dieser Anspruch aus den Grundrechten selbst herleitbar.“
Unterschied zu Schadensersatz – Dogmatische Herleitung
Es besteht zudem auch in praktischer Hinsicht ein zentraler Unterschied zum Schmerzensgeldanspruch aus § 253 BGB – während hier ein konkreter Schaden (wenn auch in immaterieller Hinsicht) ersetzt wird, liegt dies bei einem Entschädigungsersatz nicht vor. Zentrale Unterschiede bestehen im Sinn und Zweck des Ersatzes: Dient der Schadensersatzanspruch der Kompensation eines Schadens und soll damit die entstandenen Verluste ausgleichen und den status quo ohne die schädigende Handlung wiederherstellen, so steht beim Entschädigungsanspruch die Genugtuung des Geschädigten im Vordergrund – die Verletzung der Menschenwürde soll geahndet werden. Ein Schaden – auch in immaterieller Hinsicht – ist hier gerade nicht ersichtlich, muss aber auch nicht bestehen. Damit ist eine Nähe – wenn auch keine Übereinstimmung – zu den angloamerikanischen punitive damages gegeben. Gestützt ist der Entschädigungsanspruch auf drei Grundlagen: der Genugtuungsfunktion, der Prävention und der Kompensation. Eine Bestrafung, wie bei punitive damages soll aber nicht erreicht werden. Dennoch soll verhindert werden, dass der Entschädigungsanspruch zu weitgehend gewährt wird. Ein Anspruch auf Entschädigung soll damit nur dann vorliegen, wenn eine Erheblichkeitsschwelle überschritten ist – nicht jede Verletzung der Menschenwürde führt damit automatisch zur Gewährung eines Entschädigungsanspruchs. Auch bei der Ermittlung der Höhe der Entschädigungsleistungen sind entsprechende Grundsätze und Ziele des Anspruchs zu beachten.“
Damit zeigt sich, dass auch hier ein Entschädigungsanspruch zu gewähren ist.
III. Höhe der Entschädigung
Wirken die gewährten Entschädigungen auf den ersten Blick verhältnismäßig hoch, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass pro Monat unzulässiger Sicherungsverwahrung nur 500€ (also ca. 17€ pro Tag) gewährt werden. Maßgeblich zur Berechnung müssen auch hier wieder die Ziele der Entschädigung sein: Genugtuung, Kompensation und Prävention. Unter diesen Gesichtspunkten scheinen die gewährten Beträge keineswegs zu hoch; ob sie zu niedrig sind, muss im Einzelfall näher betrachtet werden. Keine Rolle kann in diesem Zusammenhang spielen, dass es sich um zu Recht verurteilte Straftäter handelt; ihre Menschenwürde wiegt nicht weniger als die Menschenwürde eines Dritten.
IV. Anspruchsgegner und Rechtsgrundlage
Als letztes muss nach diesen dogmatischen Grundlagen noch geklärt werden, wie der Entschädigungsanspruch in der Klausur zu prüfen ist und gegen wen er sich richtet. Es handelt sich hierbei um einen Amtshaftungsanspruch – der Staat wird für sein in der Vergangenheit begangenes Unrecht in Anspruch genommen. Anspruchsgrundlage ist hierbei § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG. dabei ist folgende Prüfungsreihenfolge zu beachten:

  • Schädigung eines anderen – dies liegt hier vor, werden die zu Unrecht Sicherungsverwahrten doch in ihrer Menschenwürde verletzt. In der Klausur wäre an dieser Stelle die Argumentation des EGMR aufzunehmen
  • Amtspflichtverletzung eines Beamten – Die Gerichte, die die Sicherungsverwahrung anordneten sind unproblematisch als Beamte im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen. Problematisch ist aber, ob sie auch eine Amtspflicht verletzt haben, haben sie doch das nationale Recht zutreffend angewandt. Dazu legt das Gericht folgendes dar:
  • „Das Gericht betont, dass dem Land und seiner Justiz zwar kein Vorwurf gemacht werden könne, da die Vollstreckungsgerichte, die die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die zuvor geltende Zehnjahresfrist hinaus anordneten, das damals geltende Bundesrecht pflichtgemäß angewandt hätten. Das Land sei dennoch zu verurteilen, da die rückwirkende Aufhebung der Zehnjahresfrist gegen die EMRK verstoßen habe und diese bei konventionswidriger Freiheitsentziehung einen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch vorsehe.“ Die Anspruchsvoraussetzungen sind also insofern zu modifizieren, als das eine Verletzung der EMRK automatisch die Amtspflichtverletzung intendiert; unabhängig davon, ob nationale Normen verletzt werden. Der amtshaftungsanspruch bekommt damit eine Modifizierung durch die EMRK.
  • In Ausübung des Amtes
  • Kausalität, Rechtswidrigkeit, Schuld
  • Schaden – Hier wäre dann der Entschädigungsanspruch in Abgrenzung zum Schadensersatzanspruch zu prüfen. Ein Schaden als solcher ist zwar abzulehnen, dennoch ist nach dem oben gesagt der Anspruch zu gewähren um der Genugtuungsfunktion und der Erfüllung des Schutzauftrags aus Art. 1 GG und mittelbar der EMRK gerecht zu werden. Auch hier zeigt sich damit der Einfluss der EMRK.

V. Examensrelevanz und Ausblick
Dass der Fall für das Examen und die mündliche Prüfung relevant sein wird, ergibt sich bereits aus der Verknüpfung der verschiedenen Problemkreise. Diese sollten sowohl im Zusammenhang als auch für sich beherrscht werden.
Praktische Folgen hat das Urteil insofern, dass auch sämtliche weitere zu Unrecht nachträglich Sicherheitsverwahrte entsprechende Ansprüche geltend machen werden – nach Medienberichten handelt es sich hierbei um 70-100 Personen.

24.04.2012/2 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2012-04-24 18:45:512012-04-24 18:45:51LG Karlsruhe: Entschädigung für (zu Unrecht) Sicherungsverwahrte
Dr. Stephan Pötters

Kruzifix-Entscheidung des EGMR in zweiter Instanz gekippt – Kreuze in italienischen Klassen nicht menschenrechtswidrig

Europarecht, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht

Im November 2009 hatten wir über ein Urteil des EGMR berichtet (s. hier), in der die Strasbourger Richter entschieden hatten, dass das Aufhängen von Kruzifixen in staatlichen Schulen Italiens gegen die EMRK verstoße (Entscheidung vom 03.11.2009 – 30814/06). Der EGMR sah damals einen Verstoß gegen das Recht der Eltern , ihre Kinder ihren Überzeugungen entsprechend zu erziehen, gegeben. Zum anderen sei auch die Freiheit der Kinder verletzt, zu glauben oder dies nicht zu tun (Art. 2 des Protokolls Nr. 1 der EMRK in Verbindung Art. 9 EMRK). Gegen diese Kammerentscheidung hatte Italien Widerspruch eingelegt.
Nun hat die Große Kammer des EGMR genau anders entschieden (Urteil vom 18.03.2011 – 30814/06). Dem Staat sei ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Sofern er nicht aktiv indoktriniere, könne noch kein Verstoß gegen die Religionsfreiheit festgestellt werden. Das Kruzifix an der Wand sei eher ein schlichtes, passives Symbol, das nicht mit einem religiösen Vortrag etc. verglichen werden könnte.
In Deutschland gab es mit dem sog. Kruzifix-Beschluss des BVerfG (v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1)  eine sehr ähnliche, im Ergebnis aber deutlich restriktivere Entscheidung. Danach sind in bayerischen Schulen Kreuze/Kruzifixe nur in Bekenntnisschulen zulässig, ansonsten liegt ein Verstoß gegen Art. 4 I GG vor. Die Entscheidung des BVerfG ist freilich weiterhin „gültig“, denn es ist dem nationalen Verfassungsgeber erlaubt, einen weitergehenderen Schutz als den der EMRK zu garantieren.

19.03.2011/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2011-03-19 11:28:022011-03-19 11:28:02Kruzifix-Entscheidung des EGMR in zweiter Instanz gekippt – Kreuze in italienischen Klassen nicht menschenrechtswidrig
Dr. Christoph Werkmeister

Änderungsbedarf am Diskussionsentwurf zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung

Europarecht, Öffentliches Recht, StPO, Strafrecht

Beck-Aktuell berichtet über Diskussionen, die im Zusammenhang mit einem Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums entstanden sind:

Der Deutsche Richterbund stimmt dem Diskussionsentwurf […] größenteils zu. Er begrüßt er vor allem den Ausbau der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung und die Beschränkung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Allerdings kritisiert er vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 die vorgesehene Weitergeltung des Rechts der nachträglichen Sicherungsverwahrung für gefährliche Mehrfach- und Ersttäter in Altfällen sowie die Beibehaltung und Ausweitung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Erledigungserklärung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Außerdem moniert er, dass der Entwurf keine Neuregelung der Sicherungsverwahrung im Jugendgerichtsgesetz vorsieht.

Diese Diskussion über die Änderung des Rechts der Sicherungsverwahrung ist deshalb eine gute Möglichkeit, sich noch einmal mit den diesbezüglich ergangenen Urteilen des BVerfG und des EGMR zu beschäftigen.
In der mündlichen Prüfung kann hier über dieses Feld hinaus natürlich auch das generelle Verhältnis von EGMR, BVerfG (siehe zur Rechtsnatur der EMRK teilweise hier und hier) und neuerdings auch EuGH diskutiert werde. Interessant ist in diesem Kontext nämlich, dass die EU als Völkerrechtssubjekt (vgl. Art. 47 EUV) dem völkerrechtlichen Vertrag der EMRK beitreten soll (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV, zu den europarechtlichen Änderungen durch den Vertrag von Lissabon siehe hier; zur Reichweite der Bindungswirkung des EU-Rechts im innerstaatlichen Bereich siehe hier). Das Spannungsverhältnis dieser zwei Gerichte kann somit zu einer Grundsatzdiskussion politischer Natur führen, wie sie im Prüfungsgespräch durchaus gerne einmal angeregt wird.

09.11.2010/0 Kommentare/von Dr. Christoph Werkmeister
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Christoph Werkmeister https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Christoph Werkmeister2010-11-09 01:15:242010-11-09 01:15:24Änderungsbedarf am Diskussionsentwurf zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung
Dr. Stephan Pötters

EGMR vs. BVerfG: Ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung zulässig?

Europarecht, Öffentliches Recht, Strafrecht, Verfassungsrecht

Nachträgliche Sicherungsverwahrung menschenrechtswidrig?
Nach einem aktuellen Urteil des EGMR (Urteil vom 17.12.2009, Az.: 19359/04) hat Deutschland mit der Regelung zur   Sicherungsverwahrung gegen die EMRK verstoßen. § 67d StGB erlaubt auch nach der Verbüßung einer „lebenslangen“ Strafe die Sicherungsverwahrung eines gefährlichen Täters.
Freiheitsgarantie und Rückwirkungsverbot verletzt?
Die BRD habe nach Ansicht der Strasbourger Richter mit der rückwirkenden Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB in seiner Fassung nach Streichung der zeitlichen Begrenzung der Sicherungsverwahrung die EMRK verletzt. Die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung verstoße gegen das Recht auf Freiheit in Art. 5 EMRK und das Rückwirkungsverbot in Art. 7 EMRK. Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer deshalb eine Entschädigung von 50.000 Euro zu.
Interessant an dieser Entscheidung ist vor allem, dass diese Regelung bereits Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG war, und die Karlsruher Richter genau zu gegenteiligen Ergebnissen gekommen waren. Nach Ansicht des BVerfG sei das Rückwirkungsverbot (Art. 103 GG) auf die Sicherungsverwahrung nicht anwendbar. Hier sei die grundlegende Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung nach dem StGB zu beachten. Das absolute Rückwirkungsverbot für Strafen nach Art. 103 Abs. 2 GG sei auf Maßregeln der Besserung und Sicherung wie die Sicherungsverwahrung gerade nicht anwendbar.
Ganz anders der EGMR: Art. 5 § 1 EMRK sei verletzt, weil es hinsichtlich der Verlängerung der Sicherungsverwahrung keinen ausreichenden Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und seinem fortdauernden Freiheitsentzug gegeben habe.
Strafe oder nur Maßregel?
Weiter kritisierte der EGMR, dass die Verlängerung der Sicherungsverwahrung eine nachträglich auferlegte zusätzliche Strafe darstellt und deshalb gegen das Rückwirkungsverbot verstoße. Der EGMR argumentiert, dass die Sicherungsverwahrung einer Strafe sehr wohl ähnlich sei und daher die formale Trennung zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug nicht maßgebend sei. Die Sicherungsverwahrung bedeute genau wie eine gewöhnliche Haftstrafe einen Freiheitsentzug. In der Praxis seien Häftlinge in der Sicherungsverwahrung in gewöhnlichen Gefängnissen untergebracht. Zwar würden ihnen Verbesserungen bei den Haftbedingungen eingeräumt, was jedoch nichts an der grundlegenden Ähnlichkeit zwischen dem Vollzug einer normalen Haftstrafe und einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ändere. Auch gebe es keine ausreichende psychologische Betreuung speziell für die Bedürfnisse von Häftlingen in der Sicherungsverwahrung.
Fazit und Ausblick

Diese zwei divergierenden Entscheidungen sind vor allem für die mündliche Prüfung wichtig, denn hier wird häufig ein Ausflug in den AT des StGB zu eher unbekannten Vorschriften gewagt. Zudem sollte die prinzipielle Trennung von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung bekannt sein. Die Bundesregierung hat übrigens angekündigt, dass sie vorerst keine Konsequenzen aus der Entscheidung des EGMR ziehen will, sondern noch die Große Kammer des EGMR anrufen möchte (Art. 43 EMRK). Gleichwohl lohnt sich die Überlegung, was bei einem EGMR-Verstoß auf nationaler Ebene zu tun wäre. Zum einen könnte § 67d StGB völkerrechtskonform ausgelegt werden und zumindest die Rückwirkung ausgeschlossen werden. Eine wichtige Entscheidung des BGH zur „Umsetzung“ von EGMR-Entscheidungen betraf die Frage eines Verstoßes gegen die EMRK durch eine überlange Verfahrensdauer. Dies hat der BGH bei der Strafzumessung berücksichtigt. Ein solcher Weg scheint jedoch im vorliegenden Fall zum Schutz der Bevölkerung nicht gangbar.
Wichtige nachträgl. Anm.: Der obige Beitrag erschien vor der Entscheidung des BVerfG vom 4.5.2011 (2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326). In diesem Urteil gab das BVerfG seine bisherige Rechtsprechung auf und schloss sich der Ansicht des EGMR an (vgl. hierzu hier). Entscheidungen des EGMR, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, stehen nach Ansicht des BVerfG rechtserheblichen Änderungen gleich, die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können.

22.01.2010/2 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2010-01-22 14:37:302010-01-22 14:37:30EGMR vs. BVerfG: Ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung zulässig?
Dr. Stephan Pötters

EGMR: Kreuze in Klassenzimmern sind menschenrechtswidrig

Europarecht, Verfassungsrecht

Religionsfreiheit und Erziehungsrecht verletzt
In einem aktuellen Urteil (Entscheidung vom 03.11.2009 – 30814/06) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass in italienischen Klassen keine Kreuze hängen dürfen. Italien habe damit gegen das Recht der Eltern verstoßen, ihre Kinder ihren Überzeugungen entsprechend zu erziehen. Zum anderen sei auch die Freiheit der Kinder verletzt, zu glauben oder dies nicht zu tun (Art. 2 des Protokolls Nr. 1 der EMRK in Verbindung Art. 9 EMRK).  Der italienische Staat hatte argumentiert, dass das Kreuz aufgrund der prägenden Rolle der christlichen Religion für die italienische Geschichte letztlich auch ein Symbol für den italienischen Staat sei. Mit dieser Argumentation drang er jedoch nicht bei den Strasbourger Richtern durch.
Parallelen im nationalen Verfassungsrecht
Der Fall gibt Anlass, sich mit dem stets problematischen Themenkomplex „Religion und Verfassung“ zu befassen. In Deutschland gab es mit dem sog. Kruzifix-Beschluss des BVerfG (v. 16.5.1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1)  eine sehr ähnliche Entscheidung. Danach sind in bayerischen Schulen Kreuze/Kruzifixe nur in Bekenntnisschulen zulässig, ansonsten liegt ein Verstoß gegen Art. 4 I GG vor.
Weiterhin kann in diesem Kontext auf die hier besprochene Entscheidungen zum Berliner Ethikunterricht und zum Gebetsraum für muslimische Schüler hingewiesen werden. Auch zum Thema Kopftuch haben wir bereits zwei Beiträge veröffentlicht. Aus neuerer Rspr. sei auf das Burkini-Urteil des OVG Münster hingewiesen. Klassiker zu Art. 4 GG sind die BVerfG-Urteile zum Sexualkundeunterricht, Scientology und zu Kopftüchern an Schulen (hier ist zwischen Lehrerinnen, Referendarinnen und Schülerinnen zu differenzieren!).

04.11.2009/1 Kommentar/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-11-04 14:06:472009-11-04 14:06:47EGMR: Kreuze in Klassenzimmern sind menschenrechtswidrig
Dr. Stephan Pötters

Obligatorischer Ethikunterricht verstößt nicht gegen Menschenrechte (EGMR)

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Europarecht, Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Der EGMR entschied, dass ein verpflichtender Ethikunterricht, wie ihn das Land Berlin eingeführt hatte, das betroffene Kind und seine Eltern nicht in ihren Menschenrechten verletzt (Az: 45216/07, Rs. Appel-Irrgang vs. Germany).
Examensrelevanz
Dieses Urteil reiht sich in eine Reihe wichtiger Entscheidungen zum Problemkreis Religion und Verfassung ein. Vorneweg sind insofern natürlich die Kopftuch-Entscheidungen des BVerfG und des BVerwG zu nennen, aber auch die BVerfG-Klassiker zum Sexualkundeunterricht oder den Zeugen Jehova passen in diesen Kontext. Wichtig für Kölner Muslime: Auch die Teilnahme am Schulkarneval kann obligatorisch sein. In NRW gab es in diesem Jahr auch eine – beinahe skurrile – Entscheidung zum sog. Burkini (OVG Münster).
Art. 4 GG muss in all diesen Fällen sicher beherrscht werden. Die zahlreichen Auffassungen zu seiner Einschränkbarkeit, die von einem einfachen Gesetzesvorbehalt bis zu einem schrankenlosen Grundrecht reichen, sollten im Examen auf jeden Fall bekannt sein.
EGMR: Kein Anspruch auf Freistellung vom Ethikunterricht
Der EGMR entschied nun, dass die obligatorische Teilnahme an einem konfessionsübergreifenden Ethikunterricht nicht menschenrechtswidrig sei. Die Strasbourger Richter, die lediglich am Maßstab der EMRK kontrollieren und nicht am EGV/EUV oder gar am GG, wiesen insbesondere darauf hin, dass das betroffene Mädchen (freiwillig) am evangelischen Religionsunterricht hätte teilnehmen können. Die Berliner Regelungen würden sich innerhalb des staatlichen Ermessensspielraums bewegen und daher nicht die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 2 des Protokolls Nr. 1 der EMRK) verletzen. Der Staat hätte seine Neutralitätspflicht gewahrt, denn weder das Berliner Schulgesetz noch der konkrete Lehrplan würden eine Religion bevorteilen.
Bemerkenswert ist schließlich noch, dass die Kläger bereits vorher mehrfach bei deutschen Gerichten gescheitert waren und auch das BVerfG die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht nicht als verletzt ansahen (Beschluss vom 15. 3. 2007 – 1 BvR 2780/06, NVwZ 2008, 72).

22.10.2009/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2009-10-22 09:03:232009-10-22 09:03:23Obligatorischer Ethikunterricht verstößt nicht gegen Menschenrechte (EGMR)

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