Nach langer Zeit mal wieder ein Klassiker – wir starten eine neue Reihe mit Europarecht Klassikern. Klassiker des BGH im Strafrecht (BGHSt) und Zivilrecht (BGHZ) und des Bundesverfassungsgerichts haben wir ja bereits einige aufgelistet. Doch gerade auch im Europarecht ist es entscheidend, die wichtigen Entscheidungen zu kennen.
Mit dem Vertrag von Lissabon haben sich einige Artikel wieder einmal geändert und die wichtigen examensrelevanten Entscheidungen wie z.B. das van Gend & Loos Urteil des EuGH sind – wenn man das Urteil im Original liest – noch mit den alten Artikeln versehen. In der Reihe „Europarecht Klassiker“ soll neben der Darstellung des Sachverhalts, der Leitsätze und der Hervorhebung der entscheidenden Passagen der Entscheidungen (soweit möglich mit den neuen Artikel) auch kurz die Relevanz für die Klausur und die mündliche Prüfung besprochen werden.
Die EuGH Entscheidung in der Rs. 26 / 62 (van Gend & Loos) ist der Klassiker im Europarecht zur Frage der unmittelbaren Geltung der Verträge und ob sich auch unmittelbare Rechte des Einzelnen aus den Vertragsbestimmungen herleiten lassen.
Sachverhalt
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ging es um die niederländische Firma van Gend & Loos, die aus der BRD chemische Erzeugnisse in die Niederlande einfuhr. Am Zoll erhob die niederländische Finanzverwaltung anstatt des bis dahin gemeinschafseinheitlichen Zollsatzes einen erhöhten Wertzoll. Van Gend & Loos machte im Rahmen einer Klage geltend, dass der erhöhte Einfuhrzoll nicht mit der Warenverkehrsfreiheit vereinbar sei. Die Niederlande leugnete jedoch die unmittelbare Wirkung der Vorschriften über die Warenverkehrsfreiheit. Daraufhin wurde das Verfahren vom Gericht ausgesetzt und dem EuGH gemäß Artikel 267 AEUV vorgelegt, um die Frage zu klären, ob die Verträge unmittelbare Geltung haben und der Einzelne aus der in Artikel 30 AEUV verankerten Warenverkehrsfreiheit individuelle Rechte herleiten könne.
Leitsätze des Urteils
1. Voraussetzung für die Zuständigkeit des Gerichtshofes zur Vorabentscheidung ist nur, dass die vorgelegte Frage klar erkennbar die Auslegung des Vertrages betrifft.
2. Die Erwägungen, von denen das nationale Gericht bei der Formulierung seiner Frage ausgegangen ist, sowie die Erheblichkeit, die es dieser Frage im rahmen eines bei ihm anhängigen Rechtsstreites beimisst, sind im Verfahren der Vorabentscheidung der Nachprüfung durch den Gerichtshof entzogen. Vgl . Leitsatz Nr . 4 des Urteils in der Rechtssache 13/61. Zur Erhebung und Beurteilung von Tatsachen ist der Gerichtshof im Verfahren nach Artikel 267 AEUV des Vertrages nicht befugt.
3. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrecht eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.
4. Wenn der .. Vertrag in den Artikel 258 und 259 AEUV der Kommission und den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, den Gerichtshof anzurufen, falls ein Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, so wird dadurch den einzelnen nicht das Recht genommen, sich gegebenenfalls vor dem nationalen Richter auf diese Verpflichtungen zu berufen.
5. Nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut des EWG-Vertrages ist Artikel 30 AEUV dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkungen erzeugt und individuelle Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben.
6. Aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung von Artikel 30 AEUV des Vertrages ergibt sich, dass bei der Feststellung, ob Zölle und Abgaben gleicher Wirkung entgegen dem in der genannten Vorschrift enthaltenen Verbot erhöht worden sind, von den zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages tatsächlich angewandten Zöllen und Abgaben ausgegangen werden muss. Vgl. Leitsatz Nr. 1 des Urteils in der Rechtssache 10/61 …
7. Die Belastung eines und desselben Erzeugnisses mit einem höheren Zoll nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages stellt eine unerlaubte Erhöhung im Sinne von Artikel 30 AEUV dar, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Erhöhung sich aus einer Erhöhung des Zollsatzes im eigentlichen Sinne oder aus einer Neugliederung des Tarifs ergibt, welche die Einordnung des Erzeugnisses in eine höher belastete Tarifnummer zur Folge hat.
Entscheidung des EuGH
Die entscheidende Passage im van Gend & Loos Urteil:
„Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen funktionieren die der Gemeinschaft Angehörigen einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, dass dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet. Sie findet eine noch augenfälligere Bestätigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt. Zu beachten ist ferner, dass die Staatsangehörigen der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten dazu berufen sind, durch das europäische Parlament und den Wirtschafts – und Sozialausschuss zum funktionieren dieser Gemeinschaft beizutragen. Auch die dem Gerichtshof im Rahmen von Artikel 267 AEUV, der die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte gewährleisten soll, zukommende Aufgabe ist ein Beweis dafür, dass die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müssten sich vor den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können.
Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen.“
Bedeutung und Examensrelevanz
Das „van Gend & Loos“ Urteil ist eine der wichtigsten EuGH Entscheidungen. Zum einen hat der EuGH in dieser Entscheidung klar gestellt, dass es sich bei dem Gemeinschaftsrecht um eine von den Mitgliedsstaaten losgelöste eigenständige Rechtsordnung handelt. Zum anderen hat der EuGH hier in diesem Urteil entschieden, dass nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger der Mitgliedsstaaten Subjekte des Europarechts sein können.
In der Examensklausur lässt sich das Urteil gut in einer Zusatzfrage einbinden, wie das Verhältnis des Gemeinschaftsrecht zum nationalen Recht ist. Für die mündliche Prüfung ist die Kenntnis der Kernaussagen dieses Klassikers absolute Voraussetzung.
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