Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Marvin Granger veröffentlichen zu können. Der Autor hat seit 2007 an der Universität Münster studiert und in diesem Jahr sein Studium dort erfolgreich abgeschlossen.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 20. November 2012 in einem Urteil (Az: 1 AZR 179/11) entschieden, dass der gewerkschaftliche Aufruf zum Streik die Kirche als Arbeitgeberin nicht in ihrem verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verletzt. Bislang liegt nur die Presseerklärung zu der Entscheidung vor.
I. Sachverhalt
Geklagt hatte u.a. die Evangelische Kirche von Westfalen, die von der Gewerkschaft ver.di verlangt hatte, Warnstreikaufrufe in kirchlichen diakonischen Werken zu unterlassen. Die Kirche meinte, diese Aufrufe würden sie in ihrem Selbstverwaltungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verletzen. Dagegen hatte ver.di vorgebracht, wegen der vorbehaltlos gewährleisteten Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG, auch gegen die Kirche als Arbeitgeberin zum Warnstreik aufrufen zu dürfen. Trotz der zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite ausgehandelten Arbeitsbedingungen konnte die Kirche einseitig zwischen verschiedenen Arbeitsregelungen wählen.
Die Vorinstanz, das Landesarbeitsgericht Hamm, hatte die Klage der Kirche abgewiesen. Gegen diese Entscheidung hatte die Kirche Revision eingelegt.
II. Entscheidungsgründe
Das BAG hat nun das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm bestätigt. Zwar habe die Kirche gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV das Recht, ihre Angelegenheiten eigenständig zu ordnen und zu verwalten, doch dieses Recht sei nicht vollumfänglich gewährleistet, sondern
„funktional auf die Verwirklichung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG“ beschränkt, heißt es in der Presseerklärung. „Sein Schutzbereich umfasst auch die Entscheidung, die Arbeitsbedingungen der in der Diakonie beschäftigten Arbeitnehmer nicht mit Gewerkschaften durch Tarifverträge zu regeln, sondern entsprechend ihrem religiösen Bekenntnis einem eigenständigen, am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichteten Arbeitsrechtsregelungsverfahren zu überantworten.“
Zur Erläuterung: Dieses genannte Arbeitsrechtsregelungsverfahren am Leitbild der Dienstgemeinschaft wird von einem Gremium vorgenommen, das jeweils zum Teil aus Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite zusammengesetzt ist. Kommt es zwischen den Parteien zu Unstimmigkeiten, so werden diese durch eine Schlichtungskommission mit einem neutralen Vorsitzenden geklärt. Dieses Arbeitsrechtsregelungsverfahren bezeichnet man als sog. „Dritten Weg“. Daneben gibt es noch die Möglichkeiten, die Arbeitsbedingungen entweder einseitig durch Kirchengesetze (sog. „Erster Weg“) oder durch Tarifvertrag festzulegen (sog. „Zweiter Weg“) (Ehlers, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl., München 2011, Art. 140, Art. 137 WRV Rn. 10 m.w.N. ).
Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht hat im Rahmen der o.g. Grenzen einen weiten Schutzbereich und umfasst stets die Ausgestaltung kirchlicher Arbeitsverhältnisse (Ehlers, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl., München 2011, Art. 140, Art. 137 WRV Rn. 10. ) . Konsequenterweise ist deren Ausgestaltung durch staatliche Gerichte auch grundsätzlich nicht überprüfbar, denn in innerkirchliche – religiöse – Angelegenheiten hat der Staat sich wegen des aus Art. 4 Abs. 1 GG folgenden religiösen und weltanschaulichen Neutralitätsgebots nicht einzumischen.
Auch die Gewerkschaften dürfen sich in der Regel nicht in die innerkirchlichen privatrechtlichen Arbeitsregelungen einmischen, so das BAG, doch dies gelte nur,
„sofern diese (Anm.: also die Gewerkschaft) sich innerhalb des Dritten Weges noch koalitionsmäßig betätigen kann, die Arbeitsrechtssetzung auf dem Dritten Weg für die Dienstgeber verbindlich ist und als Mindestarbeitsbedingung den Arbeitsverträgen auch zugrunde gelegt wird.“
Auf die Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG können die Gewerkschaften sich dann also nicht berufen, denn dies würde im vorliegenden Fall die diakonische Tätigkeit der Kirche stark behindern und ihrer Glaubwürdigkeit schädigen, so das BAG. Zwar waren zwischen der Kirche und den Arbeitnehmern im Rahmen des „Dritten Weges“ Arbeitsrechtsregelungen ausgehandelt worden, doch diese waren für die Kirche nicht verbindlich, vielmehr konnte sie einseitig zwischen unterschiedlichen Regelungen wählen. Daher sei die Koalitionsfreiheit in diesem Fall nicht ausgeschlossen, so das BAG.
Die Kirche muss also die Warnstreikaufrufe dulden. Folglich war die Klage vom Landesarbeitsgericht Hamm zu Recht abgewiesen worden und dementsprechend die Revision unbegründet.
Anmerkungen/Prüfungsrelevanz
Der Fall kann auch für Prüfungen in der Ausbildung bzw. im Examen aus mehreren Gründen relevant sein:
• Man kann an der Entscheidung des BAG sehr schön sehen, dass die Gerichte in Fällen mit Grundrechtsbezug die widerstreitenden Grundrechte gegeneinander abwägen und zu einem möglichst schonenden Ausgleich bringen müssen (sog. praktische Konkordanz). Dabei darf nicht das eine Verfassungsgut ohne Rücksicht auf das andere über dieses gestellt werden, sondern beide Güter müssen berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. Die Verfassungsgüter begrenzen sich gegenseitig, sodass beide zu möglichst optimaler Wirkung gelangen können (Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 72. ). Wo diese „optimale“ Wirkung beider Güter liegt, muss im Einzelfall durch Abwägung im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung festgestellt werden (Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 72. ).
Im vorliegenden Fall des BAG standen sich das kirchliche Selbstverwaltungsrecht auf der einen und die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaft auf der anderen Seite gegenüber. Das Gericht hat festgestellt, dass die Koalitionsfreiheit nicht per se hinter das kirchliche Selbstverwaltungsrecht zurücktritt (obgleich dieses sehr weit geht, s.o.), sondern nur, sofern die Gewerkschaften bei der Aushandlung der Arbeitsrechtsregelungen hinreichend beteiligt worden sind und die erzielten Ergebnisse für die Arbeitgeberin (Kirche) als Mindestarbeitsbedingungen verbindlich sind. Streiks und Aufrufe hierzu sind dann rechtswidrig, weil die Arbeitnehmer sich nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen können. Dies war hier nicht der Fall (s.o.).
Es sollte, was die Rechtmäßigkeit von Streiks betrifft, unbedingt die Parallele zu Tarif-verträgen gesehen werden: Solange ein Tarifvertrag Geltung hat, sind Streiks rechtswidrig (sog. Friedensfunktion von Tarifverträgen). Hier wurde zwar kein Tarifvertrag geschlossen (Zweiter Weg), aber im Rahmen des Dritten Weges eine besondere vertragliche Vereinbarung. Auch diese entfaltet eine Friedensfunktion, wenn die Arbeitnehmer hinreichend beteiligt worden sind.
• Der Fall könnte im Examen, jedenfalls in der mündlichen Prüfung, einerseits als arbeitsrechtliche Aufgabe wie oben kommen. Denkbar ist jedoch wegen seiner Grundrechtsrelevanz andererseits auch, dass die Thematik in einer öffentlich-rechtlichen Prüfungsaufgabe gestellt wird, etwa im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde. Bei der Begründetheitsprüfung einer solchen „Urteilsverfassungsbeschwerde“ ist zu beachten, dass das BVerfG nur prüft, ob das Fachgericht (hier das BAG) spezifisches Verfas-sungsrecht verletzt hat. Dies ist nur dann der Fall, wenn das Fachgericht die Grund-rechtsrelevanz des Falles entweder komplett verkannt hat oder wenn es sie zwar gesehen, aber die widerstreitenden Grundrechte bei der Abwägung nicht hinreichend gewichtet hat (beides kann man dem BAG nicht vorwerfen). Die Sachentscheidung über-prüft das BVerfG dagegen nicht, denn das ist nach seiner ständigen Rechtsprechung al-lein die Aufgabe der Fachgerichte. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz.
Für eine solche Grundrechtsprüfung sei an dieser Stelle auf die etwas versteckten, aber nicht zu unterschätzenden „Weimarer Kirchenartikel“ (Art. 136-139, 141 WRV) hin-zuweisen. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Vorschriften, die gem. Art. 140 GG sog. inkorporiertes und damit voll gültiges Verfassungsrecht darstellen, die Religions-freiheit der Glaubensgemeinschaften ergänzen und überlagern. Sie sind besondere Ausprägungen der Religionsfreiheit. Daher sind auch diese Artikel verfassungsbeschwerdefähig. Wenn im Prüfungsfall eine Religionsgesellschaft (z.B. die Evangelische Kirche von Westfalen) also eine Verfassungsbeschwerde erhebt, ist nicht nur auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern auch auf Art. 140 GG i.V.m. den Weimarer Kirchenartikeln einzugehen.
• Gerade die Kombination zweier klassischer Rechtsgebiete – Arbeitsrecht und Verfassungsrecht – macht den Fall des BAG für das Examen interessant. Es geht im Kern mal wieder darum, wo die Religionsfreiheit (hier der Kirche, in spezieller Ausprägung des Selbstverwaltungsrechts) ihre Grenzen findet. Mit dem gleichen Problem hatten sich in jüngster Zeit schon andere Gerichte zu beschäftigen (z.B. BVerwG: Berliner Schulgebet; LG Köln: Beschneidung Minderjähriger).