In einer Beschluss vom 13. September 2010 (1 StR 423/10) hatte sich der BGH mit der Problematik des außertatbestandsmäßigen Handlungsziels beim Versuch zu beschäftigen – den meisten als sog. Denkzettelfälle bekannt.
Sachverhalt
Der später Geschädigte (G) hatte eine tätliche Auseinandersetzung mit einem Freund des Angeklagten (A), die dieser zunächst aus einiger Entfernung beobachtete. Er (A) wollte dann den G kampfunfähig machen, näherte sich ihm von der Seite und stach ihm mit bedingtem Tötungsvorsatz wuchtig ein Messer in den Bauch. Obwohl lebensgefährlich verletzt, bemerkte der G den Stich zunächst nicht und kämpfte sogar weiter. Zufällig kam kurz darauf eine Polizeistreife, die seine lebensrettende Behandlung veranlasste. A war nach dem Stich geflüchtet. Er ging – wie sich zeigte, zutreffend – davon aus, dass die „Wirkung auf den Geschädigten alsbald einsetzen würde“. Ob er dem Geschädigten weitere Stiche hätte versetzen können, bleibt ausdrücklich offen.
Lösung
A könnte sich wegen versuchten Totschlags gem. §§ 212, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben.
1. Tatbestand
a. Subjektiver Tatbestand: Tatentschluss (+), da zumindest bedingter Tötungsvorsatz
b. Objektiver Tatbestand: Unmittelbares Ansetzen (+), da Teilverwirklichung des Tatbestandes
2. Rechtswidrigkeit (+)
3. Schuld (+)
4. Persönliche Strafaufhebungsgründe
A könnte durch die Flucht nach dem Stich jedoch gemäß § 24 Abs. 1 StGB strafbefreiend zurückgetreten sein.
a. Kein fehlgeschlagener Versuch
Da ausdrücklich offen bleibt, ob weitere Stiche möglich gewesen wären, liegt (der Gesamtbetrachtungslehre folgend) kein fehlgeschlagener Versuch vor.
b. Beendeter oder unbeendeter Versuch
Hier ist zu prüfen, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorlag. Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter noch nicht alles getan zu haben glaubt, was nach seiner Vorstellung von der Tat zu ihrer Vollendung notwendig ist. Beendet dagegen ist der Versuch, wenn der Täter alles getan zu haben glaubt, was nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges notwendig oder möglicherweise ausreichend ist.
Der Versuch könnte deshalb beendet sein, weil der Angeklagte davon ausging, sein Ziel, die Kampfunfähigkeit des Geschädigten, erreicht zu haben, er also davon ausging, dass dies demnächst eintreten werde. (Die Jugendkammer ging wegen des Erreichens des außertatbestandmäßigen Handlungziels in diesem Fall davon aus, dass hier ein beendeter Versuch vorlag). Dies ist jedoch unzutreffend.
Der BGH in seiner Entscheidung hierzu:
Ob ein Versuch beendet ist oder nicht, richtet sich nicht nach der Vorstellung des Täters über ein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel, sondern über den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs (Rücktrittshorizont). Auch bei Erreichung des außertatbestandsmäßigen Ziels kann ein unbeendeter Versuch vorliegen, so dass bloßes Aufgeben weiterer Tatausführung für Rücktritt genügte (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 19. Mai 1993 – GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 ff).
Zusätzlich ist hier aber zu beachten, dass der Angeklagte eine mögliche tödliche Wirkung des Stichs billigend in Kauf genommen hat. Daher legt die Feststellung, der Angeklagte habe bei seiner Flucht unmittelbar nach dem Stich mit dessen baldiger Wirkung gerechnet, die Annahme nahe, er habe (auch) den baldigen Tod des Geschädigten für möglich gehalten. Zumindest wird aber deutlich, dass der Angeklagte jedenfalls keine gegenteiligen Erwägungen angestellt hat, er sich also – allenfalls – überhaupt keine Vorstellungen darüber gemacht hat, ob der Geschädigte sterben könne oder nicht.
Glaubt der Täter, sein bisheriges Verhalten werde zum Erfolg der Tat führen – oder macht er sich überhaupt keine Vorstellungen hierüber (vgl. BGHSt 40, 304, 306) – so liegt ein beendeter Versuch vor. (vgl. auch BGH 1 StR 59/08)
Mithin liegt hier ein beendeter Versuch vor.
c. Ein strafbefreiender Rücktritt verlangt dann, dass er erfolgreiche Bemühungen entfaltet, um den drohenden Eintritt des (schädlichen) Erfolgs seiner Tat zu verhindern (§ 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt StGB) oder ab im Falle der fehlenden Verhinderungskausalität sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern (§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB).
Ein auf erfolgreichen Rettungsbemühungen beruhender Rücktritt (vom beendeten Versuch) liegt offensichtlich nicht vor. Laut Sachverhalt wurde die lebensrettende Behandlung durch die zufällig erschienene Polizeistreife veranlasst.
Ein Sichbemühen, die Vollendung zu verhindern, d.h. ein bewusstes und gewolltes auf Verhindern der Vollendung gerichtetes Tätigwerden, ist hier ebenfalls nicht ersichtlich.
Grundvoraussetzung für die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts wäre daher, dass der Angeklagte nach dem Stich geglaubt hätte, tödliche Folgen würden schon allein deshalb ausbleiben, weil er nicht weiter auf ihn einsteche. Hiervon ist jedoch nicht auszugehen. Der Angeklagte wusste nach dem Stich, dass dieser tödliche Folgen haben konnte, und nahm dies billigend in Kauf.
Mithin hat die Anforderungen für eine Rücktrittshandlungen weder nach § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB noch nach § 24 Abs. 1 S. 2 StGB erfüllt. Somit ist A nicht strafbefreiend zurückgetreten.
Ergebnis: A hat sich wegen versuchten Totschlags gem. §§ 212, 22, 23 StGB (in Tateinheit mit vollendeter gefährlicher Körperverletzung) strafbar gemacht.
Anmerkung:
In manchen Strafrechtsklausuren kommt das Wort „Denkzettel“ selbst im Klausursachverhalt vor, so dass man weiß, worüber man sich im Rahmen seiner Klausurlösung Gedanken machen sollte. Schwierig sind jedoch die Fälle – wie hier in dem vorliegenden – wo dies nicht direkt aus dem Sachverhalt ersichtlich ist. Da es einem persönlich schwer fällt, dem Täter im Falle des Erreichens des außertatbestandlichen Handlungsziels / des Denkzettels die Rücktrittsmöglichkeit zu „gönnen“, lässt man diese dann gerne auch bei der Klausurlösung außer vor.
Dagegen sollte man sich mit zwei Automatismen bei der Prüfung des Versuchs behelfen:
1. Prüfe niemals den Versuch, ohne an Rücktritt zu denken!
2. Man sollte sich besser statt des Begriffs „Denkzettel“ den dazugehörigen Oberbegriff „außertatbestandsmäßiges Handlungsziel“ merken, um im Rahmen der Sachverhaltsanalyse nicht nur mithilfe dieses Wortes darauf aufmerksam zu werden, sondern auch in anderen Konstellationen diese Problematik zu erkennen, so etwa bei BGH NStZ 1997, 593 ff.:
Der Angekl. verletzte in Raubabsicht einen Taxifahrer durch Messerstiche schwer. Als es dem Verletzten nach Abwehrbewegungen gelang, aus dem Taxi zu springen, folgte ihm der Angekl. und rief, er solle stehenbleiben, er bringe ihn um. Da er wegen seiner verletzungsbedingten Schwächung eine Flucht für aussichtslos hielt, ging der Taxifahrer auf den Angekl. zu. Auf dessen Frage, wo das Geld sei, antwortete er, es sei im Auto. Als der Angekl. daraufhin zum Taxi ging, lief der Taxifahrer davon. Sein Leben konnte durch ärztliche Behandlung gerettet werden.
Hier lag das außertatbestandliche Handlungsziel in dem Erbeuten des Geldes.
Der BGH sagt dazu:
Auch wer von weiteren möglichen Tötungshandlungen deshalb absieht, weil er sein außertatbestandsmäßiges Handlungsziel (hier Erbeuten des Geldes) bereits erreicht hat, kann von einem Tötungsversuch strafbefreiend zurücktreten