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Schlagwortarchiv für: Corona

Lena Bleckmann

OLG Celle zur Strafbarkeit der Vorlage eines gefälschten Impfpasses

Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT

Im Oktober vergangenen Jahres erhielt u.a. eine Entscheidung des LG Osnabrück (Beschl. v. 26.10.2021 – 3 Ws 38/21) große Aufmerksamkeit: Sie befasste sich mit der Strafbarkeit der Vorlage gefälschter Impfausweise in einer Apotheke und lehnte diese im Ergebnis ab – juraexamen.info berichtete. Die Entscheidung bezog sich auf die alte Rechtslage, dasselbe gilt für ein nun vorliegendes Urteil des OLG Celle (Urt. v. 31.5.2022 – 1 Ss 6/22). Die Diskussion bleibt jedoch aktuell. Hier ein schneller Überblick zu den wichtigsten Eckpunkten.

I. Die Fragestellung und die Entscheidung des LG Osnabrück und anderer Gerichte

Der Knackpunkt: Die Voraussetzungen der urkundsstrafrechtlichen Spezialnormen, die sich auf Gesundheitszeugnisse beziehen (§§ 277 ff. StGB), präziser noch der Tatbestand des Gebrauchens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 279 StGB, war nicht erfüllt. Ein Rückgriff auf die allgemeinere Norm des § 267 StGB in Form des Gebrauchens einer unechten Urkunde (§ 267 Abs. 1 Var. 3 StGB) wurde zwar untersucht – denn auch das Gesundheitszeugnis ist eine Urkunde –, im Ergebnis aber wegen Spezialität der §§ 277 ff.  StGB abgelehnt. Das LG Osnabrück war nicht allein in der Auffassung, dass § 277 ff. StGB eine Sperrwirkung gegenüber § 267 StGB entfaltet (siehe etwa OLG Bamberg, Beschl. v. 17.1.2022 – 1 Ws 732-733/21; LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2021 – 19 QS 90/21).

II. Die abweichende Ansicht u.a. des OLG Celle

Andere Ansicht nun das OLG Celle. Schon im ersten Leitsatz heißt es dort: „Der Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB wird bei der Vorlage eines gefälschten Impfpasses in einer Apotheke zwecks Erlangung eines COVID-19-impfzertifikats nicht durch die Vorschriften der §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung verdrängt“. Zwar geht auch das OLG Celle davon aus, dass es sich bei § 279 StGB um eine gegenüber § 267 StGB speziellere Regelung handelt Eine Sperrwirkung soll aufgrund der Spezialität allerdings nur eintreten, wenn sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (siehe Rn. 16, 22). Dass dies im Hinblick auf das Gebrauchen von Gesundheitszeugnissen nach § 279 StGB bei Vorlage eines falschen Impfausweises in einer Apotheke nicht der Fall ist, ist unstreitig – die Apotheke ist schon keine Behörde, was die Norm jedoch bis zum 24.11.2021 voraussetzte (siehe hierzu ausführlich unseren Beitrag zur Entscheidung des LG Osnabrück). Eine Verdrängungswirkung gegenüber § 267 StGB lehnt das OLG Celle nunmehr mit Blick auf die ansonsten eintretende Privilegierung des Täters ab (Rn. 22.). Das Gericht nimmt eine mustergültige Auslegung nach Wortlaut, Historie, Systematik und Gesetzeszweck vor, die in dieser Struktur auch jedem Klausurbearbeiter anzuraten ist. Das Ergebnis ist dabei in der Klausur zweitrangig – das zeigen schon die zahlreichen divergierenden Entscheidungen, die mittlerweile vorliegen. Ebenso, wie die Auffassung des LG Osnabrück mehrere Anhänger fand, steht auch die Entscheidung des OLG Celle nicht allein. Zu demselben Ergebnis gelangten etwa bereits das OLG Hamburg (Beschl. v. 27.1.2022 – 1 WS 114/21), das OLG Stuttgart (Beschl. v. 8.3.2022 – 1 Ws 33/22) und das OLG Schleswig (Beschl. v. 31.3.2022).

III. Aktuelle Rechtslage und Ausblick

Die im vergangenen Jahr unter anderem vom LG Osnabrück bekundete Strafbarkeitslücke hat der Gesetzgeber zu schließen gesucht und den Gebrauch unrichtiger Impfbescheinigungen in § 75a Abs. 3 Nr. 2 IfSG unter Strafe gestellt. Auch wurde § 279 StGB erweitert und bezieht sich nunmehr auf die Täuschung im Rechtsverkehr, nicht mehr allein auf Täuschungen gegenüber Behörden und Versicherungsgesellschaften. Zwischen den nebenstrafrechtlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und §§ 278, 279 StGB in der aktuellen Fassung kann Idealkonkurrenz bestehen (BT-Drucks. 20/15, S. 35). Folgt man der Auffassung, die nun auch das OLG Celle vertritt, wären diese Anpassungen nicht zwingend notwendig gewesen, eine Strafbarkeitslücke hätte aufgrund der Anwendbarkeit des § 267 StGB nicht bestanden. Die aktuelle Entscheidung zeigt: Trotz der gesetzlichen Anpassungen läuft die Debatte weiter und bleibt so auch prüfungsrelevant. Es ist insbesondere Examenskandidaten zu empfehlen, hier auf dem Laufenden zu bleiben und sich mit den wesentlichen Argumentationslinien vertraut zu machen. Sowohl die aktuelle Gesetzeslage – trotz des Bezugs zum Nebenstrafrecht – als auch die gerichtlichen Entscheidungen, die sich noch auf die alte Rechtslage beziehen, sollten jedenfalls in ihren Grundzügen bekannt sein.

Im Oktober vergangenen Jahres erhielt u.a. eine Entscheidung des LG Osnabrück (Beschl. v. 26.10.2021 – 3 Ws 38/21) große Aufmerksamkeit: Sie befasste sich mit der Strafbarkeit der Vorlage gefälschter Impfausweise in einer Apotheke und lehnte diese im Ergebnis ab – juraexamen.info berichtete. Die Entscheidung bezog sich auf die alte Rechtslage, dasselbe gilt für ein nun vorliegendes Urteil des OLG Celle (Urt. v. 31.5.2022 – 1 Ss 6/22). Die Diskussion bleibt jedoch aktuell. Hier ein schneller Überblick zu den wichtigsten Eckpunkten.

I. Die Fragestellung und die Entscheidung des LG Osnabrück und anderer Gerichte

Der Knackpunkt: Die Voraussetzungen der urkundsstrafrechtlichen Spezialnormen, die sich auf Gesundheitszeugnisse beziehen (§§ 277 ff. StGB), präziser noch der Tatbestand des Gebrauchens unrichtiger Gesundheitszeugnisse nach § 279 StGB, war nicht erfüllt. Ein Rückgriff auf die allgemeinere Norm des § 267 StGB in Form des Gebrauchens einer unechten Urkunde (§ 267 Abs. 1 Var. 3 StGB) wurde zwar untersucht – denn auch das Gesundheitszeugnis ist eine Urkunde –, im Ergebnis aber wegen Spezialität der §§ 277 ff.  StGB abgelehnt. Das LG Osnabrück war nicht allein in der Auffassung, dass § 277 ff. StGB eine Sperrwirkung gegenüber § 267 StGB entfaltet (siehe etwa OLG Bamberg, Beschl. v. 17.1.2022 – 1 Ws 732-733/21; LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2021 – 19 QS 90/21).

II. Die abweichende Ansicht u.a. des OLG Celle

Andere Ansicht nun das OLG Celle. Schon im ersten Leitsatz heißt es dort: „Der Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB wird bei der Vorlage eines gefälschten Impfpasses in einer Apotheke zwecks Erlangung eines COVID-19-impfzertifikats nicht durch die Vorschriften der §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung verdrängt“. Zwar geht auch das OLG Celle davon aus, dass es sich bei § 279 StGB um eine gegenüber § 267 StGB speziellere Regelung handelt Eine Sperrwirkung soll aufgrund der Spezialität allerdings nur eintreten, wenn sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (siehe Rn. 16, 22). Dass dies im Hinblick auf das Gebrauchen von Gesundheitszeugnissen nach § 279 StGB bei Vorlage eines falschen Impfausweises in einer Apotheke nicht der Fall ist, ist unstreitig – die Apotheke ist schon keine Behörde, was die Norm jedoch bis zum 24.11.2021 voraussetzte (siehe hierzu ausführlich unseren Beitrag zur Entscheidung des LG Osnabrück). Eine Verdrängungswirkung gegenüber § 267 StGB lehnt das OLG Celle nunmehr mit Blick auf die ansonsten eintretende Privilegierung des Täters ab (Rn. 22.). Das Gericht nimmt eine mustergültige Auslegung nach Wortlaut, Historie, Systematik und Gesetzeszweck vor, die in dieser Struktur auch jedem Klausurbearbeiter anzuraten ist. Das Ergebnis ist dabei in der Klausur zweitrangig – das zeigen schon die zahlreichen divergierenden Entscheidungen, die mittlerweile vorliegen. Ebenso, wie die Auffassung des LG Osnabrück mehrere Anhänger fand, steht auch die Entscheidung des OLG Celle nicht allein. Zu demselben Ergebnis gelangten etwa bereits das OLG Hamburg (Beschl. v. 27.1.2022 – 1 WS 114/21), das OLG Stuttgart (Beschl. v. 8.3.2022 – 1 Ws 33/22) und das OLG Schleswig (Beschl. v. 31.3.2022).

III. Aktuelle Rechtslage und Ausblick

Die im vergangenen Jahr unter anderem vom LG Osnabrück bekundete Strafbarkeitslücke hat der Gesetzgeber zu schließen gesucht und den Gebrauch unrichtiger Impfbescheinigungen in § 75a Abs. 3 Nr. 2 IfSG unter Strafe gestellt. Auch wurde § 279 StGB erweitert und bezieht sich nunmehr auf die Täuschung im Rechtsverkehr, nicht mehr allein auf Täuschungen gegenüber Behörden und Versicherungsgesellschaften. Zwischen den nebenstrafrechtlichen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und §§ 278, 279 StGB in der aktuellen Fassung kann Idealkonkurrenz bestehen (BT-Drucks. 20/15, S. 35). Folgt man der Auffassung, die nun auch das OLG Celle vertritt, wären diese Anpassungen nicht zwingend notwendig gewesen, eine Strafbarkeitslücke hätte aufgrund der Anwendbarkeit des § 267 StGB nicht bestanden. Die aktuelle Entscheidung zeigt: Trotz der gesetzlichen Anpassungen läuft die Debatte weiter und bleibt so auch prüfungsrelevant. Es ist insbesondere Examenskandidaten zu empfehlen, hier auf dem Laufenden zu bleiben und sich mit den wesentlichen Argumentationslinien vertraut zu machen. Sowohl die aktuelle Gesetzeslage – trotz des Bezugs zum Nebenstrafrecht – als auch die gerichtlichen Entscheidungen, die sich noch auf die alte Rechtslage beziehen, sollten jedenfalls in ihren Grundzügen bekannt sein.

14.06.2022/0 Kommentare/von Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Lena Bleckmann2022-06-14 10:28:002022-08-03 08:29:10OLG Celle zur Strafbarkeit der Vorlage eines gefälschten Impfpasses
Tobias Vogt

Erstes BGH-Urteil zur Gewerberaummiete während Coronalockdown

BGB AT, Examensvorbereitung, Mietrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Muss ein gewerblicher Mieter die Ladenmiete weiterzahlen während er sein Ladengeschäft aufgrund einer staatlichen Maßnahme zur Bekämpfung der Coronapandemie nicht für den Kundenverkehr öffnen darf? Diese Frage stellten sich nicht nur die betroffenen Mieter und Vermieter sondern auch Öffentlichkeit und Juristen seit dem Beginn der Coronakrise im Frühjahr 2020. Mit Spannung erwartet wurde daher die brandaktuelle Entscheidung des BGH – zumal sich die Oberlandesgerichte in dieser Rechtsfrage nicht einig waren. Die Examensrelevanz dürfte damit auf der Hand liegen.
Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang:
Dem Urteil liegt ein Rechtstreit zwischen Kik (Einzelhandel für Textilien aller Art sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs) und dessen Vermieterin zugrunde. Aufgrund einer Allgemeinverfügung anlässlich der Coronapandemie musste das Ladengeschäft im Zeitraum vom 19. März bis zum 19. April 2020 geschlossen bleiben. Die Vermieterin verlangte auch für diesen Zeitraum die Zahlung der vollen Miete, wozu Kik nicht bereit war.
Das erstinstanzlich zuständige Landgericht verurteilte Kik zur Zahlung der Miete in voller Höhe (LG Chemnitz Urteil vom 26.8.2020 – 4 O 639/20).
Mit der Berufung hatte Kik jedoch teilweise Erfolg: Das OLG Dresden (OLG Dresden Urteil vom 24.2.2021 – 5 U 1782/20) sah nur die Hälfte der Miete als geschuldet an. Das OLG Dresden stütze sich hierbei auf eine Vertragsanpassung wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB. In der Regel sei bei einer coronabedingten Schließung eine Reduzierung der Kaltmiete um 50 % gerechtfertigt, weil keine der Vertragsparteien eine Ursache für die Störung der Geschäftsgrundlage gesetzt oder sie vorhergesehen hat. Es sei demzufolge angemessen, die damit verbundene Belastung gleichmäßig auf beide Parteien zu verteilen.
Divergierende OLG-Rechtsprechung:
Andere Ansicht als das OLG Dresden und das mit diesem auf einer Linie liegende Kammergericht Berlin (KG Urteil vom 1.4.2021 – 8 U 1099/20) ist das OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20, Revision anhängig beim BGH unter dem Az. XII ZR 15/21): Die Karlsruher Oberlandesrichter kamen zum Ergebnis, dass die volle Miete zu zahlen sei. Eine Anpassung des Vertrags gemäß § 313 Abs. 1 BGB lehnten sie ab. Dem Mieter sei das unveränderte Festhalten am Gewerberaummietvertrag in der Regel erst dann unzumutbar, wenn dessen Inanspruchnahme zur Vernichtung seiner Existenz führen würde; unter Umständen genüge auch bereits eine schwere Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Fortkommens. Hierbei zu berücksichtigen sei auch, ob der Mieter öffentliche oder sonstige Zuschüsse erhalten hat, mit denen er die Umsatzausfälle infolge staatlicher Beschränkung jedenfalls teilweise kompensieren kann, und ob er Aufwendungen erspart hat (zB wegen Kurzarbeitergeld oder weggefallenen Wareneinkaufs).
Urteil des BAG vom 12.01.2022, Az. XII ZR 8/21:
Auf die Revisionen der Vermieterin, die nach wie vor die volle Miete verlangt, und der Beklagten Kik, die ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, hat der Bundesgerichtshof das Urteil des OLG Dresden aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
Zunächst stellt der für gewerbliches Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat klar, dass die Anwendbarkeit der mietrechtlichen Gewährleistungsvorschriften und der Regelungen des allgemeinen schuldrechtlichen Leistungsstörungsrechts, insbesondere des § 313 BGB zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, nicht durch die für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. September 2022 geltende Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB ausgeschlossen ist. Diese Regelung habe nach seinem eindeutigen Wortlaut und seinem Gesetzeszweck allein eine Beschränkung des Kündigungsrechts des Vermieters zum Ziel und sage nichts zur Höhe der geschuldeten Miete aus.
Bevor der BGH auf eine mögliche Anpassung nach § 313 BGB zu sprechen kommt, äußert er sich zum Vorliegen eines Mangels nach § 536 Abs. 1 S. 1 BGB, der zum Wegfall oder zur Minderung der Miete qua Gesetz führen würde:
Ein Mangel liege nicht vor, so der BGH. Ergeben sich aufgrund von gesetzgeberischen Maßnahmen während eines laufenden Mietverhältnisses Beeinträchtigungen des vertragsmäßigen Gebrauchs eines gewerblichen Mietobjekts, kann dies zwar einen Mangel i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang steht (so bereits BGH Urteil vom 13.7.2011 – XII ZR 189/09). Die mit der Schließungsanordnung verbundene Gebrauchsbeschränkung der Beklagten erfülle diese Voraussetzung nicht. Denn die behördlich angeordnete Geschäftsschließung knüpfe allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenden Publikumsverkehr an, der die Gefahr einer verstärkten Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus begünstigt und der aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte.
Der BGH weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch die Allgemeinverfügung weder der Vermieterin die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume im Übrigen noch der Mieterin tatsächlich oder rechtlich die Überlassung der Mieträumlichkeiten verboten wird. Das Mietobjekt stand daher trotz der Schließungsanordnung weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung.
Das Vorliegen eines Mangels i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich nach der Entscheidung des BGH auch nicht aus dem im vorliegenden Fall vereinbarten Mietzweck der Räumlichkeiten zur „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs“. Der Mieter könne nicht davon ausgehen, dass die Vermieterin mit der Vereinbarung des konkreten Mietzwecks eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten Öffnungsuntersagung im Falle einer Pandemie übernehmen wollte.
Da demnach grundsätzlich nach dem Mietvertrag die volle Miete geschuldet ist, bliebe nur noch die Möglichkeit der Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB. Dies komme in Fällen der coronabedingten Geschäftsschließung grundsätzlich in Betracht, betont der XII. Zivilsenat.
Auch bejaht der BGH das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzung des § 313 Abs. 1 BGB – der schwerwiegenden Störung der Geschäftsgrundlage des Mietvertrags durch die behördliche Schließung des Ladengeschäfts aufgrund der Coronapandemie. Hierfür spreche auch die als Reaktion auf die Coronapandemie vom Gesetzgeber neu eingefügte Regelung des Art. 240 § 7 EGBGB, wonach vermutete wird, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, wenn vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar sind.
Eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB erfolgt jedoch nur, wenn auch die weitere – normative – Voraussetzung der Vorschrift erfüllt ist. Dies setzt voraus, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
Hierbei konnte der BGH nicht auf die Vermutungsregel des Art. 240 § 7 EGBGB zurückgreifen. Denn diese führt aber nicht etwa dazu, dass stets von dem Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen des § 313 BGB auszugehen wäre: Die Regelung schafft eine tatsächliche Vermutung, dass sich ein Umstand iSd § 313 Abs. 1 BGB, der Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsabschluss schwerwiegend verändert hat. Die Vermutung ist widerleglich und gilt nur für dieses reale Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB. Das normative Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB, dass dem einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen und gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann, wird von der Vermutungsregelung nicht erfasst (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20; so auch Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5).
Der BGH stellt ausdrücklich klar, dass – wie in § 313 Abs. 1 vorgesehen – auch in Fällen der coronabedingten Ladenschließung stets eine umfassende Einzelfallabwägung erforderlich ist. Einer pauschalen Halbierung der Miete, wie sie das OLG Dresden vorgenommen hatte, schiebt der BGH damit einen Riegel vor.
Zwar ist auch nach der Ansicht des BGH regelmäßig eine Anpassung vorzunehmen, da sich durch die Covid-19-Pandemie letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht hat und die Betriebsschließung gerade nicht auf einer unternehmerischen Entscheidung oder enttäuschten Gewinnerwartung des Mieters beruhe. Daher könne das hiermit verbundene Risiko regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden. Die Entscheidung darüber, ob und in welcher Höhe eine Reduzierung der Miete erfolge, bedarf jedoch stets einer Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls.
Der BGH nennt in seiner Pressemitteilung sogleich die maßgeblichen Faktoren für die Einzelfallabwägung:
Zunächst ist zu untersuchen, welche konkreten Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden sind. Hierbei ist auf den konkreten Umsatzrückgang in dem konkreten Mietobjekt abzustellen – ein möglicher Konzernumsatz ist nicht von Belang.
Zu berücksichtigen sei auch, welche Maßnahmen der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern. In der Pressemitteilung sind noch keine konkreten Maßnahmen benannt. Man könnte hier etwa an Kurzarbeit oder verstärkten Onlinehandel denken.
Da eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage aber nicht zu einer Überkompensierung der entstandenen Verluste führen darf, sind bei der Prüfung der Unzumutbarkeit grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat. Dabei können auch Leistungen einer ggf. einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines Darlehens gewährt wurden, bleiben hingegen bei der gebotenen Abwägung außer Betracht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen erreicht.
Zudem seien auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen.
Nicht erforderlich sei eine tatsächliche Gefährdung der Existenz des Mieters. Somit erteilt der BGH bereits in diesem Verfahren auch der Rechtsprechung des OLG Karlsruhe eine Absage, über die er noch gesondert zu entscheiden hat.
Fazit:
Die Grundsätze dieser Entscheidung sollte aufgrund der enormen medialen Aufmerksamkeit sowie der Bezugspunkte zu den beliebten Prüfungsfeldern des Mietrechts sowie des allgemeinen Teils des BGB jeder Examenskandidat beherrschen.
Im Gutachten sollten der Reihe nach sämtliche Probleme geprüft werden. Stürzen sich Examenskandidaten bei der Falllösung sofort auf das Hauptproblem des § 313 BGB, so begehen sie einen großen Fehler. Ansonsten werden kostbare Punkte für die übrigen Probleme des Falls liegengelassen.
Was man aus dem Urteil auf jeden Fall mitnehmen sollte:

  • Sofern keine ausdrückliche vertragliche Regelung zur Einstandspflicht des Vermieters für den Fall einer coronabedingten Ladenschließung besteht, liegt kein Mangel gemäß § 536 Abs. 1 BGB vor.

 

  • Für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB bedarf es neben dem tatsächlichen Element der erheblichen Störung der Geschäftsgrundlage zudem eines Vorliegens des normativen Elements der Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag.

 

  • Das tatsächliche Element dürfte unproblematisch Vorliegen, diesbezüglich greift auch die Vermutung des Art. 240 § 7 EGBGB.

 

  • In der Regel ist das allgemeine Lebensrisiko der coronabedingten Ladenschließung von keiner Vertragspartei voll zu tragen. Einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters bedarf es für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB nicht.

 

  • Für die Feststellung der Unzumutbarkeit und die Bemessung der Höhe der etwaigen Reduzierung der Miete bedarf es stets einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Eine pauschale Halbierung der Miete kommt nicht in Betracht.

 

  • Maßgeblich sind insbesondere der konkrete Umsatzrückgang des gewerblichen Mieters bezogen auf das konkrete Mietobjekt, die getroffenen oder möglichen Maßnahmen des Mieters zur Verringerung des Verlustes, das Eingreifen von staatlichen Leistungen oder einer Betriebsversicherung des Mieters (nicht jedoch eines Darlehens) sowie die Interessen des Vermieters.

12.01.2022/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2022-01-12 11:41:392022-01-12 11:41:39Erstes BGH-Urteil zur Gewerberaummiete während Coronalockdown
Alexandra Ritter

Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG (Teil 2)

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Nach dem ersten Teil der Besprechung des Urteils des BVerfG zur sog. Bundesnotbremse im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen, hier nun der zweite Teil, der die Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen in den Blick nimmt.
II. Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG geschützte Fortbewegungsfreiheit ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass die Beschwerdeführer als natürliche Personen vom Schutzbereich umfasst sind.
Der sachliche Schutzbereich bezieht sich auf die „im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen […]. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können […]. Die Fortbewegungsfreiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille […].“ (Rn. 241)
Der Schutzbereich der Fortbewegungsfreiheit ist somit eröffnet.
b) Eingriff
aa) Fortbewegungsfreiheit
Ein Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit liegt vor, „wenn die betroffene Person durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum, der ihr an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen […].“ (Rn. 243)
Die Regelung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG wirkt zunächst jedoch psychisch und nicht physisch. Zu dieser Eingriffskonstellation nimmt das BVerfG ausführlich Stellung. Im Einzelnen:
„Für den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist konstitutiv, dass die Betroffenen durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert werden, einen Ort oder Raum, der ihnen an sich tatsächlich und rechtlich zugänglich ist, aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen zu verlassen. […] In notwendiger Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit […] können aber auch staatliche Maßnahmen in die Fortbewegungsfreiheit eingreifen, die auf den Willen des Betroffenen zur Ausübung der Fortbewegungsfreiheit in vergleichbarer Weise wirken wie bei unmittelbarem Zwang. Hebt staatlich veranlasster körperlich wirkender Zwang die an sich tatsächlich und rechtlich bestehende Möglichkeit auf, von der Fortbewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, handelt es sich stets um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Regelmäßig genügt dafür aber auch bereits, dass solcher Zwang angedroht wird oder ein Akt der öffentlichen Gewalt die rechtliche Grundlage für die Anwendung derartigen Zwangs schafft […]. Dementsprechend kann in die Fortbewegungsfreiheit auch durch allein psychisch vermittelten Zwang eingegriffen werden. Um einen gegen den Willen auf Ausübung der Fortbewegungsfreiheit gerichteten staatlichen Eingriffsakt annehmen zu können, bedarf es einer davon ausgehenden Zwangswirkung, die nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar ist […]. Ob eine vergleichbare Zwangswirkung gegeben ist, richtet sich nach den konkreten tatsächlichen und rechtlichen Umständen. Für einen Eingriff können staatlich angeordnete Verbote genügen, einen bestimmten Ort oder Bereich nicht ohne Erlaubnis zu verlassen […].“ (Rn. 246)
Die Ausgangsbeschränkungen vermitteln psychisch einen Zwang, sie einzuhalten und von der Fortbewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen (Rn. 247). Bezüglich der Vergleichbarkeit der Zwangswirkung mit unmittelbar physisch wirkendem Zwang, stellt das BVerfG zum einen darauf ab, dass ein Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkungen mit physisch wirkendem Zwang im Rahmen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts durchsetzbar ist – das allein genügt aber nicht, denn „ansonsten würde sich Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wegen der Möglichkeit, mit gefahrenabwehrrechtlichen Maßnahmen auf jeden Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung zu reagieren, zu einer Art Übergrundrecht wandeln.“ (Rn. 248)
Deshalb hält es zum anderen fest, dass das verbotene Verhalten selbst einen deutlichen Bezug zur Fortbewegungsfreiheit aufweist, indem es für ein knappes Drittel der Tageszeit verboten war, sich außerhalb einer Wohnung aufzuhalten (Rn. 248). Die Vergleichbarkeit sei somit gegeben.
bb) Freiheitsentziehung gem. Art 104 Abs. 2 GG
Die Schwelle der Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104 Abs. 2 GG wurde durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nach Auffassung des BVerfG nicht überschritten (Rn. 250). Eine Freiheitsentziehung liegt vor, „wenn die Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird, was eine besondere Eingriffsintensität und grundsätzlich eine nicht nur kurzfristige Dauer der Maßnahme voraussetzt […]“ (Rn. 250). Dadurch dass der Ort – unter Wahrung der geltenden Kontaktbeschränkungen und soweit es sich um eine Wohnung oder Unterkunft handelte – frei ausgewählt werden konnte und die Maßnahme auf Zeiten geringer Mobilität beschränkt war, ist die Schwelle zur Freiheitsentziehung nicht überschritten (Rn. 250).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Fortbewegungsfreiheit unterliegt der Schranke von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG
In Bezug auf die formelle Verfassungsmäßigkeit gelten die Ausführungen zu den Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Erneut sei an dieser Stelle auf die Darstellung der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und mit dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verzichtet. Die Vereinbarkeit wird vom BVerfG bejaht.
(1) Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch ein Gesetz
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG gestattet den Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit auf Grund eines Gesetzes. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG greift als selbst vollziehendes Gesetz jedoch unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in den Schutzbereich ein. Eine enge Wortlautauslegung der Schranken würde dazu führen, dass Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit durch solche selbst vollziehenden Gesetze stets materiell verfassungswidrig sind.
Das BVerfG geht jedoch nicht von diesem engen Schrankenbegriff aus. Es erkennt an, dass der Wortlaut auf ein kompetenzielles Verständnis der Schranken (i.S.e. Verwaltungsvorbehalts), hindeuten kann (Rn. 268). Dagegen argumentiert es dennoch wie folgt:
„Wenn aber Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG auch auf selbstvollziehende Maßnahmen des Gesetzgebers Anwendung findet, obwohl diese für sich genommen nicht unmittelbar körperliche Zwangswirkung entfalten, ist es konsequent, dass auch ein solcher legislativer Grundrechtseingriff der Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG genügen kann.“ (Rn. 268)
Weiter führt es dazu aus:
„Nichts spricht dafür, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nach ihrem Zweck gegenüber dem Gesetzgeber ein absolutes, uneinschränkbares Recht begründen soll. Wird der Gesetzgeber selbst unmittelbar an dieses Grundrecht gebunden, muss er umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können. Der Schrankenvorbehalt steht dem nicht entgegen. Bei Eingriffen in die Fortbewegungsfreiheit unmittelbar durch Gesetz droht kein mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz. Die gesetzliche Anordnung des Freiheitseingriffs schafft keine Lage, die die Schutzmechanismen des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz und Satz 2 GG auslösen müsste. Teleologische Gründe sprechen daher bei einem erweiterten Eingriffsverständnis dagegen, die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen.“ (Rn. 272)
(Zusätzlich nimmt das BVerfG eine gesetzeshistorische Betrachtung der Schranken vor. Diese ist nach Auffassung des BVerfG nicht nur unergiebig – in der Klausursituation ist eine Auslegung anhand der Gesetzmaterialien im Regelfall nicht möglich. Daher sei auf die Darstellung der diesbezüglichen Ausführungen verzichtet.)
Damit standen die Schranken der Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 GG den als selbstvollziehendes förmliches Gesetz geregelten Ausgangsbeschränkungen aus § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG nicht entgegen.
(2) Verhältnismäßigkeit
(a) Legitimer Zweck
Bezüglich des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks ergeben sich keine Unterschiede zu den Ausführungen bezüglich der Kontaktbeschränkungen.
(b) Geeignetheit
Bei der Geeignetheitsprüfung der Ausgangsbeschränkungen spielt der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers eine wichtige Rolle. Nach Auffassung des BVerfG lagen nachvollziehbare Gründe für die Annahme des Gesetzgebers vor, dass durch die Ausgangsbeschränkungen mittelbar auch die Anzahl und Dauer privater Zusammenkünfte reduziert werden kann, indem die An- und Abreisezeiten außerhalb der betroffenen Zeiträume liegen müssen (Rn. 277).
Auch sind die fachwissenschaftlichen Grundlagen, auf die sich die Annahmen des Gesetzgebers stützen nicht zu beanstanden (Rn. 278). Diese gehen davon aus, dass Infektionsschutzmaßnahmen in Innenräumen wie Abstandhalten, das Tragen von Masken, Lüften und allgemeine Hygieneregeln dem Infektionsrisiko nur eingeschränkt entgegenwirken können, dies aber zur Nachtzeit im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist (Rn. 278). Zudem lagen wissenschaftliche Erkenntnisse vor, nach denen nächtliche Ausgangsbeschränkungen zu einer Absenkung des R-Wertes (der R-Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person in einer bestimmten Zeiteinheit im Mittel ansteckt) um 0,1 führen (Rn. 279).
Damit erfüllt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG die Anforderung der Geeignetheit.
(c) Erforderlichkeit
Als alternative Maßnahme kommt für die Ausgangsbeschränkungen die Kontrolle privater Zusammenkünfte zur Nachtzeit unter Verzicht auf die Ausgangsbeschränkungen in Betracht (Rn. 285). Damit diese Kontrolle dem Infektionsrisiko in Innenräumen mit gleicher Wirksamkeit entgegenwirken können, müssten sie zum einen flächendecken angelegt sein und zum anderen müssten die privaten Innenräume durch ein Betreten der Vollzugsbehörden kontrolliert werden (Rn. 285). Damit verbunden wären dann wiederum schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte sowie in die Schutzsphäre von Art. 13 GG. Kontrollen wären somit keine mildere Maßnahme (Rn. 285). Die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG waren somit auch erforderlich.
(d) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Wie auch bei den Kontaktbeschränkungen erkennt das BVerfG in den Ausgangsbeschränkungen einen schwerwiegenden Eingriff, der sich auf unterschiedliche Weisen auswirken kann (Rn. 292). Das Gewicht des Eingriffs wird auch durch die Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG erhöht (Rn. 294).
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG zahlreiche Ausnahmeregelungen, die die Eingriffsintensität minderten (Rn. 296). Insbesondere die Härtefallklausel nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 lit. f IfSG „stand einer grundrechtsfreundlichen Auslegung und Anwendung offen, die ermöglichte, zwischen dem Lebens- und Gesundheitsschutz und weiteren legitimen Belangen im Einzelfall abzuwägen.“ (Rn. 296)
Im Übrigen wirken sich die tageszeitliche Begrenzung der Ausgangsbeschränkungen, die Befristung der Regelung und deren am Pandemiegeschehen flexible Ausrichtung mildernd aus (Rn. 297). Durch diese Mechanismen hat der Gesetzgeber nicht dem Lebens- Und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems einseitig Vorrang eingeräumt, sondern einen angemessenen Interessenausgleich bewirkt (Rn. 299). Insbesondere die Härtefallklausel, die die Berücksichtigung besonderer Umstände im Einzelfall ermöglichte, trug dazu bei (Rn. 300).
d) Zwischenergebnis
28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2IfSG stellt einen Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art 104 Abs. 1 GG dar. Der Eingriff ist jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
2. Familien- und Ehegrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Zum Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG s.o.
b) Eingriff
Im vorliegenden Fall war es manchen der Beschwerdeführer nicht möglich, eine Zusammenkunft mit Ehe- oder Lebenspartnern so zu gestalten, dass die Anreise vor Einsetzen der Ausgangsbeschränkungen erfolgte. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG griff dadurch in das subjektive Recht dieser Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein (Rn. 251).
c) Verfassungsmäßige Rechtfertigung
Die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG unterliegen lediglich verfassungsunmittelbaren Schranken.
Bezüglich der Verhältnismäßigkeit gilt weitestgehend das zur Fortbewegungsfreiheit Gesagte. Zu ergänzen ist, dass der Eingriff durch die Beschränkung familiärer und partnerschaftlicher Kontakte an Gewicht gewinnt.
Allerdings enthielt § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Hs. 2 lit. a bis g IfSG Ausnahmebestimmungen, sie sich gerade auf diese Kontakte auswirkten. Darauf stellte auch das BVerfG ab:
„Die Ausnahmen in Buchstabe c für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts sowie in Buchtstabe d für die Durchführung unaufschiebbarer Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger milderten die Intensität des Eingriffs vor allem in die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ab. Das Zusammenwirken der genannten Ausnahmen kam unter anderem Alleinerziehenden in ihrer besonderen Belastungssituation entgegen (dazu oben Rn. 296).“ (Rn. 300)
So stellte das BVerfG auch hier im Ergebnis fest, dass der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt war.
3. Allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG
Auch der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ist eröffnet. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt in der mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG korrespondierenden Bußgeldvorschrift § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG (Rn. 252). Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 GG. Auch der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG ist gerechtfertigt (Rn. 304).
 
C. Fazit
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit den Grundrechten ist also mit dem bekannten Prüfungsaufbau zu meistern. Innerhalb der Zulässigkeit ist insbesondere bei der Beschwerdebefugnis darauf zu achten, ob eine Rechtssatz- oder Urteilsverfassungsbeschwerde vorliegt. Das sind aber keine neuen Probleme, sondern gehören zum Standardwissen der Grundrechtsvorlesung.
Im Rahmen der Begründetheit ist dem dynamischen Pandemiegeschehen Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber hatte zum Zeitpunkt, in dem er die Maßnahmen mit § 28b IfSG geregelt hat, einen bestimmten Kenntnisstand bezüglich der Eigenarten der Corona-Pandemie. Die Prüfung muss sich auf diesen Kenntnisstand beziehen und aus der derzeitigen Perspektive vorgenommen werden. Hilfreich dabei ist der weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, der jedoch keinen „Freifahrtschein“ bewirkt. Die Maßnahmen müssen auf tragfähiger Grundlage beruhen, nachvollziehbar sein und dürfen nicht einseitig zulasten der geschützten Freiheitsrechte gehen.
Im Grunde sollte auch die Kenntnis dieser Grundsätze bereits bekannt sein – dieser Beitrag zeigt unter Bezug auf die Erwägungen des BVerfG, wie sie sich in der konkreten Prüfung niederschlagen.

15.12.2021/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2021-12-15 09:08:572021-12-15 09:08:57Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG (Teil 2)
Alexandra Ritter

Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Darstellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 zu den durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen (Teil 1) sowie bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen (Teil 2) nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie, der sogenannten Bundesnotbremse.
Die Begutachtung von Sachverhalten unter Berücksichtigung des Pandemiegeschehens ist auch in den (Examens)Klausuren angekommen. Die Fallgestaltungen dazu sind vielfältig und können das Zivil- und Strafrecht, aber insbesondere das öffentliche Recht betreffen. So hat das BVerfG in dem Beschluss geprüft, inwiefern die Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Kontaktbeschränkungen) und nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG (bußgeldbewehrte Ausgangsbeschränkungen) in Freiheitsgrundrechte eingriffen und ob die Eingriffe gerechtfertigt waren. Die Prüfung fand im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde statt und betrifft eine klassische Prüfungskonstellation für Klausuren. Die Folgende Darstellung ordnet die wesentlichen Erwägungen des BVerfG in den Prüfungsaufbau ein. Die behandelten Aspekte können in der Klausur jedoch nicht nur rein grundrechtlich, sondern auch verwaltungsrechtlich oder staatsorganisationsrechtlich (bspw. im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle) eingekleidet werden. Im Übrigen soll der Schwerpunkt der Darstellung auf der Begründetheitsprüfung liegen. Zuvor werden aber auch einzelne Aspekte der Zulässigkeitsprüfung aufgegriffen.
Die Verweise auf Randnummern beziehen sich auf die Randnummern in der vom BVerfG veröffentlichten Fassung des Beschlusses, die unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rs20211119_1bvr078121.html (letzter Abruf v. 9.12.2021) abrufbar ist. Zur besseren Übersichtlichkeit und Lesbarkeit wurden die Verweise auf Quellen innerhalb der Zitate aus dem Beschluss ausgespart.
A. Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Beschwerdebefugnis
In der Zulässigkeitsprüfung liegt nur ausnahmsweise der Schwerpunkt der Prüfung. Die Beschwerdebefugnis sollte dennoch nicht zu knapp bearbeitet werden. Die Beschwerdebefugnis einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass eine Möglichkeit der Grundrechtsverletzung besteht und der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist.
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Zunächst müssen der Beschwerdeführer substantiiert die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung darlegen. Die reine Behauptung der Verletzung eines Grundrechts genügt nicht. In seinem Beschluss stellte das BVerfG fest, dass nicht hinreichend dargelegt wurde, wie die Kontaktbeschränkungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG die Grundrechte aus Art. 11 Abs. 1 GG, Art. 8 GG, Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG verletzen können. Bezogen auf diese Grundrechte hat das BVerfG die Möglichkeit einer Verletzung im konkreten Fall abgelehnt (Rn. 91 ff.)
Nicht abgelehnt hat das BVerfG aber die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG, sowie die Möglichkeit einer Verletzung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG und Art. 2 Abs. 1 GG  durch die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
Die Beschwerdeführer machten die Verletzung eigener Rechte und damit Selbstbetroffenheit geltend. Zudem traten die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ab der Überschreitung des Inzidenzwertes von 100 ein, sodass keine Durchführungsmaßnahme notwendig war. Damit waren die Beschwerdeführer unmittelbar betroffen.
Gegenwärtige Betroffenheit setzt voraus, dass die angegriffene Maßnahme bereits Rechtswirkung entfaltet und sich noch nicht erledigt hat. Bei zwei der Beschwerdeführer lag im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Inzidenz noch unter dem die Maßnahmen auslösenden Schwellenwert. Das BVerfG stellte hierzu fest:
„Jedoch bestand bei beiden Beschwerdeführenden nicht lediglich eine vage Aussicht, dass sie irgendwann einmal in der Zukunft von den angegriffenen Regelungen betroffen sein könnten […]. Der Schwellenwert von 100 wurde am Wohnort der Beschwerdeführenden zu 1) und 2) schon ab 27. April bis einschließlich 3. Mai 2021 überschritten. Das zum maßgeblichen Zeitpunkt dynamische Infektionsgeschehen ließ auch für sie zeitnah nach Inkrafttreten des Gesetzes die Geltung der Beschränkungen erwarten. Das genügt für ihre gegenwärtige Betroffenheit in eigenen Rechten.“ (Rn. 86)
II. Rechtsschutzbedürfnis
Zum Rechtsschutzbedürfnis sind in aller Regel keine besonderen Ausführen anzustellen; in den meisten Fällen genügt die positive Feststellung, dass es vorliegt. In manchen Konstellationen ist es jedoch angezeigt, das Rechtsschutzbedürfnis ausführlicher darzulegen. Denn das Rechtsschutzbedürfnis muss auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung durch das BVerfG vorliegen. Dem könnte hier entgegenstehen, dass in diesem Zeitpunkt die angegriffenen Regelungen nicht mehr galten (die Maßnahmen waren beschränkt auf einen Zeitraum bis zum 20. Juni 2021) oder dass die Inzidenzen in den örtlichen Bezugsräumen gesunken sind.
Trotz Erledigung kann das Rechtsschutzinteresse aber fortbestehen, „wenn andernfalls entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt […].“ (Rn. 98)
Das Pandemiegeschehen war weder mit Sinken der Inzidenzwerte noch mit Ablauf der Maßnahmen beendet, sodass auch in Zukunft „Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden [könnten], die sich in der Regelungstechnik und den Regelungsinhalten an den hier angegriffenen Vorschriften orientieren.“ (Rn. 99)
Damit besteht das Rechtsschutzinteresse fort.
III. Subsidiarität und Rechtswegerschöpfung
Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde sind zuletzt noch Ausführungen bezüglich der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung angezeigt.
Nach Auffassung des BVerfG ist auch gegen eine Rechtsnorm der Rechtsschutz vor den Fachgerichten vorrangig zur Verfassungsbeschwerde zu ersuchen, im Wege der Feststellungs- oder Unterlassungsklage (Rn. 101). Dieses Erfordernis kann aber entfallen, wenn die betreffenden Normen entweder keine klärungsbedürftigen einfachrechtlichen Fragen beinhalten oder solche zwar beinhalten, aber das BVerfG bei seiner verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht auf deren Beantwortung angewiesen ist (vgl. Rn. 101).
Von letzterem ging das BVerfG hier aus (Rn. 103). Daher stehen die Subsidiarität und das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde hier nicht entgegen.
B. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Für die Prüfung der Begründetheit bietet es sich an, eine Aufteilung nach den einzelnen Normen und den damit verbundenen Maßnahmen vorzunehmen. Dies ermöglicht einen klaren und strukturierten Aufbau, der dem Leser und Korrektor eine bessere Nachvollziehbarkeit bietet. Die Prüfung der einzelnen Maßnahme erfolgt dann im Rahmen des klassischen Aufbaus nach Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung.
I. Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG
Die Beschwerdeführer könnten durch die Bestimmung des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG in ihren Grundrechten verletzt sein. In Betracht kommt eine Verletzung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Familien- und Ehegrundrecht gem. Art. 6 Abs. 1 GG
a) Schutzbereich
Den Gewährleistungsgehalt von Art. 6 Abs. 1 GG beschreibt das BVerfG wie folgt:
„Das Ehe- und das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen. Vom Familiengrundrecht erfasst sind die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind, wie auch weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr. 101/2021 vom 30. November 2021)
Gewährleistet wird ein „Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen“ (Rn. 108). Damit ist der Schutzbereich eröffnet.
b) Eingriff
In diesen Schutzbereich müsste durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG eingegriffen worden sein. Zu dem Eingriff führt das BVerfG aus:
„Die Regelung machte vollstreckungsfähige Vorgaben [§ 73 Abs. 1a Nr. 11b IfSG] für private Zusammenkünfte sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum. Damit beschnitten die Kontaktbeschränkungen die Möglichkeiten, über die Ausgestaltung sowohl des familiären als auch des ehelichen Zusammenlebens selbst frei zu entscheiden. […] In unterschiedlichen Haushalten lebenden Kindern verbot das Gesetz, gemeinsam ihre Eltern zu besuchen. Erst recht schlossen die Kontaktbeschränkungen im Grundsatz das Zusammenkommen von mehr als drei in die Schutzbereiche fallenden Personen aus. Zulässig blieb insoweit lediglich der Kontakt über Mittel der Fernkommunikation.“ (Rn. 109)
Damit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 I GG vor.
c) Rechtfertigung
Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Art. 6 Abs. 1 GG enthält keinen Schrankenvorbehalt und unterliegt damit lediglich verfassungsimmanenten Schranken (Rn. 116, wobei das BVerfG irrtümlicherweise von verfassungsunmittelbaren Schranken spricht). Das eingreifende Gesetz, das einem anderen Verfassungsgut dienen müsste, muss auch formell und materiell verfassungsgemäß sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Der Bund hat gem. Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten. Damit hatte er die Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens im Zusammenhang mit der ansteckenden Krankheit Covid-19 (Rn. 118). Fehler im Gesetzgebungsverfahren und in der Form liegen nicht vor. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war formell verfassungsmäßig.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
An dieser Stelle geht das BVerfG zunächst auf die von den Beschwerdeführern gerügten Umstände ein, dass die gewählte Regelungsmechanik gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstoße und das Bestimmtheitsgebot i.S.v. Art 103 Abs. 2 GG nicht gewahrt sei. Beide Aspekte verneint das BVerfG. Auf eine Darstellung der Prüfung sei an dieser Stelle verzichtet, um eine ausführliche Darstellung der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermöglichen.

  • 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müsste auch verhältnismäßig sein. Der Gesetzgeber muss dazu mit dem einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgen, das Gesetz muss geeignet sein diesen Zweck zu erreichen und dazu erforderlich sein und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.

(1) Legitimes Ziel
Der Gesetzgeber müsste zunächst einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt haben. Hierzu hält das BVerfG fest:
„Jedenfalls bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber von ihm angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat […}. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann […]. (Rn. 170 f.)
Hier bezweckte der Gesetzgeber den Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit die bestmögliche Krankenversorgung sicherzustellen (Rn. 174). Mit den Maßnahmen wollte der Gesetzgeber „ausdrücklich seine in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Schutzpflicht erfüllen (vgl. BTDrucks 19/28444, S. 8). Dies umfasst den Schutz vor sämtlichen mit einer SARS-CoV-2-Infektion einhergehenden Gesundheits- und Lebensgefahren, insbesondere vor schweren Krankheitsverläufen und Langzeitfolgen (Long Covid).“ (Rn. 174).
Zur Bedeutung dieser Belange führt das BVerfG aus:
„Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke […]. Aus Art. 2 Abs. 2 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst […], kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst […].“ (Rn. 176).
Die Annahmen des Gesetzgebers, die ihn zu seinem Tätigwerden veranlassten, stützten sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Robert Koch-Instituts, das das Pandemiegeschehen wissenschaftlich beobachtet und analysiert (Rn. 178). Dessen Einschätzungen schlossen sich mehrere wissenschaftliche Fachgesellschaften an (Rn. 181). Der Gesetzgeber stützte sich somit auf eine tragfähige Grundlage.
(2) Geeignetheit
Die Maßnahmen des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG müssten zur Erreichung des verfassungsrechtlich legitimen Zwecks geeignet sein. Zu den Anforderungen an die Geeignetheit stellt das BVerfG fest:
„Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen […]. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen […].“ (Rn. 185).
Dieser Spielraum ist jedoch nicht unbeschränkt. Zwar dürfen bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen (Rn. 185). Hier „war und ist insoweit gesicherte Erkenntnislage, dass SARS-CoV-2 über respiratorische Sekrete übertragen wird“ (Rn. 193).  Die sachkundigen Dritten führten aus, „dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet“ (Rn. 195).
Die Kontaktbeschränkungen gem. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG waren somit zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung geeignet.
Auch wird durch geringere Infektionszahlen die Zahl der intensivpflichtig zu behandelnden Patienten verringert, sodass die Kontaktbeschränkungen auch geeignet sind, zur Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems beizutragen (Rn. 197).
(3) Erforderlichkeit
Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffene Maßnahme müsste erforderlich sein. Das ist der Fall, wenn kein milderes aber gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht. Auch hierbei kommt dem Gesetzgeber Spielraum zu, „die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren“ (Rn. 204). Als alternative Maßnahmen kommen der Schutz durch Impfung und die Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten in Betracht.
Im Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war allerdings lediglich ein sehr geringer Teil der Bevölkerung doppelt geimpft und aufgrund der zu dieser Zeit herrschenden Impfstoffknappheit war mit einer schnell steigenden Impfquote nicht zu rechnen (Rn. 206). Der Schutz vor Infektionen mit SARS-CoV-2 bzw. vor einer Transmission der Erreger allein durch die Impfung erreicht damit nicht dieselbe Wirksamkeit (Rn. 206).
Zur Alternative der Ausgestaltung von Verhaltensregeln bei Kontakten führt das BVerfG aus: „Verhaltensregeln für ansonsten personell unbeschränkte Kontakte stellten ebenfalls kein gleich wirksames Mittel dar. Zwar können nach gesicherter Erkenntnis Vorkehrungen getroffen werden, um zwischenmenschliche Kontakte möglichst infektionsarm verlaufen zu lassen. Das ordnungsgemäße Tragen von Mund und Nase bedeckenden Masken kann das Infektionsrisiko […] ebenso reduzieren wie das Abstandhalten, Hygienemaßnahmen und das Lüften von Räumen. Gesicherte Erkenntnisse darüber, dass das Infektionsrisiko bei der Einhaltung solcher Regeln gleichermaßen ausgeschlossen wäre, wie bei dem gänzlichen Verbot menschlicher Ansammlungen, existieren dagegen nicht.“ (Rn. 210)
Damit stellen Verhaltensregeln keine gleich wirksame Alternative dar. Die mit § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG getroffenen Regelungen waren erforderlich.
(4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung dürfte nicht außer Verhältnis zur Schwere des damit verbundenen Eingriffs liegen (Rn. 216). In den Worten des BVerfG:
„Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt […]. Umgekehrt wird gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können […].“ (Rn. 216)
Die Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass es den Betroffenen verwehrt war,
„sich in frei gewählter Weise zusammenzufinden. Durch die Anknüpfung an einen Haushalt schlossen die Kontaktbeschränkungen auch persönliche Begegnungen zwischen Personen mit besonders nahen familiären, durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Bindungen aus, wie typischerweise im Eltern-Kind-Verhältnis, wenn es sich um Kinder in einem Alter über 14 Jahren handelte. Das Verbot privater Zusammenkünfte galt zudem auch in Konstellationen, in denen regelmäßig die persönliche Begegnung zwischen in verschiedenen Haushalten lebenden nahen Familienangehörigen besondere Bedeutung hat, wie dies etwa bei dem persönlichen Kontakt zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern beziehungsweise einem Elternteil der Fall sein kann. So ließ § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG etwa den zeitgleichen Besuch von erwachsenen, in verschiedenen Haushalten lebenden Geschwistern bei einem in einem eigenen Haushalt lebenden Elternteil nicht zu.“ (Rn. 220)
Das BVerfG geht in einem ersten Schritt somit von einem deutlich schwerwiegenden Eingriff aus. In einem zweiten Schritt geht es dann auf die Umstände ein, die die Intensität des Eingriffs mildern. Relevant sind hier die vom Gesetzgeber getroffenen Ausnahmeregelungen. So wird die Intensität des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere dadurch gemildert, dass für Personen eines Haushalts untereinander keine Beschränkungen galten (Rn. 226). Auch dass eine zusätzliche Person mit allen zu einem Haushalt gehörenden agieren durfte, sieht es als Erleichterung insbesondere für Alleinerziehende (Rn. 226). Zudem blieben Kontakte zur Ausübung des Sorge- oder Umgangsrechts blieben ohnehin vollumfänglich gestattet, § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG (Rn. 226). Außerdem sei die Eingriffsintensität „durch den dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichteten und regional differenzierenden Regelungsansatz in § 28b IfSG erheblich begrenzt“ und auch die zeitliche Befristung des Gesetzes wirke sich mindern aus (Rn. 226).
Auf der anderen Seite spricht das BVerfG den verfolgten Zwecken des Lebens- und Gesundheitsschutzes und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems „überragende Bedeutung“ (Rn. 227) zu. Angesichts des dynamischen Infektionsgeschehens bestand im maßgeblichen Zeitpunkt ein dringender Handlungsbedarf (Rn. 227 f.). Insbesondere ließ „[d]er Blick in teilweise noch stärker vom Pandemiegeschehen betroffene Nachbarstaaten […] eine weitergehende Eskalation befürchten“ (Rn. 229). Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, „dass es darauf ankam, die Dynamik des Infektionsgeschehens möglichst umfassend und rasch zu durchbrechen, um die Bevölkerung vor Gefahren für Leib und Leben durch ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen und eine dadurch bewirkte Funktionsunfähigkeit des Gesundheitssystems zu bewahren.“ (Rn. 230).
Indem der Gesetzgeber Ausnahmeregelungen getroffen und die Kontaktbeschränkungen an sich begrenzt ausgestaltet hat, hat er die kollidierenden Verfassungsgüter in einen verfassungsgemäßen Ausgleich gebracht (Rn. 232). Die Maßnahme der Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG war verhältnismäßig im engeren Sinne.
d) Zwischenergebnis

  • 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greift in die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 GG ein. Der Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

2. Allgemeine Handlungsfreiheit
a) Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Der sachliche Schutzbereich umfasst „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt […]. Selbstverständlich erfasst das auch das Zusammentreffen mit beliebigen anderen Menschen.“ (Rn. 112)
Damit ist der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet.
b) Eingriff
Indem die Kontaktbeschränkungen solche Zusammentreffen unter Bußgeldandrohung beschnitten, wurde dadurch in die allgemeine Handlungsfreiheit „über die Beeinträchtigung von Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehend“ (Rn. 112) eingegriffen.
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Die allgemeine Handlungsfreiheit unterliegt den Schranken von Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Im Ergebnis erkennt das BVerfG aus den oben genannten Gründen auch den Eingriff in die Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG als gerechtfertigt an. Zudem sieht es die ergänzende Bußgeldvorschrift als gerechtfertigt an (Rn. 237).
3. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
a) Schutzbereich
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, sodass der persönliche Schutzbereich für die Beschwerdeführer als natürliche Personen eröffnet ist.
Zum sachlichen Schutzbereich führt das BVerfG aus:
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet solche Elemente der Persönlichkeitsentfaltung, die – ohne bereits Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes zu sein – diesen in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen […]. Danach schützt es zwar nicht jegliche Zusammenkunft mit beliebigen anderen Personen, bietet jedoch Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird. Anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung.“ (Rn. 113)
Auch dieser Schutzbereich ist eröffnet.
b) Eingriff
Die Maßnahmen könnten in diesen Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere dann eingreifen, wenn alleinstehende und -lebende Personen betroffen sind. Bezüglich eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt das BVerfG:
„Für sie [gemeint sind die alleinstehenden- und lebenden Personen] konnte es während der Geltungsdauer der Beschränkungen schwierig sein, überhaupt anderen Menschen zu begegnen. Insoweit halfen die Ausnahmen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweiter Halbsatz IfSG nicht. Sie waren auf familiäre Beziehungen ausgerichtet und konnten deshalb nicht verhindern, dass alleinstehende Personen Gefahr liefen, eine Zeit besonderer Isolation zu erleben. Sie waren jeweils darauf angewiesen, eine andere Person zu finden, die sich gerade mit ihnen treffen wollte und dafür bereit war, auf alternative Begegnungsmöglichkeiten zu verzichten. Für alleinstehende und -lebende Menschen konnte das die Möglichkeit der Begegnung mit anderen Menschen so sehr erschweren, dass dies vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt werden musste.“ (Rn. 114)
c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Auch hier sei auf die obigen Ausführungen verwiesen. Innerhalb der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist freilich auf die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht abzustellen. Wie bei Art. 6 Abs. 1 GG stellte das BVerfG fest, dass der Eingriff besonders schwer wiegt, insbesondere für alleinstehende oder –lebende Personen (Rn. 221). Auch die Tatsache, dass das öffentliche Leben im Übrigen stark eingeschränkt war das Risiko der Vereinsamung bestand, führte zu einer erheblichen Schwere des Eingriffs (Rn. 221).
Im Ergebnis sei der Eingriff aus den oben aufgeführten Erwägungen jedoch gerechtfertigt.
4. Zwischenergebnis zu den Kontaktbeschränkungen
Die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG greifen in die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG, in die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Eingriffe sind jedoch verfassungsmäßig gerechtfertigt.
 
Teil 2 dieses Beitrags, der sich mit der Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen befasst, folgt kommende Woche hier auf www.juraexamen.info.

09.12.2021/1 Kommentar/von Alexandra Ritter
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Alexandra Ritter https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Alexandra Ritter2021-12-09 11:33:052021-12-09 11:33:05Die Bundesnotbremse vor dem BVerfG
Yannick Peisker

Strafbarkeit des Vorlegens gefälschter Impfausweise in der Apotheke

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Am 26. Oktober 2021 hat das LG Osnabrück (v. 26.10.2021 – 3 Qs 38/21) die Beschwerde gegen die Beschlagnahme eines mutmaßlich gefälschten Impfausweises mit der Begründung abgewiesen, die Vorlage eines gefälschten Impfausweises gegenüber einer Apotheke sei nicht strafbar.
Dem Beschuldigten wurde vorgeworfen, einen gefälschten Impfausweis in einer Apotheke in der Stadt Nordhorn zur Erlangung eines digitalen Impfausweises vorgelegt zu haben. Eine gerichtliche Bestätigung der Beschlagnahme lehnte das Amtsgericht Osnabrück  mit Beschluss v. 12.10.2021  ab, da das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten nicht strafbar sei.
Diese Rechtsauffassung bestätigte nunmehr auch das LG Osnabrück.

Auch wenn die strafprozessuale Einkleidung der Entscheidung den ein oder anderen Examenskandidaten abschrecken mag, dürfte diese dennoch insbesondere für die mündliche Prüfung eine enorme Relevanz aufweisen, da an ihr an und für sich Grundlagen der Urkundendelikte und allgemeines Systemverständnis abgeprüft werden können. Auch für anstehende schriftliche Prüfungen ist die Examensrelevanz dieser Fallkonstellation – womöglich in abgewandelter Form – nicht in Gänze zu verneinen. Ein Blick in die jeweiligen rechtlichen Grundlagen der Examensprüfung vermag überraschen, denn so ist unter anderem im Bundesland NRW der Pflichtstoff der Urkundendelikte keineswegs auf die §§ 267-271 StGB beschränkt. Vielmehr ist dort der gesamte 23. Abschnitt des StGB (§§ 267-282 StGB) Gegenstand der staatlichen Prüfung und mithin prüfungsrelevant. Daher kann es sich durchaus lohnen, einmal den Blick vom Bekannten abzuwenden und die Entscheidung zum Anlass zu nehmen, sich der ungeliebten Probleme der Urkundendelikte (erneut) anzunehmen.

 
A. Der Impfpass als Urkunde iSd. § 267 Abs. 1 StGB
Zentraler Begriff der §§ 267 ff. StGB ist der Begriff der Urkunde. Unter einer solchen wird eine dauerhaft verkörperte menschliche Gedankenerklärung (Perpetuierungsfunktion) verstanden, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist (Beweisfunktion) und ihren Aussteller erkennen lässt (Garantiefunktion; so u.a. BGHSt 3, 84, 85; 4, 284, 285).
Ein Impfpass enthält die Erklärung, dass die bezeichnete Person die dort aufgeführten Schutzimpfungen erhalten hat. Diese Erklärung ist als Aufkleber mit dem Impfpass als Gegenstand fest verbunden, sodass auch eine dauerhafte Verkörperung der Erklärung zu bejahen ist. Im Übrigen ist der Impfausweis auch in der Lage, die Impfung als rechtserhebliche Tatsache zu beweisen. Hierzu ist er ebenfalls bestimmt, es handelt sich um eine sog. Absichtsurkunde. Darüber hinaus lässt sie auch ihren Aussteller erkennen, denn bereits gesetzlich ist gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 5 IfSG vorgeschrieben, dass der Impfausweis die für die Durchführung der Schutzimpfung verantwortliche Person bestätigen muss, sodass diese als Aussteller auch erkennbar ist (ebenso Lorenz, medstra 2021, 210, 212).
 
B. Darstellung der §§ 277 ff. StGB
Weiterhin sollen zunächst in Kurzfassung die Grundlagen der in diesem Zusammenhang ebenfalls relevanten §§ 277-279 StGB in ihrer Fassung vom 01.01.2000 dargestellt werden.
Es handelt sich hierbei um Sondertatbestände, die verschiedene Varianten einer Urkundenfälschung und verwandter Konstellationen in Bezug auf Gesundheitszeugnisse unter Strafe stellen. Gegenüber § 267 Abs. 1 StGB wird damit der Kreis der tauglichen Tatobjekte eingeschränkt. Nicht jede Urkunde ist taugliches Tatobjekt, sondern nur ein Gesundheitszeugnis, wobei unter Gesundheitszeugnissen Urkunden oder Datenurkunden verstanden werden, in denen der gegenwärtige oder vergangene Gesundheitszustand eines Menschen beschrieben wird (Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 2; MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 2). Ein Impfausweis erfüllt dabei die Tatbestandsmerkmale eines solchen Gesundheitszeugnisses. Er gibt Auskunft über die durchgeführten Schutzimpfungen und damit über den gesundheitlichen Umstand der Immunisierung gegen eine bestimmte Krankheit (zu einem Impfschein bereits RGSt 24, 284, 286; BeckOK StGB/Weidemann, 50. Edition Stand 01.05.2021, § 277 Rn. 4.1; Kritik äußert Lorenz, medstra 2021, 210, 212).
 
I. § 277 StGB – Fälschung von Gesundheitszeugnissen
Wirft man einen Blick auf den Strafrahmen des § 277 StGB (ein Jahr), wird erkennbar, dass die Norm die Urkundenfälschung eines Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft privilegiert. Inwiefern die Privilegierung heutzutage noch gerechtfertigt ist, wird zu Recht bestritten (instruktiv MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 1), dies soll jedoch nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein.
Anders als bei § 267 StGB handelt es sich bei der Norm um ein zweiaktiges Delikt. Erforderlich ist zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes ausweislich des Wortlautes nicht nur das Ausstellen eines unechten oder Verfälschen eines echten Gesundheitszeugnisses, sondern darüber hinaus muss von diesem gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft Gebrauch gemacht werden. Zudem reicht die bloße Unechtheit der Urkunde nicht aus, vielmehr muss die Urkunde den Anschein erwecken, dass ein Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson der Aussteller der Urkunde ist (MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 3 f.).
Die Norm beinhaltet drei verschiedene Varianten, die jeweils eine tatbestandliche Verwirklichung des ersten Aktes der Norm begründen. Zum einen kann der Täter unter dem richtigen Namen des Ausstellers, jedoch unter der unzutreffenden Bezeichnung eines Arztes oder einer anderen approbierten Person auftreten (Bsp.: Der Täter tritt unter seinem wahren Namen auf, bezeichnet sich selbst unzutreffend als Arzt). Hierbei handelt es sich nicht um eine Identitätstäuschung, sondern um eine schriftliche Lüge in Gestalt einer Täuschung über die Qualifikation der Person, sodass es sich, anders als bei Var. 2 und 3, um ein über den Grundtatbestand des § 267 StGB hinausgehendes strafbares Verhalten handelt (Fischer, StGB, 68. Auflage § 277 Rn. 1).
Ebenso verwirklicht den ersten Akt des Tatbestandes, wer unter Verwendung eines Namens eines Arztes oder einer anderen approbierten Medizinalperson ein Gesundheitszeugnis ausstellt (Bsp.: Der Täter verwendet nicht seinen eigenen Namen, sondern den eines Arztes). Weiterhin handelt tatbestandsmäßig, wer ein echtes Gesundheitszeugnis nachträglich verändert, sodass der Anschein entsteht, der Aussteller habe die Erklärung ursprünglich mit diesem Inhalt abgegeben.
Als zweiter Akt hinzutreten muss weiterhin das Gebrauchen des Zeugnisses gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft. Hierfür muss das Zeugnis der zu täuschenden Behörde oder Versicherungsgesellschaft zugänglich gemacht werden, wobei die Täuschung gerade in Bezug auf den Gesundheitszustand erfolgen muss (Vgl. MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 7).
Zur Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes ist – wie auch in Bezug auf § 267 Abs. 1 StGB – zumindest dolus eventualis sowie Täuschungsabsicht, allerdings mit dem speziellen Adressatenkreis einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft, erforderlich (Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 11; MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 10).
 
II. § 278 StGB – Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse
Der § 278 stellt im Gegensatz zu § 267 StGB die schriftliche Lüge unter Strafe, denn tatbestandsmäßig ist bereits das Anfertigen eines inhaltlich unrichtigen schriftlichen Gesundheitszeugnisses. Dieses ist bereits dann unrichtig, wenn das Zeugnis inhaltliche Fehler aufweist, wobei sich die inhaltlichen Fehler auch auf bloße Einzelheiten erstrecken können (BGHSt 10, 157). Tauglicher Täter kann hier nur ein Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson sein, es handelt sich mithin um ein Sonderdelikt. Ferner muss das Zeugnis zum Zwecke des Gebrauchs bei einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft ausgestellt sein, worauf sich ebenfalls der Vorsatz (zumindest dolus eventualis) beziehen muss. In Abgrenzung zu § 277 StGB ist die Tat bereits mit der Ausstellung vollendet, ein weiterer Gebrauch ist nicht vonnöten (Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 278 Rn. 5).
 
III. § 279 StGB – Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse
§ 279 StGB stellt ausschließlich den Gebrauch (zum Begriff des „Gebrauchs“ bereits oben) eines unrichtigen oder gefälschten Gesundheitszeugnisses unter Strafe. Für die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes ist ausreichend, dass das Zeugnis objektiv unrichtig ist, also entweder im Wege des § 277 StGB ausgestellt wurde oder inhaltlich unrichtig im Sinne des § 278 StGB ist. Verlangt wird gerade nicht, dass der Aussteller des Zeugnisses dieses wider besseren Wissens oder für den Gebrauch gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft angefertigt hat (BeckOK StGB/Weidemann, 50. Edition Stand 01.05.2021, § 279 Rn. 3). In subjektiver Hinsicht ist jedoch weiterhin erforderlich, dass der Täter selbst zumindest mit bedingtem Vorsatz hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale – also auch in Bezug auf die Unrichtigkeit – sowie in der Absicht handelt, über den Gesundheitszustand zu täuschen (MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 4).
 
C. Strafbarkeit der Vorlage des Impfausweises in der Apotheke
Sofern man dem Beschuldigten (B.) die Ausstellung des Gesundheitszeugnisses selbst nicht nachweisen kann, kommt aus Beweisgründen zunächst nur eine Strafbarkeit nach § 279 StGB in Betracht.
Mit Vorlage des gefälschten Impfausweises gegenüber der Apotheke könnte sich der B. somit gemäß § 279 StGB wegen des Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse strafbar gemacht haben. Zwar handelt es sich bei dem Impfausweis um ein Gesundheitszeugnis (s.o.) jedoch müsste die Vorlage in der Apotheke auch zur Täuschung einer Behörde erfolgen (eine Versicherungsgesellschaft scheidet hier offensichtlich aus).
Der Behördenbegriff wird in § 11 Abs. 1 Nr. 7 StGB nicht legaldefiniert, zurückzugreifen ist vielmehr auf den verwaltungsrechtlichen Behördenbegriff (MüKo StGB/Radtke, 4. Auflage 2020, § 11 Rn. 149). Danach sind Behörden ständige, vom Wechsel der in ihr tätigen Personen unabhängige, in das Gefüge der staatlichen Verwaltung eingeordnete Organe, die mit öffentlicher Autorität Aufgaben des öffentlichen Rechts vollziehen (vgl. Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Auflage 2018, § 11 Rn. 20).
Zu überlegen ist, ob es sich bei einer Apotheke um einen Beliehenen oder um einen Verwaltungshelfer handelt. Rechtlicher Anknüpfungspunkt und Grundlage ihres Tätigwerdens bildet dabei § 22 Abs. 5 IfSG. Unabhängig von der Einordnung nach öffentlichem Recht soll jedoch das Tätigwerden Privater auch in öffentlicher Funktion nicht die Behördeneigenschaft begründen können (MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 8; für den TÜV ausdrücklich entschieden durch OLG Stuttgart, Urt. v. 25.09.2013 – 2 Ss 519/13).
Dieser Auffassung hat sich im Ergebnis wohl auch das LG Osnabrück angeschlossen, wenn es die Strafbarkeit des Verhaltens verneint, eine Veröffentlichung der Urteilsgründe steht jedoch noch aus. Letztlich besteht in der mündlichen Prüfung an dieser Stelle jedoch ein Einfallstor in das Öffentliche Recht, um die Voraussetzungen einer Beleihung zu klären und diese im Einzelfall von einem bloßen Verwaltungshelfer abzugrenzen. Gerade diese Verknüpfung begründet die Attraktivität dieser Konstellation für die mündliche Prüfung.
 
I. Verhältnis der §§ 277 ff. StGB zu § 267 Abs. 1 StGB
Nachdem mangels Gebrauch des Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde die Verwirklichung des § 279 StGB (oder auch § 277 StGB) ausscheidet, stellt sich die zentrale Frage, ob ein Rückgriff auf § 267 Abs. 1 Var. 3 StGB in Gestalt des Gebrauchmachens möglich ist, denn ein Gesundheitszeugnis stellt zugleich eine Urkunde iSd. § 267 Abs. 1 StGB dar.
Klärungsbedürftig ist mithin das Verhältnis zwischen den Vorschriften.
Allgemein gilt, dass bei einer privilegierenden Spezialität der allgemeine Tatbestand nicht anwendbar ist, denn anderenfalls würde die Privilegierung leerlaufen (Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Auflage 2019, Vorbem. §§ 52 ff. Rn. 138). Dieses Argument ist jedoch nur im Rahmen des Anwendungsbereiches der Norm belastbar. Jedenfalls bezüglich der Vorlage eines Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft sind die Normen daher abschließend. Problematisch ist indes, inwiefern sich die abschließende Wirkung auf alle Gesundheitszeugnisse erstreckt.
Nach überwiegender Ansicht entfalten die §§ 277 und 279 StGB eine umfassende Sperrwirkung gegenüber § 267 StGB bei Vorliegen eines Gesundheitszeugnisses, selbst wenn die übrigen Voraussetzungen der Norm nicht gegeben sind (u.a. RGSt 6, 1; 31, 298; Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 277 Rn. 12). Es sei absurd, den Gebrauch eines Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Privatperson unter eine höhere Strafe zu stellen, als dies bei Gebrauch gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft der Fall ist (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Puppe/Schumann, StGB, 5. Auflage 2017, § 277 Rn. 13).
Vertreten lässt sich aber wohl auch die gegenteilige Position, denn ebenso fragwürdig ist es, den Gebrauch eines solchen Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Privatperson gar nicht unter Strafe zu stellen (so ebenfalls Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Puppe/Schumann, StGB, 5. Auflage 2017, § 277 Rn. 13; MüKo StGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277 Rn. 9). So lasse sich die Vorschrift auch dahingehend interpretieren, dass sie nur den Einsatz eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses gegenüber einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft privilegieren möchte. Sofern ein Gesundheitszeugnis gegenüber einer privaten Person verwendet wird, wäre § 267 StGB damit weiterhin anwendbar.
In der mündlichen Prüfung besteht hier Raum für Argumentation. Hat der Prüfling es erfolgreich bis hierhin geschafft, wird vieles vertretbar sein. Zu beachten ist, dass es sich nicht um eine verbotene Analogie der Vorschrift zu Lasten des Täters iSd. Art. 103 Abs. 2 GG handeln muss, denn im Wege der Auslegung lassen sich durchaus noch beide Ergebnisse vertreten. Art. 103 Abs. 2 GG greift erst ein, sobald die Schwelle der Auslegung überschritten und der Weg der Rechtsfortbildung beschritten wird (Maunz/Dürig/Remmert, GG-Kommentar, 94. EL Januar 2021, Art. 103 Abs. 2 Rn. 83).
 
Exkurs: Die Spezialität der §§ 277 ff. StGB hat zur Folge, dass eine Versuchsstrafbarkeit mangels ausdrücklicher Anordnung, wie bei § 267 Abs. 2 StGB, ausscheidet. Ebenso besteht keine Möglichkeit eines Rückgriffes auf § 267 Abs. 3 StGB als besonders schwerer Fall und Absatz 4 als Qualifikation [Lorenz, medstra 2021, 210, 213].)
 
Folgt man der überwiegenden Auffassung und dem LG Osnabrück, besteht eine Strafbarkeitslücke, die es mit Blick auf die mit einem gefälschten Impfausweis für die Allgemeinheit verknüpften Gesundheitsgefahren zu schließen gilt. Sofern sich die Generalstaatsanwaltschaft Niedersachsens auf den Standpunkt stellt, die Herstellung und Vorlage gefälschter Impfzertifikate zur Erlangung eines digitalen Impfzertifikats in einer Apotheke sei strafbar, entspricht dies jedenfalls nicht der bisher herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung (die Position der Generalstaatsanwaltschaft ist abrufbar unter: Generalstaatsanwaltschaft Celle, zuletzt abgerufen am 10.11.2021).
 
II. Strafbarkeit des Gebrauchs unrichtiger Impfbescheinigungen nach § 75a Abs. 2 IfSG
Im Zuge der Covid-19 Pandemie wurde im Zweiten Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze v. 28.05.2021 der § 75a IfSG eingeführt, der unter anderem in Absatz 2 Nr. 1 den Gebrauch einer in § 74 Abs. 2 IfSG bezeichneten nicht richtigen Dokumentation (unrichtige Impfdokumentation im Impfausweis) oder gemäß Absatz 2 Nr. 2 Var. 1 den Gebrauch einer in § 75a Abs. 1 IfSG bezeichneten nicht richtigen Bescheinigung (unrichtige Bescheinigung einer Impfung im digitalen Covid-19-Zertifikat) zur Täuschung im Rechtsverkehr unter Strafe stellt.
Augenscheinlich schließt diese Vorschrift die zuvor aufgezeigten Lücken der Urkundendelikte, allerdings setzt der in den Normen in Bezug genommenen § 22 IfSG voraus, dass der Impfausweis von einer zur Schutzimpfung berechtigten Person ausgestellt wurde. Hieraus wird geschlussfolgert, dass auch iRd. § 75a Abs. 2 IfSG nicht solche Impfausweise gemeint sein können, die von Privatpersonen gefälscht wurden (so Solmecke, Gesetzgeber muss Strafbarkeitslücken schließen, v. 02.11.2021, abrufbar unter: WBS-Law, Gefälschte Impfpässe, zuletzt abgerufen am 10.11.2021; die Problematik wird ebenfalls von Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159, 2161 ff. aufgeworfen).
 
D. Fazit
Trotz des bestehenden rechtlichen Argumentationsspielraumes zeigt das Urteil des LG Osnabrück bedenkliche Lücken auf, die mit Blick auf die Strafbarkeit rund um die Fälschung von Impfausweisen bestehen. Rechtspolitisch wünschenswert wäre sicherlich gewesen, die Strafbarkeit eines solchen Verhaltens zu bejahen. Nichtsdestotrotz ist die Position des LG Osnabrück rechtlich valide und juristisch wohl gut begründet. Es ist eben Aufgabe des Gesetzgebers und nicht der Gerichte, entsprechende rechtliche Grundlagen für eine Verurteilung zu schaffen.
Eben dieser möchte nunmehr nachbessern. Geplant ist die Streichung der Var. 2 und 3 des § 277 StGB, sodass die Handlungsmodalitäten, die von § 267 Abs. 1 StGB und § 269 StGB erfasst sind, nicht mehr in § 277 StGB privilegiert werden (BT-Drs. 20/15, S. 34). Dies löst das Konkurrenzverhältnis der beiden Vorschriften auf. Ferner soll nunmehr das bloße Handeln zur Täuschung im Rechtsverkehr genügen (BT-Drs. 20/15, S. 34). Die Vorschriften §§ 278 und 279 sollen ebenfalls dahingehend angepasst werden, dass ein Handeln zur Täuschung im Rechtsverkehr genügt (BT-Drs. 20/15, S. 35). Damit würde die Einengung mit Blick auf Täuschungen zu Lasten von Behörden und Versicherungsgesellschaften entfallen. Weiterhin soll § 275 um einen Absatz 1a ergänzt werden, der die Manipulation von Blankett-Impfausweisen als Fälschungsvorbereitungshandlung unter Strafe stellt (BT-Drs. 20/15, S. 33). Geplant ist auch eine Ergänzung des § 281 Abs. 2, sodass auch das Verwenden fremder Gesundheitszeugnisse ein strafbares Verhalten darstellt (BT-Drs. 20/15, S. 34).
Examenskandidaten sollten daher etwaige künftige Änderungen der Vorschriften, aber auch das Urteil des LG Osnabrück im Blick behalten. Für Altfälle vor einer etwaigen Gesetzesänderung gilt weiterhin die bisherige Rechtslage.
 

11.11.2021/1 Kommentar/von Yannick Peisker
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Yannick Peisker https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Yannick Peisker2021-11-11 09:00:492022-05-20 11:12:06Strafbarkeit des Vorlegens gefälschter Impfausweise in der Apotheke
Tom Stiebert

Tag 2 der arbeitsrechtlichen Diskussion über den Ruhetag – Ein Überblick über die Argumente

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Anmerkung: Der Beitrag gibt den Rechtsstand vom 24.03.2021, 10 Uhr, wieder. 
Was genau ein Ruhetag sein soll und auf welcher Grundlage dieser erstellt wird, ist noch völlig offen. Auch wenn die handelnden Personen ursprünglich die Vorstellung gehabt haben mögen, dass die Ruhetage Feiertagen (nach den Feiertagsgesetzen der Länder) gleichgestellt werden („Die Regelung wird analog zu Sonn- und Feiertagen sein„, so Kanzlerin Merkel), so ist es leider nicht so einfach. Bezeichnenderweise endet das vorgenannte Zitat der Kanzlerin dann auch mit „sage ich jetzt einmal„. Das genügt aber nicht.
Das deutsche Arbeitsrecht kennt nur Ersatzruhetage, in einem völlig anderen Kontext Arbeitszeitgesetz.
Welche Optionen gibt es nun, Gründonnerstag und Ostersamstag zum Ruhetag umzuwidmen und welche Folgen hat dies für Arbeitgeber und Arbeitnehmer? Dies soll nachfolgend kurz dargestellt werden.
 
I. Regelung in den Feiertagsgesetzen der Länder
Am effektivsten wäre sicherlich eine Regelung in den Feiertagsgesetzen der Länder aufzunehmen. Alle Folgeprobleme (Entgeltfortzahlung nach EFZG; Arbeitszeit nach ArbZG; Fristabläufe, bspw. § 222 Abs. 2 ZPO) wären damit automatisch gelöst, weil der Begriff des Feiertags in diversen Gesetzen in Bezug genommen wird.
Dies ist allerdings unwahrscheinlich, da es hierfür jeweils eines formellen Gesetzes bedürfte – dies ist in der Kürze der Zeit kaum zu schaffen. Außerdem haben alle Protagonisten bewusst nicht den Begriff des Feiertags verwendet, sodass dies offenbar von Beginn an nicht intendiert war.
 
II. Regelung durch Rechtsverordnung
Insofern scheint eine Regelung in den Coronaschutzverordnungen näherliegend. Bayern hat hierfür bereits einen Entwurf erstellt und schreibt (abrufbar hier):

Betriebe, Ladengeschäfte, Unternehmen und Behörden bleiben am 1. April 2021 (Gründonnerstag) und am 3. April 2021 (Karsamstag) wie an den Osterfeiertagen geschlossen; am Samstag, den 3. April 2021, wird ausschließlich der Lebensmittelhandel geöffnet.

Die Schließung eines Betriebs bedeutet aber zum einen nicht, dass nicht von zu Hause gearbeitet werden kann oder muss und lässt zum anderen die Frage weiterer Rechtsfolgen – Entgeltfortzahlung; Fristabläufe etc. – völlig außen vor.
Rechtlich ist dies im Ergebnis auch richtig, denn die auf das Infektionsschutzgesetz gestütze Verordnung kann solche Bereiche denknotwendig nicht regeln. Betriebe dürfen – nach einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung – geschlossen werden, um das Infektionsrisiko zu senken, die Gewährung eines kompletten arbeitsfreien Tages (auch im Homeoffice) und die Verpflichtung der Arbeitgeber, dennoch die Vergütung zu zahlen, betrifft aber ein vollkommen anderes Thema und kann damit auf diesem Weg nicht geregelt werden.
Insofern ist nach hiesigem Verständnis eine vollständige Gleichstellung der Rechtsfolgen des Ruhetages zu Feiertagen schlichtweg nicht möglich. Geregelt werden kann allein das, was der Vermeidung von Kontakten dient.
 
III. Welche Optionen bleiben?
Nach der hier vertretenen Ansicht ist es damit rechtlich in der Kürze der Zeit kaum möglich, auch die Arbeit im Homeoffice am Ruhetag 1. April 2021 zu versagen.
Aber auch für die zahlreichen Beschäftigten in Betrieben, die zulässigerweise durch die Rechtsverordnung geschlossen werden können, ist allein geklärt, dass eine Schließung möglich ist. Dies beantwortet aber nicht die Frage, ob an diesem Tag auch Entgelt zu gewähren ist und ob dies vom Arbeitgeber oder gar vom Bund bzw. Land zu tragen ist.
Für eine Pflicht des Arbeitgebers zur Gewährung des Entgelts spräche allein das Betriebsrisiko – ob dies aber in dem hiesigen Fall (der eine riesige Anzahl von Betrieben betrifft), einschlägig ist, ist unwahrscheinlich.
Naheliegender ist dagegen, dass Bund und Länder die Lohnkosten für diesen Tag zu tragen haben. Dies jedenfalls dann, wenn die Schließung der Betriebe (oder gar das Verbot jeglicher Tätigkeit) unzulässig sind. Insofern liegen Staatshaftungsansprüche (die insgesamt die Grenze von einer Milliarde Euro erreichen können) nicht fern. Auch das Infektionsschutzgesetz kennt in § 56 IfSG Entschädigungszahlungen an Arbeitgeber in bestimmten Konstellationen, sodass eine solche Sichtweise naheliegend scheint. Ob dies gleichwohl bei der Diskussion bisher bedacht wurde, scheint fraglich.
Ebenso nicht ausgeschlossen ist gleichwohl, dass Arbeitnehmer letztlich auf den Kosten sitzen bleiben – da weder Staat, noch Länder noch der Arbeitgeber zur Entgeltfortzahlung verpflichtet sind. Auch dies ist jedenfalls dann nicht fernliegend, wenn man die Ansicht teilt, dass die Untersagung der Arbeit zulässig ist, aber das Betriebsrisiko des Arbeitgebers nicht einschlägig ist. Dies wird in der bisherigen Diskussion kaum betrachtet, scheint aber nicht unwahrscheinlich. Insofern würde der Ruhetag dann einem Tag unbezahlten Urlaub gleichen.
 
IV. Ein Ausblick
Welches Ergebnis wird nun am Ende stehen? Vermutlich wird man einen Kompromiss finden. Es erscheint – gerade auch aufgrund der bestehenden Unsicherheit – wahrscheinlich, dass viele Arbeitgeber freiwillig die Ruhetage wie Feiertage behandeln und damit allen Arbeitnehmern (also auch den Beschäftigten im Homeoffice) einen freien Tag bei gleichzeitiger Vergütung gewähren. Ebenso ist zu erwarten, dass auch die Politik in diese Richtung appelieren wird.
Zwingend ist dies aber nicht. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass es zu Regressansprüchen gegen Bund und Länder kommt. Unternehmen ist zu raten, diese Optionen sehr genau zu prüfen und entsprechende Maßnahmen ins Auge zu fassen.
Rechtlich ist die Situation jedenfalls extrem problematisch. Als Ausweg bliebe dann allein, den Vorschlag, den 1. April 2021 zum Ruhetag zu deklarieren, als vorzeitigen Aprilscherz zu bezeichnen. Die schlechteste Option wäre dies ganz sicher nicht.
 

24.03.2021/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2021-03-24 10:17:522021-03-24 10:17:52Tag 2 der arbeitsrechtlichen Diskussion über den Ruhetag – Ein Überblick über die Argumente
Gastautor

Der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG im Spiegel der Corona-Krise

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Wir freuen uns, folgenden Gastbeitrag von Marcus Schnetter veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1385 Recht und Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
 
„Die Wohnung ist unverletzlich“. In galanter Prägnanz warnt Art. 13 Abs. 1 GG den Staat eindringlich davor, in die intimsten Rückzugsräume seiner Bürgerinnen und Bürger einzudringen. Dieser Beitrag behandelt den damit durch die Verfassung garantierten Schutzbereich. Durch die aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie gewinnen dessen Gewährleistungen ungeahnte Examensrelevanz.
 
Schutzgut, Bedeutung und Geschichte
Historisch lässt sich die Unverletzlichkeit der Wohnung bereits in den Vorläuferverfassungen nachweisen. Wortgleich formulierten bereits Art. 6 der Preußischen Verfassung und § 140 der Paulskirchenverfassung ein entsprechendes Abwehrrecht des Bürgers gegen staatliche Übergriffe. Auch die Weimarer Reichsverfassung erachtete in ihrem Art. 115 die Wohnung als unverletzliche Freistätte jedes Deutschen. Von Störungen freigehalten werden soll damit die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet. Der enge Bezug zur Menschenwürde und zur Persönlichkeitsentfaltung, wie er in Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EuGrCH noch deutlicher zum Vorschein kommt, macht es zu einem ausgesprochen wertigen Grundrecht. Kurz und bündig geht es um das Recht „in Ruhe gelassen zu werden“ (BVerfGE 89, 1, 12)
 
Sachlicher Schutzbereich
Der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG nimmt ein deutlich extensiveres Verständnis in Bezug, als es auf den Blick erscheinen mag. Die Garantie ist gerade nicht im wörtlichen Sinne nur auf die Wohnung, also auf Stätten des privaten Lebens beschränkt, in denen wir uns von der Öffentlichkeit zurückziehen, um in ungestörter Ruhe zu schlafen, zu essen und unsere Freizeit zu gestalten. Vielmehr geht mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ein weiter Wohnungsbegriff einher: Geschützt sind daher auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten, selbst wenn diese öffentlich zugänglich sind (BVerfGE 97, 228, 242).
Gegen diese Schutzbereichsausdehnung wird in der Literatur der personale Gehalt des Art. 13 GG ins Feld geführt. Die enge Verbindung zur Menschenwürde und zur Persönlichkeitsentfaltung spreche dafür, den Schutzbereich auf natürliche Personen zu begrenzen. Von der verfassungsgerichtlichen Ausweitung würden jedoch in erster Linie juristische Personen profitieren, die sich unstreitig gerade nicht auf das personal angelegte Konzept von Würde und Persönlichkeitsentfaltung berufen können (Dreier/Hermes, Grundgesetz-Kommentar, Art. 13 GG Rn. 26). Für die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts spricht jedoch die schwere Abgrenzbarkeit von Wohn- und Arbeitsraum (v. Mangoldt/Klein/Starck/Gornig, Grundgesetz, Art. 13 GG Rn. 22). Gerade in Zeiten vermehrter Erwerbsarbeit von Zuhause aus verschwimmen die Grenzen zwischen home und office. Mit der Schutzbereichsausdehnung wird die Bedeutung von Art. 13 GG durch die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG aufgeladen, was der Norm ihre größtmögliche Wirkungskraft verleiht.
Gut begründen lässt sich indessen auch eine vermittelnde Ansicht, wonach Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten zumindest dann vom Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG ausgeschlossen sind, wenn diese jeder und jedem zugänglich sind. Schutzwürdige Belange der Privatsphäre oder Persönlichkeitsentfaltung sind bei solchen der Öffentlichkeit zugewandten Stätten kaum noch erkennbar (Epping, Grundrechte, Rn. 666-668)
 
Persönlicher Schutzbereich
In persönlicher Hinsicht differenziert der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG dementsprechend: Auf den Schutz von Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten können sich sowohl natürliche als auch juristische Personen berufen. Grundrechtsträger im Sinne des engen Wohnungsbegriffs sind indessen alleine natürliche Personen.
 
Die Relevanz des Schutzes der Wohnung im Zuge aktueller Entwicklungen
Des Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG verdient angesichts der jüngsten Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus nähere Aufmerksamkeit.
Es stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, wenn die Länder zur Bekämpfung der Pandemie „in die Wohnung hineinregieren“. So verbietet beispielsweise die Hamburgische SARS-CoV-2-EindämmungsVO in ihrem § 4a Abs. 2 die Zusammenkunft von mehr als zehn Personen im privaten Wohnraum. Wenn aber ein Bürger das Recht hat, vom Staat in seinen eigenen vier Wänden in Ruhe gelassen zu werden, stellt dann nicht ein Verbot des Zusammenkommens in seiner Privatwohnung eine rechtfertigungsbedürftige Verkürzung des Gewährleistungsgehalts von Art. 13 Abs. 1 GG dar?
Richtigerweise schützt Art. 13 Abs. 1 GG aber nicht jegliche Nutzung der Wohnung. Denn die Unverletzlichkeit der Wohnung ist keine zwingende Voraussetzung, um sich mit Freunden oder Familie zusammenzufinden. Für den Genuss von Privatsphäre und das Ausleben der eigenen Persönlichkeit ist ein ungestörter Rückzugsraum hingegen conditio sine qua non. Der bloß zufällige Bezug zur Wohnung genügt dementsprechend nicht. Das Verbot des Reitens im Walde wird ja auch nicht zur Frage des Art. 14 Abs. 1 GG, nur weil ein Reiter sein ihm gehörendes Pferd ausführt (BVerfGE 80, 137). Die historische Bedeutung der Norm weist ebenfalls darauf hin, dass nur der spezifische Einblick des Staates in das Treiben innerhalb der Wohnung rechtfertigungsbedürftig sein soll. Mit anderen Worten: „Auch das soziale Zusammentreffen von Menschen in einer Wohnung wird erst dann zu einem Thema dieses Grundrechts, sobald der Staat sich mit einem Fuß, Auge oder Ohr in die Wohnung hineinbegeben möchte“ (Kluckert, VerfBlog, 2020/11/07, auch näher zur Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 13 Abs. 1 GG)
 
Novelle der Corona-Schutzverordnung NRW: Legaldefinition des „öffentlichen Raums“
Interessant wird die genaue Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 13 Abs. 1 GG auch im Zusammenhang mit der Neuregelung der  Corona-Schutzverordnung NRW. Anders als beispielsweise Hamburg und einige andere Bundesländer sieht der nordrhein-westfälische Verordnungsgeber von einer Regelung der Wohnungsnutzung im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen explizit ab.
Dies gelingt ihm über die Konkretisierung des Begriffs vom „öffentlichen Raum“. Dieser umfasst nach § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW „alle Bereiche mit Ausnahme des nach Art. 13 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützten Bereichs.“
Aber Halt! Wir erinnern uns: Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG fallen auch öffentlich zugängliche Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten in den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG. Das ist deswegen höchst relevant, weil die Verhaltenspflichten in Bezug auf das Coronavirus – vom einzuhaltenden Mindestabstand über die Maskenpflicht bis zu den Kontaktbeschränkungen – nur für den Aufenthalt in ebenjenem öffentlichen Raum gelten. Das hieße im Umkehrschluss, dass diese Stätten des privaten Wirkens nicht mehr von den Regelungen der Verordnung umfasst wären. Dementsprechend würden beispielsweise in Supermärkten, Büroräumen, Werkstätten, Lagerhallen und Frisören die gerade verschärften Regelungen keine Anwendung mehr finden. Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen wären in diesen Bereichen hinfällig.
 
Ein regelungstechnisches Versehen
Dies kann offensichtlich nicht im Sinne des Verordnungsgebers gewesen sein. Das zeigt schon ein systematisch-vergleichender Blick in den Regelungskomplex. Ginge man davon aus, dass Geschäftsstellen (also bspw. Supermärkte) als nicht-öffentlicher Raum vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen seien, wäre eine Regelung wie § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Corona-Schutzverordnung NRW schlechterdings sinnlos. Diese verpflichtet „zum Tragen einer Alltagsmaske [..] in geschlossenen Räumlichkeiten im öffentlichen Raum, soweit diese – mit oder ohne Eingangskontrolle – auch Kundinnen und Kunden beziehungsweise Besucherinnen und Besuchern zugänglich sind, sowie auf Märkten und ähnlichen Verkaufsstellen im Außenbereich“. Neben den hiermit in Bezug genommenen Verkaufsräumen, zählen nach dem impliziten Willen des Verordnungsgebers auch Büroräume zum „öffentlichen Raum“, wie sich aus einem Umkehrschluss aus § 3 Abs. 2 S. 2 Corona-Schutzverordnung NRW ergibt.
Darüber hinaus ist auch das Zustandekommen der neuen Verordnung zu berücksichtigen. Die Landesregierung wollte mit der Neufassung bekanntermaßen strengere Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Verbreitung des Coronavirus umsetzen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber mit der negativ-akzessorischen Anknüpfung an den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG den Anwendungsbereich der Verordnung (so massiv) beschränken wollte. Die en passant eingeführte Legaldefinition des Begriffs des öffentlichen Raums ist daher ein regelungstechnisches Versehen par excellence. Vor uns liegt der klassische Fall eines Widerspruchs von verba und voluntas.
 
Teleologische Reduktion als methodisch zulässige Korrektur
Dieser Widerspruch kann (und muss) mittels einer teleologischen Reduktion der Anknüpfung an Art. 13 Abs. 1 GG in § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW gelöst werden. Richtigerweise verweist § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW dann nur noch auf eine Wohnung im engeren Sinne, also einen Raum, der aufgrund äußerer Vorrichtungen nicht allgemein zugänglich ist, sich für einen länger andauernden Aufenthalt eignet und dazu bestimmt ist, dem menschlichen Bedürfnis nach einem individuellen Rückzugsort zu dienen. Methodisch wird dabei nicht am Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG angesetzt, sondern lediglich der Umfang des durch § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW erfolgten Verweises im Sinne des Verordnungsgebers reduziert.
Für die Zukunft sollte der Verordnungsgeber freilich schnellstmöglich das Missverständnis beseitigen, indem er eine eigenständige Definition des Begriffs des öffentlichen Raumes vornimmt.

17.11.2020/5 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2020-11-17 09:00:532020-11-17 09:00:53Der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG im Spiegel der Corona-Krise
Lena Bleckmann

COVID-19: Sind Beherbergungsverbote rechtmäßig? Aktelle Entscheidungen aus Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein

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Kaum ein Thema hat in der vergangenen Woche die Diskussion um neue Präventionsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 so dominiert wie die Beherbergungsverbote. Diese wurden von einigen Bundesländern aufgrund stark ansteigender Fallzahlen eingeführt, andere wiederum verweigerten vergleichbare Maßnahmen. Nicht nur diese Uneinheitlichkeit stand in der Kritik – auch die Wirksamkeit solcher Beherbergungsverbote zur Pandemiebekämpfung wurde bezweifelt.
Nun liegen erste Eilentscheidungen der zuständigen Gerichte vor, und es zeigt sich: Einheitlichkeit wird auch die Rechtsprechung hier vorerst nicht herbeiführen. Im Folgenden sollen die aktuellen Entscheidungen des VGH Mannheim, des OVG Lüneburg sowie des OVG Schleswig-Holstein in ihren Grundzügen vorgestellt werden. Die Examensrelevanz – für Klausuren wie mündliche Prüfungen – liegt auf der Hand.
I. VGH Mannheim: Beherbergungsverbot außer Vollzug gesetzt
In Baden-Württemberg wurde die Beherbergung von Gästen, die sich in einem Land- oder Stadtkreis oder einer kreisfreien Stadt innerhalb der Bundesrepublik aufgehalten haben oder dort ihren Wohnsitz haben, in dem der Schwellenwert von 50 gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen überschritten wurde, durch § 2 Abs. 1 der Corona-Verordnung Beherbergungsverbot untersagt. Eine Ausnahme sollte nur möglich sein, wenn die betroffenen Gäste einen negativen Coronatest vorlegen konnten, der nicht älter als 48 Stunden ist. Die Reisebeschränkung soll nach Angaben der Landesregierung der Eindämmung des Pandemiegeschehens dienen.
Hiergegen wendete sich eine Familie aus dem Kreis Recklinghausen, in dem die kritische Marke bereits überschritten wurde, mit einem Eilantrag. Die Familie hatte einen mehrtägigen Urlaub in Baden-Württemberg gebucht und wollte diesen auch antreten.

Anmerkung: Das Land Baden-Württemberg hat in § 4 AGVwGO von der Möglichkeit nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO Gebrauch gemacht, die Normenkontrolle auch gegen im Rang unter dem Landesrecht stehende Rechtsvorschriften zuzulassen. Bei dem Eilantrag gegen die Verordnung handelt es sich daher um einen Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen.

Das Gericht gab dem Antrag statt. Dies begründete es vorwiegend mit einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG. Der Eingriff in den Schutzbereich steht hier außer Frage. Kernstück der Prüfung dürfte die Verhältnismäßigkeit eines Verbots sein. Zugunsten der Verordnung ist hier – wie so häufig zur Rechtfertigung von Präventionsmaßnahmen in Zeiten der Pandemie – anzuführen, dass das Beherbergungsverbot dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter dient, da es Gefahren für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit einer Großzahl von Personen abwenden soll und der Bewahrung der Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems dient. Gegen die Verhältnismäßigkeit eines Beherbergungsverbots spricht jedoch nach der Argumentation des VGH Mannheim ganz entscheidend, dass innerdeutsche Urlaubsreisen sowie der Aufenthalt in Beherbergungsbetrieben bisher kein Treiber der Pandemie gewesen sind. Dies seien vielmehr Feiern in größeren Gruppen sowie der Aufenthalt in engen Räumen. Ein Zusammenhang zwischen der Beherbergung und einem besonders hohen Infektionsrisiko bestehe nicht, zumal in Beherbergungsbetrieben nicht zwangsläufig eine größere Zahl von Menschen aufeinandertreffen würde. Dass daher gerade Beherbergungsbetriebe im Gegensatz zu Bars und Vergnügungsstätten Beschränkungen unterworfen werden sollen, erschließe sich nicht.
Hieran soll auch die Befreiungsmöglichkeit aufgrund eines negativen Coronatests nichts ändern: Ob ein solcher in der vorgegebenen Zeit überhaupt erlangt werden könne, sei nicht gesichert. Den Betroffenen sei es daher nicht zumutbar, sich auf diese Möglichkeit der Befreiung verweisen zu lassen.
Insgesamt wurde das baden-württembergische Beherbergungsverbot daher mit sofortiger Wirkung außer Vollzug gesetzt.
(Siehe zum Ganzen: VGH Mannheim, Pressemitteilung vom 15.10.2020, hier abrufbar).
II. OVG Lüneburg: Niedersächsisches Beherbergungsverbot ebenfalls außer Vollzug gesetzt
Ähnlich entschied das OVG Lüneburg zum niedersächsischen Beherbergungsverbot. Dieses war in § 1 der Niedersächsischen Corona-Berherbergungs-Verordnung vorgesehen. Der Betreiber eines Ferienparks wendete sich wiederum mit einem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO gegen das Verbot und hatte Erfolg.
Das niedersächsische Verbot ist nach Ansicht des OVG Lüneburg bereits zu unbestimmt, da es Personen „aus“ Risikoverbieten erfasse, ohne zu präzisieren, ob sie dort ihren Wohnsitz haben oder gewöhnlichen Aufenthalt haben müssten.
Weiterhin bezweifelte das Gericht die Notwendigkeit der infektionsschutzrechtlichen Maßnahme:

 „Angesichts des engen Anwendungsbereichs (Übernachtungen zu touristischen Zwecken in Beherbergungsbetrieben, nicht aber bloße Einreisen und Aufenthalte ohne Übernachtungen zu jedweden Zwecken, unter anderem Fahrten von Berufspendlern und Heimreisen niedersächsischer Bürgerinnen und Bürger aus Urlauben in innerdeutschen Risikogebieten) und zahlreicher Ausnahmen (unter anderem negativer Corona-Test, „triftiger Reisegrund“ und Einzelfallausnahmen des Gesundheitsamts) erfasse das Verbot von vorneherein nur einen sehr begrenzten Ausschnitt des Reisegeschehens und könne auch nur insoweit überhaupt eine Wirkung auf das Infektionsgeschehen entfalten.“ (OVG Lüneburg, Pressemitteilung vom 15.10.2020).

Im Übrigen argumentierte das Gericht vergleichbar dem VGH Mannheim mit dem fehlenden Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt in Beherbergungsbetrieben und dem Infektionsgeschehen. Das Verbot stelle insgesamt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Betreiber nach Art. 12 GG dar, der auch nicht durch die geltenden Ausnahmen so abgemildert werde, dass eine Verhältnismäßigkeit der Regelung bestehe. Auch hinsichtlich der begrenzten Möglichkeit, innerhalb einer kurzen Zeitspanne einen negativen Coronatest zu erlangen, entspricht die Argumentation des Gerichts der das VGH Mannheim.
Auch das niedersächsische Beherbergungsverbot wurde daher vorläufig außer Vollzug gesetzt.
(Siehe zum Ganzen OVG Lüneburg, Pressemitteilung vom 15.10.2020, hier abrufbar).
III. OVG Schleswig-Holstein: Beherbergungsverbot bleibt in Kraft
Anders entschied demgegenüber das Schleswig-Holsteinsche Oberverwaltungsgericht. Vor dem Hintergrund der stark ansteigenden Infektionszahlen sah sich das Gericht nicht in der Lage, das dort geltende Beherbergungsverbot außer Vollzug zu setzen. Dies könnte zu einem unkontrollierten Anreisen von Touristen nach Schleswig-Holstein führen, was die öffentliche Gesundheit gefährden würde. Im Rahmen der Folgenabwägung müsse eine Entscheidung daher zugunsten des Beherbergungsverbots ausfallen.
(Siehe zum Ganzen die Zusammenfassung der FAZ , eine Pressemitteilung des Gerichts steht noch aus).
IV. Ausblick
Wie so oft zeigt sich: Mit guter Argumentation sind verschiedene Lösungen vertretbar. Die Entscheidungen sollten Studenten wie Examenskandidaten Anlass geben, die Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sowie die Normenkontrolle nach § 47 VwGO zu wiederholen. Ein Augenmerk sollte auch auf den Unterschieden, die sich aus der Situation des Antragstellers ergeben, liegen: Während das baden-württembergische Verbot an Art. 11 GG gemessen wurde, kam es in Niedersachsen auf die Vereinbarkeit mit Art. 12 GG an. 
Im Übrigen sollte im Hinblick auf anstehende Klausuren und mündliche Prüfungen die aktuelle Rechtsprechung zum Pandemiegeschehen im Blick gehalten werden – an den Beherbergungsverboten zeigt sich besonders deutlich, dass sich diese hervorragend in juristische Prüfungen einbinden lässt. 

16.10.2020/1 Kommentar/von Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Lena Bleckmann2020-10-16 09:15:592020-10-16 09:15:59COVID-19: Sind Beherbergungsverbote rechtmäßig? Aktelle Entscheidungen aus Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein
Charlotte Schippers

Rechtsprechungsübersicht Strafrecht und Strafprozessrecht 1. Halbjahr 2020

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Bei der Vorbereitung auf die schriftliche und vor allem mündliche Examensprüfung, aber auch auf Klausuren des Studiums, ist die Kenntnis aktueller Rechtsprechung unbedingt erforderlich. Neue Urteile und Beschlüsse werden immer wieder als ein Teil der Prüfung herangezogen oder bei besonders wichtigen Entscheidungen ausdrücklich abgefragt. Der folgende Überblick soll für die examensrelevanten Entscheidungen in Strafsachen des Jahres 2020 (und Ende 2019) als Stütze dienen und Ausgangspunkt für eine tiefere Auseinandersetzung sein.
 
Strafrecht

BGH, Urt. v. 26.11.2019 – 2 StR 557/18: Strafrechtliche Verantwortlichkeit von JVA-Beamten für den Mord eines Häftlings während eines Freigangs

Zu folgendem Fall urteilte der BGH Ende letzten Jahres: T, Häftling in einer JVA, beging während eines Freigangs mehrere Straftaten, u.a. tötete er bei einer Flucht vor der Polizei, indem er mit rasanter Geschwindigkeit als „Geisterfahrer“ auf die Gegenfahrbahn fuhr, eine im Gegenverkehr befindliche junge Frau. Wegen dieser Tat wurde er wegen Mordes rechtskräftig zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Relevant war hier nun die Strafbarkeit der zuständigen JVA-Beamten.
Die Vorinstanz hatte eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB angenommen, der BGH sprach die Beamten nun frei: In ihrer Entscheidung, den Strafgefangenen in den offenen Vollzug zu verlegen und ihm weitere Lockerungen in Form von Freigängen zu gewähren, liege keine Sorgfaltspflichtverletzung; den Beamten stehen Beurteilungsspielraum und Ermessen zu, sodass

„die getroffene Entscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen [ist]. Bei der Beurteilung der Sorgfaltswidrigkeit darf sich das Gericht weder von einer aus dem späteren Kenntnisstand rückschauenden Wertung (ex post) leiten lassen, dass sich eine Prognoseentscheidung im Ergebnis als ,falsch‘ erwiesen hat, noch seine eigene, abweichende Prognoseentscheidung als Maßstab anlegen. Maßgebend ist vielmehr die fachliche und rechtliche Vertretbarkeit der Entscheidung aus der Perspektive der Lockerungsentscheidung (ex ante). Eine im Ergebnis falsche Prognose erweist sich als pflichtwidrig, wenn die Missbrauchsgefahr aufgrund relevant unvollständiger oder unzutreffender Tatsachengrundlage oder unter nicht vertretbarer Bewertung der festgestellten Tatsachen verneint worden ist.“ (Rn. 25)

Der BGH erläutert in der Folge, die Angeklagten hätten sich aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht den Anforderungen entsprechend verhalten.
Diese examensrelevante Entscheidung hat Tobias Vogt besprochen.
 

BGH, Beschl. v. 17.12.2019 – 1 StR 364/18: Unvermeidbarer Verbotsirrtum bei Auskunft eines Rechtsanwalts und einer unzuständigen Behörde?

Mit Betäubungsmitteldelikten beschäftigte der BGH sich Ende letzten Jahres und erhielt hierbei auch die Gelegenheit, sich zu den Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums zu äußern. Kurz gefasst ging es um den Apotheker A, der mit anderen zusammen einen Versandhandel mit über das Internet bestellten verschreibungspflichtigen Medikamenten, die Abhängigkeitserkrankungen verursachen können, führte. Diese wurden an Kunden aus dem Ausland, überwiegend in die USA, geliefert. Über die für die Ausfuhr nach dem BtMG erforderliche Erlaubnis verfügte keiner der Beteiligten. Rechtsanwalt R, der A an die anderen vermittelt hatte, hatte ihm mitgeteilt, das Vertriebssystem sei von weiteren Rechtsanwälten geprüft. Dazu zeigte er ihm mehrere Blätter, die er als Gutachten bezeichnete, ohne sie ihm aber zum Lesen zu überlassen. Zudem erhielt A von der Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz die telefonische Auskunft, gegen den Versand von Medikamenten ins Ausland auf der Grundlage von Rezepten bestünden keine Bedenken.
Festgestellt wurde ein Verbotsirrtum gem. § 17 S. 1 StGB des A. Fraglich war nun, ob dieser vermeidbar war oder nicht. Zu den Anforderungen an die Unvermeidbarkeit führt der BGH aus:

„Unvermeidbar ist ein Verbotsirrtum erst dann, wenn der Täter alle seine geistigen Erkenntniskräfte eingesetzt und etwa aufkommende Zweifel durch Nachdenken oder erforderlichenfalls durch Einholung verlässlichen und sachkundigen Rechtsrats beseitigt hat. Dabei müssen sowohl die Auskunftsperson als auch die Auskunft aus der Sicht des Täters verlässlich sein; die Auskunft selbst muss zudem einen unrechtsverneinenden Inhalt haben. Eine Auskunft ist in diesem Sinne nur dann verlässlich, wenn sie objektiv, sorgfältig, verantwortungsbewusst und insbesondere nach pflichtgemäßer Prüfung der Sach- und Rechtslage erteilt worden ist. Bei der Auskunftsperson ist dies der Fall, wenn sie die Gewähr für eine diesen Anforderungen entsprechende Auskunftserteilung bietet, sie muss insbesondere sachkundig und unvoreingenommen sein und mit der Erteilung der Auskunft keinerlei Eigeninteresse verfolgen. Zudem darf der Täter nicht vorschnell auf die Richtigkeit eines ihm günstigen Standpunkts vertrauen und seine Augen nicht vor gegenteiligen Ansichten und Entscheidungen verschließen. Maßgebend sind die jeweils konkreten Umstände, insbesondere seine Verhältnisse und Persönlichkeit; daher sind zum Beispiel sein Bildungsstand, seine Erfahrung und seine berufliche Stellung zu berücksichtigen.“ (Rn. 21)

Daher ist auch der Rat eines Rechtsanwalts nicht ohne weiteres vertrauenswürdig. Der Rat muss, von notwendiger Sachkenntnis getragen, nach eingehender sorgfältiger Prüfung erfolgen. Sind die Auskünfte offenkundig mangelhaft, reicht das nicht zur Entlastung, notwendig ist bei komplexen Sachverhalten ein detailliertes, schriftliches Gutachten. Die durch R erteilten Hinweise, ohne die Möglichkeit, die Blätter durchzulesen, hätten durch A hinterfragt werden müssen, subsumiert der BGH.
Hinsichtlich der telefonischen Auskunft ist zu berücksichtigen, dass unzutreffende Auskünfte unzuständiger Behörden nur dann zur Unvermeidbarkeit des Irrtums führen können, wenn sich für den Täter die fehlende Zuständigkeit und Beurteilungskompetenz nicht aufdrängt (s. dazu BGH, Beschl. v. 2.2.2000 – 1 StR 597/99).

„Bei [A] handelt es sich um einen approbierten Apotheker mit langjähriger Berufserfahrung. Zur Ausbildung eines Apothekers gehören auch Grundkenntnisse im Betäubungsmittel- und Arzneirecht. Gerade aufgrund seiner beruflichen Stellung und der hiermit verbundenen Verpflichtungen war von [A] zu erwarten, dass ihm bekannt ist, dass der Handel mit Benzodiazepinen und NonBenzodiazepinen wegen der erhöhten Gefahr einer Abhängigkeitserkrankung bei dauerhaftem Konsum einer besonderen betäubungsmittelrechtlichen Kontrolle unterliegt und daher einer betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnis bedarf. Jedenfalls hätte er dies bei gebotener Anstrengung von Verstand und Gewissen erkennen können. Gleichermaßen hätte er – unter Berücksichtigung seiner beruflichen Stellung und Erfahrung – erkennen können, dass er sich an das für die Erteilung von Erlaubnissen und Genehmigungen im Betäubungsmittelrecht zuständige BfArM [Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte] hätte wenden müssen.“ (Rn. 21)

Schließlich verneint der BGH, dass das BfArM ebenfalls dieselbe Auskunft gegeben hätte:

„Hat der Täter einer Erkundigungspflicht nicht genügt, so setzt die Feststellung von Vermeidbarkeit voraus, dass die Erkundigung zu einer richtigen Auskunft geführt hätte.“ (Rn. 21)

Insbesondere wegen der Ausführungen zu den Anforderungen an die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums handelt es sich hierbei somit um eine wichtige und examensrelevante Entscheidung.
 

BGH, Beschl. v. 8.1.2020 – 4 StR 548/19: Erpressung bei Nötigung zur Begehung von Eigentumsdelikten?

T brauchte dringend Geld, um sich Marihuana kaufen zu können. Deswegen bedrohte er zwei 13-jährige Jungen mit einem Messer und forderte sie auf, für ihn in der Innenstadt Wertgegenstände zu stehlen. Wie beabsichtigt, hatten die beiden Jungen Angst vor ihm und waren von dem vorgehaltenen Messer so beeindruckt, dass sie sich nicht zu widersetzen wagten. Auf dem Weg in die Innenstadt konnten sie aber weglaufen.
Der BGH beschäftigte sich mit der Strafbarkeit des T wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung gem. §§ 253 Abs. 1, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB. Die Erpressung scheitert am Vermögensnachteil der Genötigten – das abverlangte Verhalten liegt „nur“ in der Begehung strafbarer Handlungen, ein Vermögensschaden auf Seiten des Nötigungsopfers fehlt. Weiterhin wäre für eine Dreieckserpressung ein Näheverhältnis zwischen dem Genötigten und dem zu Schädigenden erforderlich, an dem es hier, wie der BGH knapp feststellt, fehlte (vgl. auch BGH,  Urt. v.  20. 4.1995 ‒ 4 StR 27/95). Somit kam hier nur eine Strafbarkeit wegen versuchter Nötigung in zwei tateinheitlichen Fällen gem. §§ 240 Abs. 1, 2, 3, 22, 23 Abs. 1 StGB infrage.
 

BGH, Beschl. v. 22.1.2020 – 3 StR 526/19: Wohnungen i.S.d. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB

Der BGH beschäftigte sich zur Klärung der Frage, ob die Wohnung eines Verstorbenen auch eine Wohnung i.S.d. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist, mit folgendem (leicht abgewandeltem und gekürztem) Sachverhalt: Einbrecher E beschloss, vorrangig in die Häuser von Verstorbenen einzubrechen. Über entsprechende Todesfälle informierte er sich durch Traueranzeigen in der Tageszeitung. In der Folgezeit brach er, entsprechend seines Plans, unter Aufhebeln von Fenstern und Terassentüren in verschiedene Wohnungen von Verstorbenen ein.
In dem Beschluss bejahte der BGH, dass es sich bei den Immobilien, die noch voll eingerichtet und funktionsfähig waren, um Wohnungen im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB handelte mit einer lehrbuchartigen Gesetzesauslegung:

„Dafür spricht zunächst der Wortlaut der Vorschrift. Der Begriff „Wohnung“ bezeichnet eine für die private Lebensführung geeignete und in sich abgeschlossene Einheit von gewöhnlich mehreren Räumen. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist somit der Zweck der Stätte maßgebend, nicht deren tatsächlicher Gebrauch. […].
Diese Betrachtungsweise erfährt ihre Bestätigung in der Gesetzessystematik. Das Strafgesetzbuch sieht bei Einbruchdiebstählen eine Staffelung in Deliktsschwere und Strafmaß vor, die vom besonders schweren Fall des Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB über den Wohnungseinbruch im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB bis zum Einbruch in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung nach § 244 Abs. 4 StGB reicht. Spätestens mit Einführung der letztgenannten Vorschrift im Jahr 2017 hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass er die (dauerhafte) Nutzung der Wohnung nicht als tatbestandliche Voraussetzung des einfachen Wohnungseinbruchdiebstahls nach § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB verstanden wissen will. Die sprachliche Betonung dieses zusätzlichen Tatbestandsmerkmals in § 244 Abs. 4 StGB wäre sonst nicht geboten gewesen.“ (Rn. 16 f.)

Er argumentiert an dieser Stelle mit weiteren Delikten, namentlich § 123 Abs. 1 StGB, § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB und § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB, die sich auch in der Klausur gut zur Begründung heranziehen lassen!

„Schließlich gebieten Sinn und Zweck der Qualifikation aus § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Einbeziehung von unbewohnten Immobilien, jedenfalls so lange sie nicht als Wohnstätte entwidmet sind. Die Vorschrift soll das Eigentum an höchstpersönlichen Gegenständen und die häusliche Integrität an sich schützen. Diese Rechtsgüter können auch dann verletzt sein, wenn sie neben den aktuellen Bewohnern weiteren Personen zuzuordnen sind, die einen Bezug zu den Räumlichkeiten aufweisen – etwa, weil sie sich häufig in ihnen aufhalten, weil es sich um ihr Elternhaus handelt oder weil sie in dem Haus private Gegenstände lagern.“

Somit bejahte der BGH den Wohnungseinbruchsdiebstahl.
 

OLG Hamm, Beschl. v. 7.4.2020 – 4 RVs 12/20: Verwendung einer fremden EC-Karte zum kontaktlosen Zahlen

Ein Dauerbrenner im Examen sind die EC-Karten-Fälle, sodass sich ein Blick auf die aktuelle Entscheidung des OLG Hamm zum kontaktlosen Zahlen mit einer fremden EC-Karte lohnt. Folgender Fall (leicht abgewandelt und gekürzt) wurde entschieden: T erhielt von seiner Bekannten B die auf der Straße gefundene Geldbörse des O, in der sich neben ein wenig Bargeld und diversen Papieren und Karten auch eine EC-Karte befand. Mit dieser Karte tätigte T Einkäufe, u.a. im H-Markt, durch kontaktloses Bezahlen – also Auflegen der Karte auf das Lesegerät –, die jeweils einen Wert von unter 25 Euro hatten, sodass die Eingabe der PIN nicht erforderlich war. Diese Tatsache war T bekannt und er nutzte sie bewusst aus.
Eine Strafbarkeit wegen Betrugs gem. § 263 StGB lehnte das OLG ab, denn eine Täuschung liege bei der Zahlung ohne PIN-Abfrage nicht vor. Nach lesenswerten Ausführungen zu den Elementen der kontaktlosen Zahlung, folgert das OLG:

„Vor dem Hintergrund dieser Zahlungsmodalitäten hatten die Kassenkräfte des H-Marktes vorliegend keinerlei Anlass, sich Vorstellungen über die Berechtigung des Angeklagten zur Kartenverwendung zu machen. Im Gegenteil liefen sie vielmehr Gefahr, bei positiver Kenntnis von der Nichtberechtigung wegen kollusiven Zusammenwirkens mit dem Kartenverwender ihren Zahlungsanspruch gegen die […] kartenausgebende[…] Bank zu verlieren, weshalb aus Händlersicht gerade kein Anreiz bestand, über die Berechtigung des Angeklagten nachzudenken und so womöglich bösgläubig zu werden. Auch traf den Betreiber des H-Marktes bzw. seine Kassenmitarbeiter nach den Händlerbedingungen gegenüber der […] kartenausgebende[n] Bank keine Pflicht, die Berechtigung des Angeklagten anderweitig zu überprüfen, etwa durch Ausweiskontrolle. Damit aber fehlt es an einer Grundlage für die Annahme, dass der Angeklagte als Kunde seine Berechtigung zur Kartennutzung nach der Verkehrsanschauung fälschlich konkludent erklärt hätte und dass die Kassenmitarbeiter wenigstens im Sinne eines sachgedanklichen Mitbewusstseins einer entsprechenden irrigen Vorstellung unterlegen wären.“ (Rn. 14)

Gleichfalls scheidet auch ein Computerbetrug nach § 263a StGB aus, insbesondere wird nicht die einzig in Betracht kommende Variante der unbefugten Verwendung von Daten erfüllt – die h.M. setzt nämlich für das Merkmal „unbefugt“ voraus, dass die Verwendung gegenüber einer natürlichen Person Täuschungscharakter hätte. Das scheidet hier aber aus, denn geprüft werden mit dem Vorhalten der Karte vor das Lesegerät nur die Einhaltung des Verfügungsrahmens, die Nicht-Eintragung in eine Sperrdatei und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Absehen von der starken Kundenauthentifizierung.
In Betracht zieht das OLG nach Verneinung einiger anderer Delikte schließlich noch eine Urkundenunterdrückung nach § 274 I Nr. 2 StGB: Die Verwendung der Karte im kontaktlosen Bezahlvorgang stellt eine Löschung/Veränderung beweiserheblicher Daten dar:

„Der noch bestehende Verfügungsrahmen sowie die Umstände der bisherigen Kartennutzung seit der letzten PIN-Abfrage stellen Gedankenerklärungen dar, die durch die Speicherung im Autorisierungssystem bzw. auf dem Chip der ec-Karte perpetuiert sind. Weiterhin sind diese Daten auch beweiserheblich, weil sie für die Autorisierung weiterer Bezahlvorgänge mit der ec-Karte relevant sind. Nur wenn der Verfügungsrahmen noch nicht ausgeschöpft ist und in Bezug auf die Umstände der bisherigen Kartennutzung die Voraussetzungen […] für das Absehen von der PIN-Abfrage erfüllt sind, erteilt die kartenausgebende Bank im POS-Verfahren die Autorisierung der Zahlung (ohne PIN-Abfrage). Anders als im Hinblick auf die Transaktionsdaten ist in Bezug auf den Verfügungsrahmen und die Umstände der bisherigen Kartennutzung auch die Garantiefunktion des Urkundenbegriffs erfüllt. Es ist nämlich die kartenausstellende Bank als Aussteller dieser Daten ohne Weiteres erkennbar.“ (Rn. 37)

Verwirklicht wurde darüber hinaus auch § 303a Abs. 1 StGB.
Insgesamt ist das hier also eine wichtige und examensrelevante Entscheidung, die man sich genauer anschauen sollte!
 

BGH, Beschl. v. 14.4.2020 – 5 StR 93/20: Mordmerkmal der gemeingefährlichen Mittel in Abgrenzung zur „Mehrfachtötung“

Im April hat der BGH die Anforderungen an das Mordmerkmal der gemeingefährlichen Mittel (speziell für den Fall naturgemäß gemeingefährlicher Mittel) konkretisiert. Folgender Sachverhalt (gekürzt) lag dem zugrunde: T zündete in dem von ihm bewohnten Zimmer im 1. OG eines Wohnkomplexes eine auf seinem Bett liegende Wolldecke an, schloss die Zimmertür und verließ das Haus. Es war ihm bewusst, dass A und B sich im 1. OG aufhielten und C sich möglicherweise im Dachgeschoss befand. Mögliche Verletzungen oder den Tod der anderen nahm T in Kauf. A entdeckte den Brand und alarmierte B und C. Sie flüchteten und alarmierten die Feuerwehr. A und C erlitten Rauchgasvergiftungen. Die Feuerwehr konnte ohne Atemschutz nur bis zur Hälfte der Holztreppe ins OG vordringen; ab dort bestand akute Lebensgefahr. Der im Zimmer des T lodernde Vollbrand konnte schließlich gelöscht werden.
Maßgeblich war zunächst die Frage, ob ein gemeingefährliches Mittel vorliegt, wobei die Tatsache, dass T den Brand in seinem Zimmer gelegt hat, die Gemeingefährlichkeit des Mittels nicht grundsätzlich ausschließt, vielmehr wohnt Handlungen wie der vorliegenden aufgrund ihrer naturgemäß fehlenden Beherrschbarkeit die Gemeingefährlichkeit bereits inne:

„Es gibt nach ihrer Eigenart grundsätzlich gemeingefährliche Mittel, bei denen allenfalls im Einzelfall die Beherrschbarkeit bejaht oder bei der speziellen Art ihrer Handhabung die Gefahr für eine Vielzahl von Menschen ausnahmsweise verneint werden kann. Dazu zählen Brandsetzungsmittel und Explosionsstoffe. Bei ihnen hat der Täter die Folgen seines Tuns typischerweise nicht in der Hand […]. An der gemeingefährlichen Verwendung fehlt es bei an sich nicht beherrschbaren Mitteln nur dann, wenn der Täter im konkreten Fall davon ausgeht, es könne dadurch nur die zur Tötung ins Auge gefasste Person getroffen werden.“ (Rn. 9)

Wichtig war außerdem die Abgrenzung zu „Mehrfachtötungen“, wobei es nach früherer Rspr. darauf ankam, ob sich die Tat trotz Einsatzes eines naturgemäß gemeingefährlichen Mittels gegen einen individualisierten Kreis von Personen richtet – dann war das Vorliegen dieses Mordmerkmals zu verneinen (s. BGH, Beschl. v. 18.7.2018 – 4 StR 170/18). Daran zweifelte der BGH aber nun:

„Es erscheint wertungswidersprüchlich, den Täter, der von vornherein eine konkrete Vielzahl von Opfern durch ein in seinem Gefahrenpotential nicht beherrschbares Mittel tötet, gegenüber demjenigen zu privilegieren, der ohne diese Konkretisierung aufgrund der Gemeingefahr des Tötungsmittels auch nicht bereits individualisierte Opfer in Kauf nimmt. Ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung müsste in Fällen nicht weiterer Aufklärbarkeit der Tätervorstellung der Zweifelssatz für die Annahme sprechen, dem Täter sei es gerade auf die Tötung aller in die Gefahrenlage einbezogenen Personen angekommen. Weder die Formulierung noch der Sinn und Zweck des Mordmerkmals gebieten nach Ansicht des Senats eine solche Auslegung. Das gesetzliche Tatbestandsmerkmal stellt lediglich auf die vom Vorsatz umfasste Art des Tatmittels, nicht auf die Konkretisierung des Opfers in der Vorstellung des Täters ab. Die Unbestimmbarkeit des Opferkreises folgt vielmehr aus der besonderen Art des Tötungsmittels, das nach Freisetzung der in ihm ruhenden Kräfte für den Täter nicht mehr beherrschbar ist. Entscheidend muss es deshalb darauf ankommen, ob für den Angeklagten nicht mehr berechenbar ist, wie viele Menschen durch das Tatmittel verletzt und getötet werden können, weil er den Umfang der Gefährdung nicht beherrscht […]. Hat es der Täter bewusst nicht in der Hand, wie viele Menschen in den von ihm geschaffenen Gefahrenbereich geraten und durch sein Verhalten gefährdet werden, tötet er nach Ansicht des Senats auch dann mit gemeingefährlichen Mitteln, wenn er mit dem für ihn unbeherrschbaren Mittel eigentlich nur eine bestimmte Zahl konkreter Menschen töten will […].“ (Rn. 11 f.)

Im vorliegenden Fall fehlte aber sowieso die Individualisierung des Opferkreises, sodass die Frage i.E. nicht abschließend beurteilt werden musste.
Für weitere Details sei auf die ausführliche Besprechung von Melanie Jänsch verwiesen.
 

BGH, Beschl. vom 19.5.2020 – 4 StR 140/20: Habgier bei angestrebter staatlicher Versorgung in einer JVA?

Einen versuchten Mord aus Habgier nahm der BGH in vorliegendem Fall an: Der vermögenslose und nicht krankenversicherte A nahm sich vor, eine schwere Straftat begehen, um langfristig Unterkunft, Verpflegung und Krankenversorgung in einer JVA zu erhalten. In dieser Absicht fuhr er mit seinem Fahrzeug mit mindestens 80 km/h gezielt von hinten auf den auf einem Fahrradweg radelnden B auf. A wollte ihn erheblich verletzen. Zudem hielt er den Eintritt seines Todes ernsthaft für möglich und nahm ihn billigend in Kauf. B wurde von seinem Fahrrad geschleudert und erlitt durch den Aufprall und den Sturz schwere Verletzungen.
Zur Erinnerung:

„Habgier bedeutet ein Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen, das in seiner Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteigt und das in der Regel durch eine ungehemmte triebhafte Eigensucht bestimmt ist. Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Vermögen des Täters ‒ objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung ‒ durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehrt oder dass durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine Vermögensvermehrung entsteht.“ (2. a))

A wollte nun durch seine Tat lediglich eine langfristige Versorgung durch eine staatliche Einrichtung und dadurch eben auch eine Verbesserung seiner Vermögenslage i.S.e. rücksichtslosen Gewinnstrebens erreichen. Dass sich hiermit eine Begehung aus Habgier begründen lässt, wird auch nicht durch die Nachteile der Inhaftierung widerlegt, da diese für A nicht maßgeblich waren und er vornehmlich aufgrund der Vermögensvorteile handelte. Weiter begründet der BGH das Mordmerkmal der Habgier:

„Für die Annahme einer Tötung aus Habgier ist ferner unerheblich, dass der erstrebte Vermögensvorteil nicht unmittelbar aus dem Vermögen des Opfers stammen sollte. Ebenso steht einem Mordversuch aus Habgier nicht entgegen, dass der Angeklagte eine staatliche Versorgung auch auf legale Weise durch Beantragung von Sozialleistungen hätte erreichen können. Einen funktionalen Zusammenhang zwischen Tötung und Vermögensvermehrung in dem Sinne, dass der Angriff auf das Leben aus Sicht des Täters unerlässliches Mittel zur Zielerreichung ist, setzt das Mordmerkmal nicht voraus; entscheidend ist vielmehr die Motivation des Täters.“ (2. b)).

 

BGH, Beschl. v. 19.5.2020 – 6 StR 85/20: Erpresste Bankkarte und leeres Bankkonto

Der BGH traf ebenfalls am 19. Mai dieses Jahres einen Beschluss, wobei er die Anforderungen an einen Vermögensnachteil i.S.d. § 253 StGB darstellte. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: T bedrohte O mit einer Schreckschusspistole und forderte ihn auf, am Automaten Geld abzuheben. Das gelang O aber nicht, da sein Konto nicht ausreichend gedeckt war. Daraufhin zwang T ihn unter Drohung mit der Waffe zur Aushändigung der EC-Karte und der PIN. Eine Strafbarkeit wegen Erpressung scheitert aber am Vermögensschaden:

„Zwar ist der Nachteil für das Vermögen i.S. des § 253 StGB gleichbedeutend mit der Vermögensbeschädigung beim Betrug, so dass auch schon eine bloße Vermögensgefährdung einen Vermögensnachteil darstellt. Dabei kommt es aber entscheidend darauf an, ob im Einzelfall durch die Verfügung das Vermögen konkret gefährdet, also mit wirtschaftlichen Nachteilen ernstlich zu rechnen ist. Durch die Kenntnis der geheimen Zugangsdaten zu einem Bankkonto ist das Vermögen des Opfers grundsätzlich beeinträchtigt, wenn sich der Täter zudem im Besitz der zugehörigen Bankkarte befindet und ihm deshalb die jederzeitige Zugriffsmöglichkeit auf den Auszahlungsanspruch des Berechtigten gegenüber der die Karte akzeptierenden Bank eröffnet ist.“ (Rn. 4)

Das setzt aber voraus, dass tatsächlich mit wirtschaftlichen Nachteilen zu rechnen ist, was hier jedoch mangels Deckung des Kontos nicht der Fall ist.
Auch hierbei handelt es sich also um eine Entscheidung, die man sich in Anbetracht der Examensrelevanz der einschlägigen Delikte zu Gemüte führen sollte.
 

BGH, Beschl. v. 23.6.2020 – 5 StR 164/20: Mehrfacher Einsatz einer fremden EC-Karte an demselben Geldautomaten

Noch ein EC-Karten-Fall hat den BGH diesen Juni beschäftigt, in konkurrenzrechtlicher Hinsicht: T erlangte EC-Karte und PIN des O. Daraufhin hob er an einem Geldautomaten der örtlichen Sparkasse zunächst 400 € und etwa eine Minute später weitere 600 € ab.

„Bei mehrfachem unberechtigtem Einsatz einer fremden ec-Karte an demselben Geldautomaten innerhalb kürzester Zeit – mit von vornherein auf die Erlangung einer möglichst großen Bargeldsumme gerichtetem Vorsatz – stellen die einzelnen Zugriffe eine einheitliche Tat nach § 263a StGB im materiellrechtlichen Sinne dar.“ (Rn. 3)

 
Strafprozessrecht

BGH, Beschl. v. 11.3.2020 – 4 StR 307/19: Kein Strafklageverbrauch durch Einstellung durch die Staatsanwaltschaft gem. § 153 Abs. 1 StPO

In einem Beschluss dieses Jahr stellte der BGH klar, dass eine Verfahrenseinstellung der Staatsanwaltschaft nach § 153 Abs. 1 StPO ohne Zustimmung des Gerichts kein Verfahrenshindernis begründet und der Aburteilung der Tat daher nicht entgegensteht, es kommt nicht mal ein begrenzter Strafklageverbrauch infrage. Das ist insofern anders als bei einer gerichtlichen Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO, nach der eine Verfahrensfortführung nur unter den Voraussetzungen des § 153a Abs. 1 S. 5 StPO möglich ist.

„Denn anders als bei einem gerichtlichen Beschluss nach § 153 Abs. 2 StPO, der auf der Grundlage einer auch für ein Urteil ausreichenden Sachverhaltsaufklärung ergehen kann, handelt es sich bei der staatsanwaltschaftlichen Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO strukturell um eine Entscheidung, der unter dem Gesichtspunkt des Verfahrensschutzes nicht die einem Urteilsverfahren ähnliche Verlässlichkeit zuzumessen ist. […] Da die Staatsanwaltschaft die von ihr […] verfügte Wiederaufnahme des Verfahrens auf neue Erkenntnisse und Tatsachen, die den Verdacht einer vorsätzlichen Tatbegehung begründeten, gestützt hat, liegt auch kein Verstoß gegen das Willkürverbot vor.“ (Rn. 4)

Alles in allem also eine Entscheidung, die sich gut in einer StPO-Zusatzfrage z.B. abfragen lässt, da man hier gut den Vergleich der Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO und der nach Abs. 2 ziehen kann.
 

BGH, Beschl. v. 27.5.2020 – 5 StR 166/20: Entzug des letzten Wortes bei Missbrauch

Kurz gehalten ist der Beschluss des BGH zu dem Fall, dass der Angeklagte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte, weil ihm nicht ausreichend Gelegenheit zum letzten Wort (§ 258 StPO) gegeben worden sei, als ihm nach fünf Tagen das Wort entzogen wurde:

„Nach zehn Tagen Beweisaufnahme konnte er fünf Tage lang Ausführungen zu seiner Verteidigung machen. Dass er durch die Vorsitzende dabei 31 mal darauf hingewiesen wurde, dass seine Ausführungen Wiederholungen und Weitschweifigkeiten enthalten, und ihm schließlich eine Frist zur Beendigung seiner Ausführungen gesetzt wurde, lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Denn ein Vorsitzender darf nach § 238 Abs. 1 StPO einschreiten, wenn sich die Ausführungen des Angeklagten in seinem letzten Wort mit nicht zur Sache gehörenden Umständen befassen, fortwährende Wiederholungen oder andere unnütze Weitschweifigkeiten enthalten oder sonst einen Missbrauch seines letzten Wortes darstellen. Nach mehrmaligen erfolglosen Ermahnungen ist auch der Entzug des letzten Wortes möglich.“ (Rn. 7)

 

Weitere Beiträge

Folgende Beiträge beschäftigen sich nicht mit Entscheidungen aus dem hier betrachteten Zeitraum, sind aber dieses Jahr erschienen und behandeln Examensrelevantes:
 
Unsere ausführliche Besprechung des Beschlusses des OLG Karlsruhe vom 13.3.2019 (1 Rv 3 Ss 691/18) zur Manipulation von Warenetiketten, wobei das Gericht über einen examensrelevanten Fall entschied, der sich im Kontext der Vermögens- und auch Urkundendelikte bewegt: Der Täter tauschte zwei Warenetiketten aus und zahlte an der Kasse in der Folge einen „falschen“ geringeren Preis, was der Kassiererin nicht auffiel. Er machte sich dadurch strafbar wegen Betrugs, woran sich im Hinblick auf den Vermögensschaden auch nichts dadurch ändert, dass er von einer Ladendetektivin beobachtet und vor Verlassen des Ladens aufgehalten wurde:

„Dass der von dem Täter erstrebte Vermögensvorteil erlangt oder auch nur erreichbar ist, ist hingegen wegen der überschießenden Innentendenz zur Tatbestandsvollendung nicht erforderlich. Danach ist erst recht dann von Vollendung auszugehen, wenn der Täter die rechtswidrig erstrebte Vermögensposition – wie hier Eigentum und Besitz an der Schlauchtrommel – bereits erlangt hat, diese aber noch nicht gegen die unmittelbar drohende Erhebung berechtigter Rückgabeansprüche des Geschädigten sichern konnte, weil er sich noch in dessen Herrschaftsbereich aufhält und seine Tat von einem im Auftrag des Geschädigten handelnden, eingriffsbereiten Dritten beobachtet wurde.“ (Rn. 22)

Eine Urkundenunterdrückung hat der Täter ebenfalls verwirklicht, denn das Etikett i.V.m. der Ware stellt eine zusammengesetzte Urkunde dar, die durch das Abreißen des Etiketts, um das Austauschen zu ermöglichen, vernichtet wurde. Eine Urkundenfälschung kam im konkreten Fall aber nicht in Betracht.
 
Der Beitrag von Dr. Lorenz Bode, in dem er klausurtaktische Hinweise zu dem Beschluss des BGH vom 6.6.2019 (STB 14/19) zu Beweisverwertungsverboten und Widerspruchslösung gibt. Hier wurde die Pflicht, dass Beweisverwertungsverbote im Ermittlungsverfahren „unabhängig von einem Widerspruch des Beschuldigten von Amts wegen zu beachten“ sind, „auch wenn der zugrundeliegende Verfahrensmangel eine für ihn disponible Vorschrift betrifft“, festgeschrieben.
 
Keine Gerichtsentscheidung, aber eine brandaktuelle Frage wird im Beitrag von Tobias Vogt behandelt: Es geht um die Strafbarkeit durch Ansteckung mit dem Coronavirus, die im Kontext einer Anzeige gegen eine Strafrichter wegen versuchter Körperverletzung, nachdem dieser auf die Durchführung einer Gerichtsverhandlung bestand, auch im Grundsatz betrachtet wird. Hierbei kommt die Möglichkeit einer Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung, §§ 223, 224 StGB, in Betracht, die aber wohl häufig am fehlenden Vorsatz scheitern wird. Dann ist aber an eine fahrlässige Körperverletzung, § 229 StGB, denkbar. Bei tödlichem Verlauf ist natürlich an die Tötungsdelikte zu denken, auch ist immer der Versuch zu berücksichtigen.

03.08.2020/1 Kommentar/von Charlotte Schippers
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Charlotte Schippers https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Charlotte Schippers2020-08-03 08:16:002020-08-03 08:16:00Rechtsprechungsübersicht Strafrecht und Strafprozessrecht 1. Halbjahr 2020
Redaktion

Leistungsverweigerung wegen Corona-Gefährdung

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Wir freuen uns, einen Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing veröffentlichen zu dürfen. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Muss ein Lehrer Präsenzunterricht geben, obwohl er zur Risikogruppe gehört? Das Arbeitsgericht Mainz (v. 10.6.2020 – 4 Ga 10/20) hat den Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung abgelehnt, mit der ein 62jähriger Lehrer unter Berufung auf sein Alter seinem Arbeitgeber, einer Berufsschule mit Förderunterricht, verbieten lassen wollte, ihn während der Corona-Pandemie zu Präsenzunterricht heranzuziehen. Er meint, sich damit unzumutbar gesundheitlichen Risiken auszusetzen, obwohl ein Interesse an solchem Präsenzunterricht nicht ersichtlich sei.
Das Arbeitsgericht widersprach ihm und argumentierte, dass die Schulen einen Ermessensspielraum haben, wie sie den Gefahren der Corona-Pandemie begegnen wollen, und es nicht Aufgabe der Gerichte ist, vorab zu entscheiden, welcher Lehrer wie eingesetzt werden könne. Im konkreten Fall kam hinzu, dass der Antragsteller Einzelunterricht in einem 25qm großen Raum erteilen soll, wo nach Einschätzung des Gerichts hinreichend Abstand gewahrt werden kann. Die Auffassung des Diplom-Pädagogen, es bestehe kein Interesse an seinem Präsenzunterricht, konnte das Gericht nicht nachvollziehen, da er benachteiligten Schülern Förderunterricht erteilt, die typischerweise nicht aus Akademikerhaushalten stammen, wo sie problemlos Internetzugang und Unterstützung durch ihre Eltern haben.
Letztlich geht es um die Unzumutbarkeit der Arbeitsleitung, die zu einem Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 3 BGB führt:
„Der Schuldner kann die Leistung ferner verweigern, wenn er die Leistung persönlich zu erbringen hat und sie ihm unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers nicht zugemutet werden kann.“
Die Messlatte ist hier hoch und es werden bislang eher andere Fälle hierunter diskutiert, wie die Kommentierung von Ernst im MüKo deutlich macht:
„Als Einzelfälle (teilweise mit Lehrbuchcharakter) werden genannt: lebensgefährliche Erkrankung des Kindes der zum Auftritt verpflichteten Sängerin; strafbewehrte Einberufung des türkischen Arbeitnehmers zum Wehrdienst in der Türkei; während der Arbeitszeit notwendige Arztbesuche (fraglich), notwendige Versorgung schwerwiegend erkrankter Angehöriger. Auch die Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen fällt unter Abs. 3; eine Beschränkung der zu berücksichtigenden Schuldnerbelange derart, dass Gewissenskonflikte unbeachtet bleiben müssten, ist im Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen.“ (MüKoBGB/Ernst, 8. Aufl. 2019 Rn. 123, BGB § 275 Rn. 123)
Wer hier tiefer einsteigen will, der sollte lesen: Stefan Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004. Eine ganze Doktorschrift über einen Absatz eines Paragraphen. Dort insb. S. 290 ff. zur Unzumutbarkeit aus Gesundheitsgründen.
Daneben hätte der Lehrer wohl auch ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 273 Abs. 1 BGB wegen Verletzung der Pflichten aus § 618 Abs. 1 BGB geltend machen können (BAG AP BGB § 618 Nr.23; AP BGB § 618 Nr.24; AP BGB § 618 Nr. 27; AP BGB § 273 Nr. 4). Aber die Pflicht hätte dann eben auch verletzt sein müssen:
„Der Dienstberechtigte hat Räume, Vorrichtungen oder Gerätschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten und Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet.“
Das Argument, an meinem Unterricht besteht doch gar kein Interesse hätte wohl nur im Rahmen des § 106 S. 1 GewO relevant sein können:
„Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.“
Die Schule weist dem Arbeitnehmer die Arbeit zu und es wäre unbillig – und damit nicht bindend (s. BAG v. 28.11.2019 – 8 AZR 125/18 – AP GewO § 106 Nr. 42) – wenn an der eingeforderten Leistung gar kein Interesse bestehen würde, sie also letztlich nur aus Schikane erbracht werden müsste. Das war aber nicht der Fall.
 

22.06.2020/1 Kommentar/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2020-06-22 09:20:142020-06-22 09:20:14Leistungsverweigerung wegen Corona-Gefährdung
Redaktion

Spende iHv 1.000 € an den Corona-Nothilfefonds des Deutschen Roten Kreuzes

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Die aktuelle Corona-Pandemie ist eine seit langem nicht mehr dagewesene Krise, die die ganze Welt betrifft und uns vor ungeahnte persönliche wie finanzielle Herausforderungen stellt. Solidarität und Mitmenschlichkeit sind wichtiger denn je. Das hat auch das Deutsche Rote Kreuz erkannt: Unter dem Hashtag #füreinander macht es nicht nur auf die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe aufmerksam; es hat auch einen Corona-Nothilfefonds ins Leben gerufen, der gezielte Spenden ermöglicht und die Arbeit der vielen haupt- und ehrenamtlichen DRK-Helfer monetär absichert.
Ganz konkret: Durch das Deutsche Rote Kreuz „werden bundesweit mobile Arztpraxen und Fiebermessstationen vom DRK eingesetzt und betreut, um das Gesundheitssystem zu stärken und Kliniken zu entlasten. Aber auch die Fürsorge und Betreuung der Älteren und Bedürftigen während der Krise stehen im Mittelpunkt der Hilfsaktionen durch das Deutsche Rote Kreuz.“
Doch damit nicht genug: „Dazu zählt [auch] die psycho-soziale Betreuung in Zeiten von Quarantäne und räumlicher Distanzierung. Und auch die Versorgung mit den notwenigen Lebensmitteln steht im Mittelpunkt der Hilfsaktionen: so werden durch die Hilfe der Freiwilligen Lebensmittel-Bringdienste organisiert, um Ältere und Bedürftige zu schützen und mögliche Ansteckungsgefahren zu reduzieren.“
Mobile Arztpraxen, Fibermessstationen, Fürsorge und Betreuung der Älteren und Bedürftigen, psycho-soziale Betreuung in Zeiten der Selbstisolation und Lebensmittel-Bringdienste – all das sind Dinge, die unsere Gesellschaft in diesen Zeiten zusammenhalten.
Umso mehr freut sich das ebenfalls ehrenamtlich arbeitende Team von juraexamen.info, einen Beitrag hierzu leisten zu können. So haben wir 1.000 € an den Corona-Nothilfefonds des Deutschen Roten Kreuzes überwiesen. Eine Menge Geld, mit der viel bewirkt werden kann.
Ohne die Klicks unserer Leser wären die durch Werbeeinnahmen generierten Einnahmen niemals möglich – ebenso wenig ohne unseren starken Werbepartner. Euch allen wollen wir hiermit „Danke“ sagen.
Bleibt uns gewogen und vor allem gesund!
Euer Team des juraexamen.info eV 

25.05.2020/0 Kommentare/von Redaktion
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Redaktion https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Redaktion2020-05-25 09:01:042020-05-25 09:01:04Spende iHv 1.000 € an den Corona-Nothilfefonds des Deutschen Roten Kreuzes
Carlo Pöschke

Reaktionen des Gesetzgebers auf die COVID-19-Pandemie – Teil II: Allgemeines Zivilrecht

Examensvorbereitung, Lerntipps, Mietrecht, Mündliche Prüfung, Rechtsgebiete, Schuldrecht, Startseite, Tagesgeschehen, Zivilrecht

Die Ausbreitung des COVID-19-Virus und die gegen die Ausbreitung des Virus gerichteten staatlichen Maßnahmen haben Unternehmen und Verbraucher wirtschaftlich hart getroffen. Zur Eindämmung der nachteiligen Folgen der Pandemie hat der Bundestag das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (im Folgenden: COVG) beschlossen. Der erste Teil dieses Beitrags hat sich mit den vorübergehenden Änderungen im Insolvenz- und Gesellschaftsrecht auseinandergesetzt. Der zweite Teil behandelt nun die besonders klausur- und examensrelevanten Änderungen des allgemeinen Zivilrechts.
 
 C. Allgemeines Zivilrecht
Infolge der gegen die Ausbreitung des Virus gerichteten Maßnahmen haben zahlreiche Unternehmen ihr Geschäft beschränkt oder eingestellt, sodass deren Mitarbeiter erhebliche Einkommensverluste erleiden. Ist das verbleibende Einkommen, z.B. das Kurzarbeitergeld, zu niedrig und verfügen die Betroffene nicht über ausreichende finanzielle Rücklagen, können sie in eine Situation geraten, in der sie nicht oder nur eingeschränkt in der Lage sind, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen. In letzter Konsequenz kann dies bedeuten, dass sie ihre Wohnung verlieren und von Leistungen der Grundversorgung wie Strom, Gas oder Telekommunikation abgeschnitten werden. Dem will der durch Art. 5 COVG neu in das EGBGB eingefügte Art. 240 mit einem Leistungsverweigerungsrecht (I.), einer Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen (II.) sowie einer Stundung von Ansprüchen des Darlehensgebers (III.) entgegenwirken.
 
I. Leistungsverweigerungsrecht
Herzstück des neuen Corona-Vertragsrechts ist das in Art. 240 § 1 EGBGB geregelte Leistungsverweigerungsrecht für Verbraucher und Kleinstunternehmen. Für Verbraucher sind dessen Voraussetzungen in Art. 240 § 1 I, III 1, IV EGBGB geregelt, während die Voraussetzungen für Kleinstunternehmen in Art. 240 § 1 II, III 2, IV EGBGB zu finden sind. Die Prüfungsstruktur ist bei Verbrauchern und Kleinstunternehmen jedoch dieselbe, sodass die Voraussetzungen (1.) und Rechtsfolgen (2.) des Zahlungsmoratoriums im Folgenden gemeinsam betrachtet werden sollen.
 
1. Voraussetzungen
a) Verbraucher oder Kleinstunternehmen
In persönlicher Hinsicht umfasst Art. 240 § 1 I, III 1, IV EGBGB Verbraucher. Art. 240 § 1 I 1 EGBGB spricht zudem von einem Anspruch, der in einem Zusammenhang mit einem Verbrauchervertrag steht. § 310 III BGB wiederum legaldefiniert einen Verbrauchervertrag als einen Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher. Liest man die Voraussetzungen „Verbraucher“ und „Verbrauchervertrag“ zusammen, sind vom persönlichen Anwendungsbereich des Art. 240 § 1 I, III 1, IV EGBGB Verbraucher erfasst, deren Vertragspartner ein Unternehmer ist. Auch die Begriffe „Verbraucher“ und „Unternehmer“ sind im BGB definiert. So ist Verbraucher nach § 13 BGB jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu Zwecken abschließt, die weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen Tätigkeit zugerechnet werden können. § 14 I BGB wiederum versteht unter einem Unternehmer eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt.
Von Art. 240 § 1 II, III 2, IV EGBGB umfasst werden Kleinstunternehmen i.S.d. Empfehlung 2003/361 EG der Kommission vom 06.05.2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen (ABl. L 124 vom 20.05.2003,  36). Demnach sind Kleinstunternehmen Unternehmen mit bis zu neun Beschäftigten und einem Jahresumsatz von bis zu zwei Millionen Euro.
 
b) Wesentliches Dauerschuldverhältnis
In sachlicher Hinsicht beziehen sich Art. 240 § 1 I 2 EGBGB und Art. 240 § 1 II 2 EGBGB auf wesentliche Dauerschuldverhältnisse, die vor dem 08.03.2020 geschlossen wurden. Wesentliche Dauerschuldverhältnisse i.S.d. Art. 240 § 1 I 2 EGBGB sind gem. Satz 3 solche Dauerschuldverhältnisse, die zur Eindeckung mit Leistungen der angemessenen Daseinsvorsorge erforderlich sind. Hierzu zählen ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 19/18110, 34) etwa Pflichtversicherungen, Verträge über die Lieferung von Strom und Gas oder über Telekommunikationsdienste sowie Verträge über die Wasserver- und -entsorgung, soweit diese zivilrechtlich geregelt sind. In Art. 240 § 1 II 3 EGBGB ist eine ganz ähnliche Legaldefinition des wesentlichen Dauerschuldverhältnisses i.S.d. Art. 240 § 1 II 2 EGBGB zu finden. Dass nur Dauerschuldverhältnisse erfasst werden, die vor dem 08.03.2020 geschlossen wurden, liegt daran, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass nach diesem Zeitpunkt die pandemieartige Ausbreitung des Virus absehbar war und die Vertragschließenden mit tiefgreifenden Veränderungen des Wirtschaftslebens rechnen mussten und daher nicht mehr schutzwürdig sind (BT-Drucks. 19/18110, S. 34).
 
c) Umstände, die auf die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind
Weiterhin erfordert ein Leistungsverweigerungsrecht das Vorliegen von Umständen, die auf die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind (Art. 240 § 1 I 1 EGBGB bzw. Art. 240 § 1 II 1 EGBGB). Solche Umstände können für Kleinstunternehmen beispielsweise in Einnahmeverlusten durch behördlich angeordnete Geschäftsschließungen oder durch Kaufzurückhaltung der Kunden sowie in zusätzlichen Kosten liegen, die zur Einhaltung der erhöhten Hygienestandards anfallen, liegen. Bei Verbrauchern kann ein solcher Umstand im Beziehen von Kurzarbeitergeld statt des gewöhnlichen Arbeitsentgelts oder einer betriebsbedingten Kündigung liegen.
 
d) Gefährdung des Schuldners oder Unvermögen des Kleinstunternehmens
Des Weiteren muss die Erbringung der Leistung den angemessenen Lebensunterhalt des Schuldners gefährden oder den angemessenen Lebensunterhalt der unterhaltsberechtigten Angehörigen des Schuldners unmöglich machen (Art. 240 § 1 I 1 EGBGB). Das Pendant zur Gefährdung des angemessenen Lebensunterhalts ist für Kleinunternehmen die Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlage des Erwerbsbetriebs (Art. 240 § 1 II 1 Nr. 2 EGBGB). Um zu bestimmen, wann eine Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlage vorliegt, könne man sich, so wird vorgeschlagen, aufgrund der Insolvenznähe des Art. 240 § 1 EGBGB an den Eröffnungsgründen des Insolvenzrechts orientieren. Eine Gefährdung sei daher bei Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) sowie Überschuldung (§ 19 InsO) anzunehmen. Bei Verbrauchern genüge auch, wenn nach Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust das monatliche Haushaltseinkommen den Grundbedarf unterschreitet und nennenswerte liquide Reserven nicht vorhanden sind (Schmidt-Kessel/Möllnitz, NJW 2020, 1103, 1104). Für Kleinstunternehmen nennt Art. 240 § 1 II 1 Nr. 1 EGBGB zusätzlich den Fall, dass das Unternehmen die Leistung nicht erbringen kann. Dadurch werden Kleinstunternehmer davon entbunden, sich Liquidität zum Beispiel durch Aufnahme von Darlehen zu beschaffen oder den Ausfall von Personal oder die Nichtbeschaffbarkeit von Material und Infrastruktur zu kompensieren (Schmidt-Kessel/Möllnitz, NJW 2020, 1103, 1104).
 
e) Zusammenhang zwischen den auf die Pandemie zurückzuführenden Umständen und der Gefährdung des Schuldners oder dem Unvermögen des Kleinstunternehmens („infolge“)
Die Gefährdung bzw. das Unvermögen des Kleinstunternehmens zur Leistung muss „infolge“ von Umständen, die auf die Ausbreitung der Pandemie zurückzuführen sind, eingetreten sein (Art. 240 § 1 I 1 EGBGB bzw. Art. 240 § 1 II 1 EGBGB). Es muss also ein Zusammenhang zwischen den beiden Tatbestandsmerkmalen bestehen. Ähnlich wie beim „Beruhen“ i.S.d. § 1 S. 2 COVInsAG stellt sich die Frage, wie dieses Tatbestandsmerkmal auszulegen ist. Insb. in Bezug auf Kleinstunternehmen wird es Fälle geben, in denen die Pandemie nicht der einzige Grund für die Gefährdung oder das Unvermögen des Kleinstunternehmen sein, sondern weitere Umstände wie Managementfehler oder Veränderungen im Marktumfeld hinzutreten. Zur Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals gibt die Gesetzesbegründung keine Hinweise. Aufgrund des Telos des Gesetzespakets und der in Frage stehenden Norm, die Folgen der Pandemie abzumildern sowie Verbrauchern und Kleinstunternehmen Zeit zu verschaffen, ist dieses Tatbestandsmerkmal großzügig auszulegen. Es ist keine Monokausalität, sondern lediglich Kausalität i.S.d. der Äquivalenztheorie erforderlich (zum gleichen Ergebnis im Zusammenhang mit dem „Beruhen“ i.S.d. § 1 S. 2 COVInsAG kommt Schluck-Amend, NZI 2020, 289, 290).
 
f) Keine Verteidigung des Gläubigers
Die Gewährung eines temporären Leistungsverweigerungsrechts durch Gesetz stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Vertragsfreiheit dar, die grundrechtlich über Art. 2 I GG hergeleitet wird. Um die Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs zu wahren, eröffnet Art. 240 § 1 III 1, 2 EGBGB dem Gläubiger eine Verteidigungsmöglichkeit (BT-Drucks. 19/18110, 35). Das Leistungsverweigerungsrecht des Verbrauchers gilt nach Art. 240 § 1 III 1 EGBGB nicht, wenn die Ausübung des Leistungsverweigerungsrecht für den Gläubiger unzumutbar ist, da die Nichterbringung der Leistung die wirtschaftliche Grundlage des Erwerbsbetriebs gefährden würde. Das Leistungsverweigerungsrecht des Kleinstunternehmens gilt nach Art. 240 § 1 III 2 EGBGB ebenfalls bei Unzumutbarkeit für den Gläubiger nicht. Eine solche Unzumutbarkeit kann in einer Gefährdung des angemessenen Lebensunterhalts oder der wirtschaftlichen Grundlage des Erwerbsbetriebs liegen. Befinden sich Schuldner und Gläubiger also in vergleichbar schwierigen wirtschaftlichen Lagen, hat sich der Gesetzgeber zugunsten des Gläubigers entschieden. Bei Ausschluss des Leistungsverweigerungsrechts nach Art. 240 § 1 III 1, 2 EGBGB steht dem Schuldner nur noch ein Kündigungsrecht gem. Art. 240 § 1 III 3 EGBGB zu.
 
g) Kein Ausschluss des Leistungsverweigerungsrecht nach Art. 240 § 1 IV EGBGB
Schließlich darf das Leistungsverweigerungsrecht nicht nach Art. 240 § 1 IV EGBGB ausgeschlossen sein. Ausgeschlossen ist ein Leistungsverweigerungsrecht für Ansprüche aus Miet-, Pacht- und Darlehensverträgen (Nr. 1) sowie arbeitsrechtliche Ansprüche (Nr. 2).
 
2. Rechtsfolgen
Das Leistungsverweigerungsrecht ist als Einrede konzipiert. Der Schuldner muss sich im Prozess also auf diese Einrede berufen und dessen Voraussetzungen belegen. Hat sich der Schuldner erfolgreich auf die Einrede berufen, entfällt die Durchsetzbarkeit des Anspruchs bis zum 30.06.2020 (Art. 240 § 1 I 1 EGBGB bzw. Art. 240 § 1 II 1 EGBGB), wobei Art. 240 § 4 I Nr. 1 EGBGB die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Dauer des Leistungsverweigerungsrechts bis längstens zum 30.09.2020 zu verlängern. Allerdings steht dem Schuldner das Leistungsverweigerungsrecht nur solange zu, wie er wegen der Pandemie an seiner Leistungserbringung gehindert ist. Das Leistungsverweigerungsrecht ändert nichts an der primären Leistungspflicht, diese ist bloß später zu erfüllen. Es hindert die Vollstreckbarkeit der vereinbarten Leistung und damit zugleich die Entstehung von Sekundäransprüchen, die an die Nichterbringung von Leistungspflichten geknüpft sind, z.B. Verzug (§§ 286 ff. BGB), Schadensersatz statt der Leistung (§§ 280 I, III, 281 BGB) und Rücktritt (§ 323 I BGB) (BT-Drucks. 19/18110, 35).
 
II. Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen
Durch die Pandemie ist damit zu rechnen, dass einige Mieter und Pächter vorübergehend nicht in der Lage sind, die fälligen Mieten und Pachten fristgerecht zu zahlen. Gem. § 543 I, II Nr. 3 lit. a) BGB (beim Pachtvertrag i.V.m. § 581 II BGB) steht dem Vermieter bzw. Verpächter ein Recht zur außerordentlichen fristlosen Kündigung zu, wenn der Mieter bzw. Pächter für zwei aufeinanderfolgende Termine mit der Entrichtung der Miete bzw. Pacht oder eines nicht unerheblichen Teils davon in Verzug ist.
Um zu verhindern, dass Mieter ihren Wohnraum bzw. Gewerbemieter oder -pächter die Grundlage ihrer Erwerbstätigkeit verlieren, schließt Art. 240 § 2 I EGBGB (bei Pachtverhältnissen i.V.m. Art. 240 § 2 III EGBGB) nun ein Kündigungsrecht für Miet- und Pachtverhältnisse über Grundstücke oder über Räume aus dem alleinigen Grund, dass der Mieter bzw. Pächter die Miete bzw. Pacht im Zeitraum vom 01.04.2020 bis zum 30.06.2020 trotz Fälligkeit nicht leistet, aus, sofern die Nichtleistung auf den Auswirkungen der Pandemie beruht. Somit stellen Mietrückstände weder einen wichtigen Grund nach § 543 I, II Nr. 3 lit. a) BGB (ggf. i.V.m. § 581 II BGB), noch ein berechtigtes Interesse nach § 573 I, II Nr. 1 BGB (ggf. i.V.m. § 581 II BGB) dar. Auch bei der Kündigungsbeschränkung wird die Bundesregierung ermächtigt, die Anwendung dieser Bestimmung zeitlich zu verlängern (Art. 240 § 4 I Nr. 2 EGBGB). Zentrales Tatbestandsmerkmal der Kündigungsbeschränkung ist das Beruhen der Nichtleistung auf den Auswirkungen der Pandemie. Dieser Zusammenhang ist – wie beim Moratorium nach Art. 240 § 1 EGBGB (Genaueres hierzu unter Gliederungspunkt C.I.1.e)) – großzügig auszulegen, was auch dadurch deutlich wird, dass die Gesetzesbegründung als Beispiel, bei dem die Nichtleistung nicht auf den Auswirkungen der Pandemie beruht, die Zahlungsunwilligkeit des Mieters anführt (BT-Drucks. 19/18110, S. 36).
Die Kündigungsbeschränkung von Miet- und Pachtverhältnissen nach Art. 240 § 2 EGBGB unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten vom allgemeinen Moratorium nach Art. 240 § 1 EGBGB: Einerseits eröffnet sie nicht wie Art. 249 § 1 III EGBGB dem Vermieter bzw. Verpächter eine Verteidigungsmöglichkeit, die ihn letztendlich doch zur Kündigung aufgrund des Zahlungsverzugs berechtigt, wenn der Ausschluss der Kündigung seinerseits unzumutbar ist. Andererseits bleiben die Mieter bzw. Pächter nach den allgemeinen Grundsätzen zur Leistung verpflichtet und können auch in Verzug geraten, sodass der Vermieter bzw. Verpächter beispielsweise gem. § 288 I 1 BGB Verzugszinsen fordern kann. Dieser Unterschied ggü. Art. 240 § 1 III EGBGB kann als Ausgleich zur fehlenden Verteidigungsmöglichkeit des Vermieters bzw. Verpächters aufgefasst werden und begrenzt die Intensität des Eingriffs in die Rechte des Vermieters bzw. Verpächters.
 
III. Stundung von Ansprüchen des Darlehensgebers
Auf Corona beruhende Einnahmeverluste können nicht nur dazu führen, dass Verbraucher ihre Miete oder Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen nicht rechtzeitig begleichen können, sondern auch dazu, dass sie vorübergehend Darlehensrückzahlungen nicht leisten können. Der Zahlungsverzug des Darlehensnehmers kann im schlimmsten Fall zur Kündigung des Darlehensvertrags und zur Verwertung der eingeräumten Sicherheiten führen. Die neuen Regelungen zum Darlehensrecht in Art. 240 § 3 EGBGB sollen durch eine vorübergehende ipso iure eintretende Stundung der Ansprüche des Darlehensgebers den Verbrauchern Luft zum Atmen geben.
 
1. Voraussetzungen
Einige der Voraussetzungen der Stundung nach Art. 240 § 3 EGBGB gleichen den Voraussetzungen des Leistungsverweigerungsrechts des Art. 240 § 1 EGBGB. Die Voraussetzungen der Stundung sollen daher nur kurz angesprochen werden.
 
a) Verbraucherdarlehensvertrag
Erste Voraussetzung für die Stundung ist das Vorliegen eines Verbraucherdarlehensvertrags, der vor dem 15.03.2020 geschlossen wurde. Nach der Legaldefinition des § 491 I 2 BGB fallen unter Verbraucherdarlehensverträge sowohl Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge als auch Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge. Entsprechende Legaldefinitionen finden sich wiederum in § 491 II 1 BGB bzw. § 491 III 1 BGB, wobei die in § 491 II 2 BGB bzw. § 491 III 2, 4 BGB normierten Ausnahmen unbedingt zu beachten sind.
 
b) Unzumutbare pandemiebedingte Ausnahmefälle
Weiter fordert Art. 24o § 3 I EGBGB, dass der Verbraucher aufgrund der durch Ausbreitung der Pandemie hervorgerufenen außergewöhnlichen Verhältnisse Einnahmeausfälle hat, die dazu führen, dass ihm die Erbringung der Leistung nicht mehr zumutbar ist. Erforderlich ist somit ein doppelter Kausalzusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und den außergewöhnlichen Verhältnissen sowie zwischen außergewöhnlichen Verhältnissen und der Unzumutbarkeit der Leistungserbringung. Auch hier genügt Kausalität i.S.d. Äquivalenztheorie. Art. 240 § 3 I 2 EGBGB enthält Regelbeispiele, wann die Erbringung der Leistung als nicht zumutbar anzusehen ist. Demnach ist die Erbringung der geschuldeten Leistung insb. bei Gefährdung eines angemessenen Lebensunterhalts unzumutbar, was insoweit mit der Formulierung in Art. 240 § 1 I 1 EGBGB übereinstimmt (s. Gliederungspunkt C.I.1.d)). Lühmann (NJW 2020, 1321, 1322) schlägt vor, der Begriff des angemessenen Lebensunterhalts könne in Anlehnung an den Begriff des notwendigen Lebensunterhalts in § 850f I lit. a) ZPO konkretisiert werden. Dieser Vorschlag kann indes nicht richtig sein: Zunächst spricht der Wortlaut des Art. 240 § 3 I 2 EGBGB ausdrücklich vom „angemessenen“ und nicht vom „notwendigen“ Lebensunterhalt. § 850 I lit. a) ZPO verweist zu unterschiedlichen Vorschriften des SGB II und des SGB XII. Notwendiger Lebensunterhalt i.S.d. § 850 I lit. a) ZPO i.V.m. § 27a I 1 SGB XII ist damit der „für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendige Lebensunterhalt“, der gem. § 28 I SGB XII im Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) bestimmt ist. Es würden damit die für Sozialhilfe- und Grundsicherungsempfänger geltenden Regelsätze Anwendung finden. Ausgaben, die über dem für das Existenzminimum Notwendigem liegen, sind allerdings nicht per se auch unangemessen. Im Gegenteil: Wer vor Corona ein auskömmliches Einkommen gehabt und einen entsprechenden Lebensstandard gepflegt hat, kann die Kosten – v.a. die Unterkunftskosten – nicht innerhalb von kürzester Zeit auf ein dem notwendigen Lebensunterhalt im sozialrechtlichen Sinn entsprechendes Niveau senken. Auch der gesetzgeberische Wille spricht gegen den Vorschlag Lühmanns: Die Schwelle der relevanten Einnahmeminderung sei nicht pauschal festgelegt, sondern vom individuellen Einzelfall abhängig (BT-Drucks. 19/18110, 39). Das Abstellen auf § 850 I lit. a) ZPO läuft jedoch im Ergebnis auf die Anwendung pauschaler Werte hinaus. Hätte dies der Gesetzgeber gewollt, hätte er es im Gesetzestext oder zumindest in der Gesetzesbegründung erwähnt.
 
c) Keine Verteidigung des Darlehensgebers
Nach Art. 240 § 3 VI wird die Forderung nicht gestundet, wenn dem Darlehensgeber die Stundung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unzumutbar ist. Diese Bestimmung soll eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Rechte des Darlehensgebers verhindern und Raum für eine einzelfallbezogene Interessenabwägung lassen. Grds. geht der Gesetzgeber allerdings von einer überwiegenden Schutzbedürftigkeit der Verbraucher aus, sodass eine Stundung nur in extremen, meist im Verhalten des Darlehensnehmers begründeten, Fällen ausgeschlossen ist. Beispielhaft führt die Gesetzesbegründung „gravierende oder sich über einen längeren Zeitraum hinziehende schuldhafte Pflichtverletzungen des Verbrauchers wie zum Beispiel betrügerische Angaben oder vertragswidrige Veräußerungen von Sicherheiten“ (BT-Drucks. 19/18110, 40) an. Drohende Liquiditätsprobleme eines Kreditinstituts, die durch die Stundung der Rückzahlungen einer Vielzahl von Kunden entstehen, dürften damit nicht zu einem Ausschluss der Stundung nach Art. 240 § 3 VI EGBGB führen. Hier könnte sich der einzelne Kunde zudem stets darauf berufen, dass die Aussetzung der Rückzahlungen eines einzelnen (Privat-)Kunden ein Kreditinstitut nicht in Liquiditätsschwierigkeiten bringt und etwaige Liquiditätsprobleme vielmehr vom Gesetzgeber durch Verabschiedung des COVG in Kauf genommen wurden.
 
2. Rechtsfolgen
Liegen die Voraussetzungen vor, werden Ansprüche des Darlehensgebers auf Rückzahlung, Zins- oder Tilgungsleistungen, die zwischen dem 01.04.2020 und dem 30.06.2020 fällig werden, mit Eintritt der Fälligkeit für die Dauer von drei Monaten ipso iure gestundet. Unter einer Stundung versteht man dabei seit jeher das Hinausschieben der Fälligkeit bei fortbestehender Erfüllbarkeit (BGH, NJW 1998, 2060, 2061; MüKo-BGB/Krüger, 8. Aufl. 2019, § 271 Rn. 22). Insofern ist der Hinweis in Art. 240 § 4 I 3 EGBGB, dass der Verbraucher berechtigt ist, seine vertraglichen Zahlungen zu den ursprünglich vereinbarten Leistungsterminen weiter zu erbringen, rein deklaratorischer Natur. Art. 240 § 3 IV 1 EGBGB fordert von dem Darlehensgeber, dem Verbraucher ein Angebot über die Möglichkeit einer einverständlichen Regelung und über mögliche Unterstützungsmaßnahmen anzubieten. Kommt der Darlehensgeber dieser Pflicht nicht nach oder kommt eine einverständliche Regelung für den Zeitraum nach dem 30.06.2020 nicht zustande, verlängert sich die Vertragslaufzeit um drei Monate und die Fälligkeit der vertraglichen Leistungen wird um diese Frist hinausgeschoben (Art. 240 § 3 V 1, 2 EGBGB). Durch diese Regelung soll eine Situation vermieden werden, in der die Darlehensnehmer zwar einen Aufschub erhalten, nach dessen Ablauf sie aber dennoch ganz erheblich überfordert sind (BT-Drucks. 19/18110, 40). Wie alle Regeln des COVG sind auch die Regelungen zum Darlehensrecht mit einer Verordnungsermächtigung zur Verlängerung des zeitlichen Anwendungsbereichs verbunden (Art. 240 § 4 I Nr. 3 EGBGB).
 
IV. Ein letztes Zwischenfazit
Im Vordergrund der Corona-bedingten Änderungen des allgemeinen Zivilrechts steht der Schutz des Verbrauchers. Es soll verhindert werden, dass der Verbraucher von Leistungen der Grundversorgung ausgeschlossen wird, seine Wohnung verliert oder Darlehensverträge gekündigt werden mit der Folge, dass die eingeräumten Sicherheiten verwertet werden. Letztendlich belastet Art. 240 EGBGB diejenigen stärker, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, sie kämen mit den Folgen der COVID-19-Pandemie besser zurecht als die Verbraucher; das sind Unternehmer, Vermieter und Banken. Letztendlich ist Art. 240 EGBGB Ausdruck von sozialstaatlicher Solidarität. Ohne Risiken und Nebenwirkungen ist diese Strategie freilich nicht:  Wenn Banken über einen längeren Zeitraum ohne einen nicht unerheblichen Teil der Darlehensrückzahlungen auskommen müssen und dazu im schlimmsten Fall noch eine kollektive Verunsicherung der Anleger hinzukommt, können auch die vermeintlich Stärksten in Liquiditätsschwierigkeiten kommen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Liquiditätsprobleme einzelner Kreditinstitute aufgrund ihrer vielfältigen Verknüpfungen schnell eine Kettenreaktion auslösen können. Sollte dies bevorstehen, müssen rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, wird die Wirtschaft in der Zeit nach Corona doch besonders auf eine rege Kreditvergabe angewiesen sein.
 
D. Fazit
Während die Änderungen durch das COVG im Insolvenz- und Gesellschaftsrecht dem Examenskandidaten sicherlich nicht en détail bekannt sein müssen, ist eine vertiefte Befassung mit den vorübergehenden Änderungen des allgemeinen Zivilrechts aufgrund der engen Verknüpfung mit dem Pflichtfachstoff ratsam. Zusammenfassend lässt sich festhalten:

  • Das COVInsAG soll Unternehmen, die Corona-bedingt in Schwierigkeiten geraten sind, vor der Insolvenz bewahren und Geschäftspartnern Anreize schaffen, die Geschäftsbeziehungen mit betroffenen Unternehmen aufrechtzuerhalten und ihnen Liquidität zuzuführen.
  • Die in Art. 2 COVG Änderungen des Gesellschaftsrechts sichern die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften und Vereinen, indem sie die Regeln für die Durchführung von Haupt-, Gesellschafter- und Mitgliederversammlungen lockern.
  • Im Vordergrund des neuen Art. 240 EGBGB steht der Schutz der Verbraucher. Es soll verhindert werden, dass Verbraucher von Leistungen der Grundversorgung ausgeschlossen werden, ihre Wohnung verlieren oder Darlehensverträge gekündigt werden mit der Folge, dass die eingeräumten Sicherheiten verwertet werden. Im Einzelnen wird dies durch ein Leistungsverweigerungsrecht (Art. 240 § 1 EGBGB), die Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen (Art. 240 § 2 EGBGB) und der Stundung von Darlehensrückzahlungen (Art. 240 § 3 EGBGB) erreicht.

Insgesamt lässt sich sagen, dass der volle Titel des Gesetzes „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie […]“ hält, was er verspricht: Das Gesetz wird einen Beitrag zur Reduzierung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie leisten. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass insb. die Änderungen im allgemeinen Zivilrecht und im Insolvenzrecht nicht ohne Risiken sind und erheblich in die Rechte anderer eingreifen. Daher sollten die Änderungen zwar solange wie nötig, aber keinesfalls länger als nötig gelten.

20.05.2020/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2020-05-20 09:30:252020-05-20 09:30:25Reaktionen des Gesetzgebers auf die COVID-19-Pandemie – Teil II: Allgemeines Zivilrecht
Carlo Pöschke

Reaktionen des Gesetzgebers auf die COVID-19-Pandemie – Teil I: Insolvenz- und Gesellschaftsrecht

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Die Ausbreitung des COVID-19-Virus hat weltweit das öffentliche und wirtschaftliche Leben weitestgehend lahmgelegt. Um der weiteren Ausbreitung des Virus entgegenzuwirken, mussten Kontaktbeschränkungen, Versammlungsverbote und Geschäftsschließungen verfügt werden. Bei vielen Unternehmen ist der Umsatz drastisch eingebrochen, insb. kleinere und mittlere Unternehmen sind in erstzunehmende Liquiditätsschwierigkeiten geraten. Und auch vor Arbeitnehmern hat das Virus keinen Halt gemacht: Bei manchen wurden befristete Arbeitsverträge nicht verlängert, andere mussten betriebsbedingt gekündigt werden, zehn Millionen Arbeitnehmer befinden sich in Kurzarbeit und müssen nun mit 60 bzw. 67 % ihres Nettoentgelts (§ 105 SGB III) auskommen, während Lebenshaltungskosten und andere Fixkosten in unveränderter Höhe anfallen. Unternehmen stehen nicht nur aufgrund von Absatz- und Umsatzrückgängen vor Schwierigkeiten, sondern auch, weil sie aufgrund der Versammlungsverbote und der allgemeinen Gefahrenlage Beschlüsse auf Versammlungen der entsprechenden Organe nicht mehr auf herkömmlichem Weg herbeiführen können. Einige der nachteiligen Folgen der Pandemie sollen durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (im Folgenden: COVG; BGBl. 2020 I, 569 ff.), das in Windeseile das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen hat, abgeschwächt werden. Bei dem Gesetz handelt es sich um ein Artikelgesetz, d.h. um ein Gesetz, das gleichzeitig unterschiedliche Gesetze abändert und ergänzt.
Es ist zu erwarten, dass die COVID-19-Pandemie Juristen noch für längere Zeit beschäftigen wird und so ist es auch wenig verwunderlich, wenn man in einer mündlichen Examensprüfung (sobald diese wieder stattfinden) darauf zu sprechen kommt. Insb. das Zahlungsmoratorium für Verbraucher und die Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen im neuen Art. 240 EGBGB lassen sich zudem auch leicht in Klausurfälle einbauen. Es lohnt also, einen Blick auf die wesentlichen Bestimmungen des neuen Gesetzes zu werfen.
Der erste Teil dieses zweiteiligen Beitrags behandelt die vorübergehenden Änderungen des Insolvenz- und Gesellschaftsrechts; im zweiten Teil des Beitrags werden die Änderungen auf dem Gebiet des allgemeinen Zivilrechts beleuchtet.
 
A. Insolvenzrecht
Art. 1 COVG enthält das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG). Bevor die Änderungen im Insolvenzrecht durch das COVInsAG dargestellt werden, soll zunächst ein kurzer Blick auf das „normale“ Insolvenzrecht geworfen werden.
 
I. Grundlagen des Insolvenzrechts
Im deutschen Recht existieren zwei Vollstreckungssysteme: zum einen die durch den Prioritätsgrundsatz geprägte und im achten Buch der ZPO geregelte Einzelvollstreckung, bei der dem schnellsten Gläubiger der Vorzug gebührt (s. nur § 804 III ZPO); zum anderen die in der InsO geregelte Gesamtvollstreckung. Ziel des Insolvenzverfahrens ist – wie § 1 S. 1 InsO zum Ausdruck bringt – die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt wird. Durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird der individuelle Zugriff der Gläubiger auf das Schuldnervermögen beendet (§ 89 InsO) und der Gläubigerwettlauf um das unzureichende Schuldnervermögen beendet.
Wichtigste Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die schriftliche Stellung eines Eröffnungsantrags (§ 13 I InsO) und das Vorliegen eines Eröffnungsgrunds (§ 16 InsO). Zu den Eröffnungsgründen zählt die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) sowie die Überschuldung (§ 19 InsO). Antragsberechtigt sind gem. § 13 I 2 InsO die Gläubiger und der Schuldner sowie nach § 15 I 1 InsO bei juristischen Personen die Mitglieder des Vertretungsorgans. §§ 13, 15 InsO sprechen ausdrücklich von einem „Antragsrecht“; eine Antragspflicht des Schuldners besteht grds. nicht. Damit insolvenzreife Gesellschaften, für deren Schulden keine natürliche Person unbegrenzt haftet, nicht ohne insolvenzrechtlichen Schutz des Rechtsverkehrs fortgeführt werden (BT-Drucks. 16/6140, 55), sieht § 15a I 1 InsO bei juristischen Personen eine strafbewehrte (§ 15a IV InsO) Insolvenzantragspflicht der Mitglieder des Vertretungsorgans für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vor.
 
II. Aussetzung der Insolvenzantragspflicht
Ohne die Gesetzesänderung wäre eine Vielzahl von Unternehmensinsolvenzen mit weitreichenden Folgen für Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu befürchten gewesen, weil Staatshilfen nicht rechtzeitig bereitgestanden hätten und Liquidität nicht rechtzeitig hätte beschaffen werden können. Genau daran setzt § 1 COVInsAG an: § 1 S. 1 COVInsAG setzt grds. die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags nach § 15a InsO bis zum 30.09.2020 aus, wobei § 4 COVInsAG das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis höchstens zum 31.03.2021 zu verlängern. Eine Ausnahme von der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht greift nach § 1 S. 2 COVInsAG nur dann, wenn die Insolvenzreife nicht auf den Folgen der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie beruht oder wenn keine Aussichten auf Beseitigung der bestehenden Zahlungsunfähigkeit bestehen (zur Auslegung dieser beiden Voraussetzungen s. Römermann, NJW 2020, 1108, 11o9; Schluck-Amend, NZI 2020, 289, 290 f.; Tresselt/Kienast, COVuR 2020, 21, 22 f.). Neben dieser Regel-Ausnahme-Technik des § 1 S. 2 COVInsAG werden die Antragspflichtigen zudem durch die Vermutung des Satzes 3 entlastet, die nach dem Willen des Gesetzgebers nur in Ausnahmefällen widerlegt werden kann (BT-Drucks. 19/18110, 22): War der Schuldner am 31.12.2019 nicht zahlungsunfähig, wird vermutet, dass die Insolvenzreife auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht und Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen.
 
III. Folgen der Aussetzung
§ 2 COVInsAG regelt sodann die Folgen der Aussetzung und dient der Verringerung von Haftungsgefahren, die typischerweise mit einem Insolvenzverfahren verbunden sind, sowie dem Schutz von Gebern neuer Kredite. So schützt § 2 I Nr. 1 COVInsAG Geschäftsleiter vor einer Haftung gem. § 64 S. 1 GmbHG (für die GmbH), § 93 III Nr. 6 AktG (für die AG), § 130a II 1 HGB (für die oHG) bzw. § 130a II 1 i.V.m. § 177a S. 1 HGB (für die KG) für Zahlungen, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder nach Feststellung der Überschuldung geleistet wurde, indem fingiert wird, dass diese Zahlungen als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters i.S.d. § 64 S. 2 GmbHG, § 92 II 2 AktG, § 130a I 2 HGB bzw. § 130a I 2 i.V.m. § 177a S. 1 HGB gelten. § 2 I Nr. 2 COVInsAG stellt sicher, dass neue Kreditgeber nicht befürchten müssen, zur Rückgewähr zwischenzeitlicher Leistungen verpflichtet zu werden oder den Zugriff auf die bei der Vergabe der neuen Kredite gewährten Sicherheiten zu verlieren. Nr. 3 schließt aus, dass Kreditgewährungen und Bereicherungen im Aussetzungszeitraum als sittenwidriger Beitrag zur Insolvenzverschleppung angesehen werden und verhindert den Eintritt der Rechtsfolgen des § 138 BGB und des § 826 BGB. Sowohl Nr. 2 als auch Nr. 3 dienen damit der Rechtssicherheit für neue Kreditgeber und sollen verhindern, dass die Kreditvergabe zum Erliegen kommt. Nr. 4 schränkt schließlich die Regelungen zur Insolvenzanfechtung ein und ist als Komplementärregelung zu den Nrn. 3 und 4 für Vertragspartner von Dauerschuldverhältnissen wie Vermietern, Leasinggebern oder Lieferanten anzusehen und soll gewährleisten, dass diese nicht befürchten müssen, erhaltene Zahlungen im Falle des Scheiterns der Sanierungsbemühungen aufgrund einer Insolvenzanfechtung zurückzahlen zu müssen und so die Vertragsbeziehung auf dem schnellsten Wege beenden. Eine Insolvenzanfechtung gem. §§ 129 ff. InsO ist dabei nicht zu verwechseln mit einer Anfechtung i.S.d. §§ 119 ff. BGB. Während letztere nach § 142 I BGB zur ex tunc-Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts führt, führt erstere bloß zu einem schuldrechtlichen Anspruch des Insolvenzverwalters auf Rückgewähr von bestimmten Leistungen nach § 143 I 1 InsO.
 
IV. Ein erstes Zwischenfazit
Das COVInsAG soll Unternehmen, die Corona-bedingt in Schwierigkeiten geraten sind, vor der Insolvenz bewahren und Anreize schaffen, die Geschäftsbeziehungen mit betroffenen Unternehmen aufrechtzuerhalten und ihnen Liquidität zuzuführen. Die Eingriffe in das bisherige Insolvenzrecht sind denkbar groß, aber angesichts dieser nie dagewesenen Ausnahmesituation nicht übertrieben. So erhalten ursprünglich gesunde Unternehmen, die ohne ihr Zutun in die Corona-Krise geraten sind, eine echte Perspektive – und das ist auch gesamtwirtschaftlich von Vorteil. Gleichzeitig besteht jedoch auch das Risiko, dass bereits angeschlagene Unternehmen ohne Aussicht auf Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit unter Berufung auf die neuen Regelungen die Stellung des Insolvenzantrags hinauszögern und so ihren Geschäftspartnern schaden. Daher sollten die Sonderregelungen des COVInsAG nur solange gelten, wie dies unbedingt erforderlich ist.
 
B. Gesellschaftsrecht
Corona und die erlassenen Schutzmaßnahmen haben auch dazu geführt, dass Gesellschaften keine klassischen Gremiensitzungen im Sinne von Präsenzveranstaltungen durchführen können. Ist eine präsenzlose an solchen Gremiensitzungen nicht möglich, können wichtige Beschlüsse nicht gefasst werden, wodurch es wiederum langfristig zu einer Handlungsunfähigkeit von Unternehmen kommt: Der Jahresabschluss kann nicht festgestellt und damit auch die Gewinnausschüttung nicht festgelegt werden, Umstrukturierungsmaßnahmen können nicht beschlossen werden und Personen können nicht zur Übernahme von Amtsfunktion (wieder-)bestellt werden. Das in Art. 2 COVG enthaltene Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (im Folgenden: „COVGesRMG“) bringt u.a. Änderungen des Rechts der AG, KGaA und SE (I.), des GmbH-Rechts (II.) sowie des Vereinsrechts (III.) mit sich.
 
I. Recht der AG, KGaA und SE
Bereits seit Inkrafttreten des ARUG I in 2009 steht das Aktienrecht einer Online-Teilnahme von Aktionären an der Hauptversammlung nicht mehr entgegen: Aktionäre können an der Hauptversammlung auch ohne physische Anwesenheit am Versammlungsort teilnehmen (§ 118 I 2 AktG) und eine Stimmabgabe im Wege der Briefwahl ist ebenfalls möglich (§ 118 II AktG). Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats können zugeschaltet werden (§ 118 III); Bild- und Tonübertragungen können zugelassen werden (§ 118 IV AktG). Voraussetzung für all dies ist jedoch, dass die Satzung diese Beteiligungsmöglichkeiten vorsieht oder den Vorstand ermächtigt, diese vorzusehen. Und genau hier liegt in Zeiten von Corona das Problem: § 118 AktG billigt den Gesellschaften zwar ein erhebliches Maß an Satzungsautonomie zu, die wenigsten Unternehmen verfügen jedoch über eine entsprechende Satzungsermächtigung (Vetter/Tielmann, NJW 2020, 1175, 1176). Kann die Hauptversammlung nicht auf klassischem Wege zusammenkommen, kann auch die Satzung nicht um die nötige Satzungsermächtigung ergänzt werden, da die Satzungsänderung selbst eines Beschlusses der Hauptversammlung bedarf (§ 179 I 1 AktG).
Durch § 1 I COVGesRMG kann der Vorstand vorübergehend ohne Satzungsermächtigung, jedoch mit Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 1 VI COVGesRMG), die Entscheidung über die Ermöglichung einer Online-Teilnahme an Hauptversammlungen treffen.
Die Ermöglichung der Online-Teilnahme an einer Hauptversammlung ist strikt zu unterscheiden von einer virtuellen Teilnahme: Bei der Online-Teilnahme wird es Aktionären bzw. Mitgliedern des Vorstands oder des Aufsichtsrats ermöglicht, sich über Fernkommunikationsmittel zur Präsenzhauptversammlung zuzuschalten, während eine virtuelle Hauptversammlung auf eine Präsenzveranstaltung gänzlich verzichtet. Wie bereits dargestellt ist eine Online-Teilnahme an einer Hauptversammlung seit 2009 mit entsprechender Satzungsermächtigung möglich, eine virtuelle Hauptversammlung jedoch nicht (Spindler/Stilz/Hoffmann, 4. Aufl. 2019, § 118 Rn. 41; MüKo-AktG/Kubis, 4. Aufl. 2018, § 118 Rn. 80; Herb/Merkelbach, DStR 2020, 811, 811; Vetter/Tielmann, NJW 2020, 1175, 1176). Dies folgt sowohl aus dem Wortlaut des § 118 I 2 AktG („ohne Anwesenheit an deren Ort“) als auch aus dem Zusammenhang mit § 121 III 1, V 1 AktG.
Die nun vorübergehend mögliche Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung ist damit ein echtes Novum. Gem. § 1 II COVGesRMG kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 1 VI COVGesRMG) vorübergehend entscheiden, dass eine Versammlung als virtuelle Hauptversammlung abgehalten wird, wenn die folgenden vier Voraussetzungen erfüllt sind: (1) Es muss eine Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung erfolgen. (2) Die Stimmrechtsausübung über elektronische Kommunikation muss möglich sein. (3) Den Aktionären muss eine Fragemöglichkeit eingeräumt werden. (4) Den Aktionären, die ihr Stimmrecht ausgeübt haben, muss Möglichkeit zum Widerspruch eingeräumt werden.
Flankiert werden die genannten Maßnahmen, die gem. § 1 VIII COVGesRMG entsprechend auch für die KGaA und die SE gelten, durch eine weitgehende Begrenzung des Anfechtungsrechts in § 1 VII COVGesRMG, insb. aufgrund einer Verletzung von § 118 AktG. Die Begrenzung des Anfechtungsrechts soll verhindern, dass die Erleichterungen von den Gesellschaften aus Sorge vor Anfechtungsklagen nicht in Anspruch genommen werden (BT-Drucks. 19/18110, 27).
 
II. GmbH-Recht
Das Problem, dass wegen Corona keine Versammlungen abgehalten werden können, dürfte Gesellschaften mit beschränkter Haftung tendenziell seltener vor rechtliche Probleme gestellt haben. Zwar stellt auch § 48 I GmbHG die Grundregel auf, dass Beschlüsse der Gesellschafter in Versammlungen zu fassen sind. Zumindest die h.M. versteht unter einer „Versammlung“ i.S.d. § 48 I GmbHG eine Präsenzversammlung, was bedeutet, dass ohne Satzungsgrundlage weder eine virtuelle Gesellschafterversammlung noch eine Online-Teilnahme einzelner Gesellschafter zulässig ist (BGH, NZG 2006, 428, 428; MHLS/Römermann, 3. Aufl. 2017, § 48 Rn. 273 ff.; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, 22. Aufl. 2019, § 48 Rn. 41; Vetter/Tielmann, NJW 2020, 1175, 1178). Die Regelung des § 48 GmbHG ist jedoch – anders als die Regelungen des AktG – dispositiv, sodass der Gesellschaftsvertrag auch die Möglichkeit einer Online-Teilnahme oder einer virtuellen Gesellschafterversammlung vorsehen kann. Außerdem können solche Erleichterungen ggü. § 48 I GmbHG nachträglich durch satzungsändernde Mehrheit in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen werden. Sollte der Gesellschaftsvertrag diesbezüglich schweigen, können gem. § 48 II GmbHG nichtsdestotrotz wirksame Beschlüsse gefasst werden, wenn sich sämtliche Gesellschafter mit der zu treffenden Bestimmung oder mit der schriftlichen Abgabe der Stimmen einverstanden erklären. Vor allem bei personalistisch geprägten Gesellschaften mit beschränkter Haftung hätte also auch ohne die vorübergehende Gesetzesänderung regelmäßig keine Handlungsunfähigkeit gedroht. Für diejenigen Gesellschaften, bei denen Uneinigkeit unter den Gesellschaftern besteht oder Gesellschafter schlicht keine Erklärung abgeben, schafft § 2 COVGesRMG Abhilfe, indem Beschlüsse der Gesellschafter vorübergehend in Textform oder durch schriftliche Abgabe der Stimmen auch ohne Einverständnis sämtlicher Gesellschafter gefasst werden können.
 
III. Vereinsrecht
Ähnliche Probleme bestehen auch im Vereinsrecht. § 5 II COVGesRMG schafft als Sonderregelung zu § 32 I 1 BGB die gesetzliche Voraussetzung, um auch ohne Satzungsermächtigung eine virtuelle Mitgliederversammlung (§ 5 II Nr. 1 COVGesRMG) durchführen zu können und bei der Versammlung nicht anwesenden Mitgliedern die schriftliche Stimmabgabe zu ermöglichen (§ 5 II Nr. 2 COVGesRMG). Mit § 5 III COVGesRMG wurde zudem eine Sonderregelung ggü. § 32 II BGB geschaffen und durch Verzicht auf die Zustimmung aller Vereinsmitglieder die Beschlussfassung im Umlaufverfahren erleichtert. Schließlich soll 5 I COVGesRMG die Handlungsfähigkeit und ordnungsgemäße Vertretung des Vereins durch den Vorstand (§ 26 I 2 BGB) solcher Vereine sichern, die nicht in der Lage sind, ihre Vorstandsmitglieder rechtzeitig zu bestellen und bei denen die Satzung nicht vorsieht, dass Vorstandsmitglieder, deren Amtszeit zeitlich befristet ist, im Amt bleiben, bis ihr Nachfolger gewählt ist. Dies ist nun durch § 5 I COVGesRMG auch für Vereine ohne eine entsprechende Passage in der Satzung gesetzlich geregelt.
 
IV. Ein zweites Zwischenfazit
Die vorübergehenden Änderungen des Gesellschaftsrechts sichern die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften und Vereinen, indem sie die Regeln für die Durchführung von Haupt-, Gesellschafter- und Mitgliederversammlungen lockern. Von der Praxis wurden die vorübergehenden Änderungen, die vorerst bis Ende 2020 gelten (§ 7 COVGesRMG), jedoch gem. § 8 COVGesRMG durch Rechtsverordnung des BMJV bis Ende 2021 verlängert werden können, durchweg positiv aufgenommen (Herb/Merkelbach, DStR 2020, 811, 817; Vetter/Tielmann, NJW 2020, 1175, 1180).
Probleme rund um die Beschlussfähigkeit durch COVID-19 treten jedoch nicht ausschließlich bei Haupt-, Gesellschafter- und Mitgliederversammlungen auf, sondern auch bei Betriebsratssitzungen. Dass der Betriebsrat keine wirksamen Beschlüsse im Umlaufverfahren oder telefonisch fassen kann, bestreitet keiner. Kontrovers diskutiert wird jedoch die Frage, ob eine Beschlussfassung per Videokonferenz zulässig ist. Die Rechtsprechung hat sich zu dieser Thematik bislang noch nicht geäußert; die Literatur geht überwiegend nach wie von der Unzulässigkeit einer virtuellen Betriebsratssitzung aus (BeckOK ArbR/Maurer, 55. Ed. 2020, § 33 BetrVG Rn. 3; HWK/Reichold, 8. Aufl. 2018, § 33 BetrVG Rn. 3; Jesgarzewski/Holzendorf, NZA 2012, 1021, 1022). Als Argument wird hauptsächlich angeführt, bei einer Beschlussfassung via Videokonferenz könne der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit der Sitzung (§ 30 S. 4 BetrVG) nicht gewahrt werden. Dagegen wenden andere Stimmen der Literatur zwar überzeugend ein, dass die Betriebsratssitzung per Videokonferenz mit Blick auf den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit keine formatspezifischen Gefahrenquellen, die bei der herkömmlichen Sitzung vor Ort mit absoluter Sicherheit auszuschließen wären, berge und schließen daraus die grundsätzliche Zulässigkeit einer Betriebsratssitzung per Videokonferenz (Thüsing/Beden, BB 2019, 372, 374 ff.; Beden/Rombey, BB 2020, 1141, 1143). Angesichts der Mehrheit der Literaturstimmen, die Betriebsratssitzungen per Videokonferenz als Verstoß gegen § 30 S. 4 BetrVG wertet, bleibt ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit jedoch bestehen. Dies hat auch der Bundesarbeitsminister erkannt. Anstatt beispielsweise im Zuge des COVG Änderungen am BetrVG vorzunehmen, begnügte sich der Minister zunächst mit einer Ministererklärung, in der es heißt: „Der Normalfall ist, dass die Betriebsratsmitglieder zu einer Sitzung zusammenkommen […]. Von einem solchen Normalfall können wir hier jedoch nicht sprechen […]. Wir sind daher der Meinung, dass in der aktuellen Lage […] auch die Teilnahme an einer Betriebsratssitzung mittels Video- oder Telefonkonferenz […] zulässig ist.“ Dass das deutsche Recht eine Ministererklärung nicht kennt und dass diese keine rechtliche Wirkung entfaltet, wurde zu Recht von Wissenschaft und Praxis kritisiert. Diese Kritik wird wohl ein Grund gewesen sein, weshalb jetzt doch noch Bewegung in die Sache gekommen ist: Die Regierungsfraktionen haben eine Gesetzesvorlage (BT-Drucks. 19/17740) in den Bundestag eingebracht, wonach ein neuer § 129 in das BetrVG eingefügt werden soll, der vorübergehend sowohl eine Beschlussfassung per Video- als auch per Telefonkonferenz ermöglicht. Diesem Gesetzesvorschlag hat sich der Ausschuss für Arbeit und Soziales inzwischen angeschlossen (BT-Drucks. 19/18753, 9 ff.). Der neue § 129 BetrVG beseitigt somit Rechtsunsicherheit in Zeiten von Corona bzgl. der Beschlussfassung per Videokonferenz und geht insoweit über das bislang geltende Recht hinaus, als dass vorübergehend auch eine wirksame Betriebsratsarbeit durch Telefonkonferenz ermöglicht wird.
 
Zum zweiten Teil des Beitrags gelangt ihr hier.

18.05.2020/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2020-05-18 09:30:552020-05-18 09:30:55Reaktionen des Gesetzgebers auf die COVID-19-Pandemie – Teil I: Insolvenz- und Gesellschaftsrecht
Tobias Vogt

800 qm Grenze für Ladenöffnungen verfassungswidrig! Oder doch nicht?

Examensvorbereitung, Öffentliches Recht, Polizei- und Ordnungsrecht, Rechtsprechung, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht

Zum Schutz vor einer weiteren Verbreitung des Covid-19 Virus wurden auf Landesebene Verordnungen erlassen, die nur eine Öffnung von Läden mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 qm erlauben. Größere Geschäfte müssen geschlossen bleiben. Aufsehen erregten die Beschlüsse des VG Hamburg sowie des BayVGH, die die entsprechenden Regelungen als verfassungswidrig einstuften. Jedoch judizierten mittlerweile das OVG NRW, OVG Niedersachen, das OVG Berlin-Brandenburg sowie das OVG Hamburg, die die 800 qm Beschränkung nicht beanstandeten. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über diese teils divergierenden Entscheidungen geben, die sich aufgrund ihrer Aktualität und ihrem Schwerpunkt in der Prüfung von Art. 12 und Art. 3 des GG hervorragend für eine Examensklausur oder mündliche Prüfung eignen.
I. Woher stammt die 800 qm Grenze?
Als die Verordnungen mit der Beschränkung der Ladenöffnung auf Verkaufsflächen von bis zu 800 qm bekannt gemacht worden sind, löste dies in vielen Teilen der Bevölkerung Verwunderung aus: Warum gerade 800 qm? Die auf den ersten Blick völlig willkürlich gesetzte Grenze hat ihren Ursprung im öffentlichen Baurecht. Dort gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Betriebe mit Verkaufsflächen mit mehr als 800 qm als großflächige Einzelhandelsbetriebe im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO (BVerwG, Urteil vom 24. November 2005 – 4 C 10/04). Der Gesetzgeber greift also auf eine anerkannte Begrenzung zurück. Offen bleibt jedoch – zunächst – die Frage ob diese aus dem Baurecht stammende Grenze zulässigerweise auf das Gebiet des Infektionsschutzes übertragen werden kann.
II. Aktuelle Rechtsprechung
Mit dieser Frage hatten sich in den letzten Wochen auch schon mehrere Gerichte im Rahmen von Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz auseinanderzusetzten. Daher zunächst eine (knappe) Darstellung einiger dieser Beschlüsse:
VG Hamburg, Beschluss vom 21.04.2020 (AZ.: 3 E 1675/20)
Das VG Hamburg sah in der 800 qm Grenze einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Berufsfreiheit. Sie verneinte schon die Geeignetheit der 800 qm Grenze, den Zwecken des Infektionsschutzes zu dienen und führte hierzu aus: „Für die Annahme […], dass von großflächigen Einzelhandelsgeschäften eine hohe Anziehungskraft für potentielle Kunden mit der Folge ausgeht, dass allein deshalb zahlreiche Menschen die Straße der Innenstadt und die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs benutzen werden, liegt keine gesicherte Tatsachenbasis vor.“ Die aus dem Baurecht resultierenden Grundsätze können laut VG Hamburg nicht übertragen werden, da sie einer geordneten Stadtentwicklungsplanung und nicht dem Infektionsschutz dienen.
Der Beschluss des VG Hamburg wurde eine Woche später vom OVG Hamburg aufgehoben:
OVG Hamburg, Beschluss vom 30.04.2020 (Az.: 5 Bs 64/20)
Das OVG Hamburg stufte nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung die Beschränkung der Verkaufsfläche auf 800 qm als rechtmäßig ein. Nach Ansicht des OVG Hamburg weist auf den weiten Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit von Maßnahmen hin, der insbesondere bei der Beurteilung komplexer Gefahrenlagen wie der aktuellen Gefahren aufgrund des neuartigen Coronavirus bestehe. Die Einschätzung des Verordnungsgebers, eine Beschränkung der zulässigen Verkaufsfläche auf 800 qm trage maßgeblich zum Gesundheitsschutz bei, sei nachvollziehbar und stichhaltig. Die Stadt Hamburg dürfe davon ausgehen, dass anhand einer typisierenden Betrachtung von großflächigen Einzelhandelsgeschäften eine große Anziehungskraft auf die Bevölkerung ausgehe und dies wiederum die Infektionsgefahr verstärke. Es bestünde zudem ein erhöhter Kontrollaufwand hinsichtlich der Einhaltung von Hygienemaßnahmen. Eine vollständige Öffnung des Einzelhandels könne zudem suggerieren, die Corona-Krise sei nun überwunden.
So entschieden im Ergebnis und mit ähnlicher Begründung auch das OVG Niedersachsen, Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 13 MN 98/20), OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 28.04.2020 und 29.04.2020 (Az.: OVG 11 S 28/20 und OVG 11 S 30.20 sowie OVG 11 S 31.20) und das OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020 (Az.: 13 B 512/20.NE).
BayVGH, Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 20 NE 20.793)
Der bayrische Verfassungsgerichtshof ordnete die Regelungen zur Ladenöffnung als unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ein. Im Wesentlichen stütze er dies jedoch nicht auf die 800 qm Grenze an sich, sondern darauf, dass nach der von ihm geprüften Verordnung bestimmte Einzelhandelsbetriebe wie Buchhandlungen oder Fahrradläden unabhängig von der Größe ihrer Verkaufsfläche öffnen dürfen. Diese Ungleichbehandlung sei aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht gerechtfertigt.
III. Vorgehensweise in einer Prüfung
In einer Klausur dürfte es sich anbieten, zunächst die Vereinbarkeit der Verkaufsflächenbeschränkung mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG und sodann die Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.
Hinsichtlich Art. 12 GG ist dabei auf eine saubere Prüfung anhand der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Drei-Stufen-Theorie zu achten. Die Verkaufsflächenbeschränkung stellt hiernach eine Berufsausübungsbeschränkung dar, die durch jede vernünftige Erwägung des Gemeinwohls als legitimen Zweck gerechtfertigt werden kann.
Die Geeignetheit der Verkaufsflächenregelung kann nicht mit überzeugenden Gründen abgelehnt werden. Der Beschluss des VG Hamburg dient hier als Negativbeispiel, welchen Fehler man in einer Klausur nicht machen darf. Zur Feststellung der Geeignetheit einer Maßnahme ist es gerade nicht erforderlich, dass die Erreichung des Zwecks feststünde oder jedenfalls eine gesicherte Tatsachenbasis bestünde. Die Maßnahme muss nur geeignet sein, den Zweck zu fördern. Der Gesetzgeber genießt hierbei grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative. Gerade bei der Beurteilung einer komplexen Gefahrenquelle wie einer Pandemie und einer damit verbundenen dringenden Gefahr besteht ein weiter Entscheidungsspielraum. Ausreichend ist dann, dass die Erwägungen des Gesetzgebers nachvollziehbar sind.
In der Prüfung der Angemessenheit sollte darauf hingewiesen werden, dass – auch wenn es sich um eine bloße Berufsausübungsbeschränkung handelt – die Beschränkung der Verkaufsfläche immense wirtschaftliche Folgen haben kann und aufgrund dieser Eingriffsintensität eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn angezeigt ist. Die Beschränkung dient jedoch dem Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen durch die drohenden weitere Verbreitung des Coronavirus. Der Staat hat insoweit eine aus Art. 2 Abs. 2 GG resultierende Schutzpflicht. Vieles spricht hier im Ergebnis für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme – insbesondere, da nach den Regelungen der entsprechenden Verordnungen jedem Betrieb die Ladenöffnung durch Begrenzung der aktuell genutzten Verkaufsfläche auf 800 qm ermöglicht wird.
Einen Schwerpunkt der Prüfung wird die Vereinbarkeit der Begrenzung auf 800 qm mit Art. 3 Abs. 1 GG sein. Dieser verbietet wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln.
Zunächst ist die Ungleichbehandlung anhand einer Vergleichsgruppe darzulegen. Die Vergleichsgruppe sind hier Einzelhandelsbetriebe. Diese werden ungleich behandelt, da nur Läden mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 qm öffnen dürfen.
Zur Rechtfertigung bedarf es eines sachgerechten, vernünftigen Grundes. Die Ungleichbehandlung darf nicht willkürlich sein. Der Gesetzgeber hat hier auf ein im Baurecht anerkanntes Kriterium zurückgegriffen. Zu diskutieren ist an dieser Stelle die Frage, ob die Erwägungen des Bauplanungsrechts auf das Infektionsschutzrecht übertragbar sind. Ansonsten wäre das Unterscheidungskriterium sachfremd und damit in Hinblick auf die konkrete Maßnahme willkürlich. Es sprechen hier wohl die besseren Gründe für eine sachgerechte Übertragung der aus dem Bauplanungsrecht resultierenden Bewertungen auch auf den Infektionsschutz. Denn die Einordnung und gesonderte Behandlung von Läden mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm als großflächige Einzelhandelsbetriebe beruht auf der Annahme, dass solche Einzelhandelsbetriebe aufgrund ihres typischerweise breit aufgestellten Sortiments eine besonders große Anzahl an Kunden anziehen. Der Umstand, wie viele Personen sich zu einem bestimmten Laden begeben, hat auch hinsichtlich des Infektionsschutzes tragende Bedeutung. So besteht anerkanntermaßen bei einer größeren Ansammlung von Menschen ein höheres Infektionsrisiko. Auch wenn nicht in jedem Fall eine solche verstärkte Anziehungswirkung aufgrund einer Ladenfläche von mehr als 800 qm besteht, so ist  aufgrund der Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung und der Dringlichkeit der Maßnahmen eine pauschalisierte Betrachtung zulässig. Das OVG NRW begründet die Zulässigkeit einer pauschalen Betrachtungsweise so: „Durchgreifende Bedenken bestehen gegenwärtig auch nicht deshalb, weil der Verordnungsgeber pauschal auf die Verkaufsflächengröße abstellt, ohne vorab zu ermitteln, ob von Handelseinrichtungen mit einer Verkaufsfläche von mehr als 800 qm generell oder im Einzelfall wegen ihrer Anziehungskraft besondere Infektionsrisiken ausgehen. Abgesehen davon, dass wegen des akuten Handlungsbedarfs die Einholung aufwändiger und validierter Gutachten kurzfristig kaum möglich wäre, ist das Kriterium der Verkaufsfläche im Sinne des Einzelhandelserlasses NRW für die Betroffenen Geschäftsinhaber und Ordnungsbehörden verständlich und handhabbar. Die mit dem alleinigen Abstellen auf die Verkaufsfläche verbundene Typisierung erscheint zudem für die Wirksamkeit der Beschränkungen wesentlich.“
Die vom BayOVG beanstandete Ungleichbehandlung hinsichtlich einiger privilegierter Einzelhandelsbranchen wie Buch- und Fahrradläden dürfte dagegen in der Tat unzulässig sein, wenn nicht Gründe ersichtlich sind, aus denen sich ergibt, dass die generelle Annahme einer verstärkten Anziehungskraft bei einer größeren Verkaufsfläche hier nicht zutreffend sei.
IV. Fazit
Die Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung der zulässigen Verkaufsfläche im Einzelhandel auf 800 qm ist anhand von Art. 12 GG und Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.
Vieles spricht für die Zulässigkeit dieser Beschränkung
Entscheidend für die Beurteilung des Vorliegens eines erforderlichen sachlichen Grundes zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ist die Frage der Übertragbarkeit der 800 qm Grenze aus dem Bauplanungsrecht. Da die im Bauplanungsrecht anerkannte Annahme, dass typischerweise von Verkaufsflächen über 800 qm eine erhöhte Anziehungskraft auf Kunden ausgeht, ist auch für den Infektionsschutz von Belang, sodass die Ungleichbehandlung wohl gerechtfertigt sein dürfte.
Dagegen dürfte die Privilegierung von bestimmten Einzelhandelsgeschäften gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Entscheidend wird in der Klausur wie so oft eine fundierte Begründung sein.

05.05.2020/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2020-05-05 10:00:352020-05-05 10:00:35800 qm Grenze für Ladenöffnungen verfassungswidrig! Oder doch nicht?
Gastautor

Rechtmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie am Beispiel der Allgemeinverfügung in Bayern

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Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Rudi Lang veröffentlichen zu können. Rudi Lang ist Diplom-Verwaltungswirt (FH) und war vor der Aufnahme seines Jura-Studiums an der Universität Bayreuth Regierungsinspektor im Sachgebiet Kommunales bei der Regierung von Oberfranken in Bayreuth.

 
Nach und nach wird das öffentliche Leben in Bayern und Deutschland insgesamt angesichts der sich ausbreitenden Corona-Pandemiewelle durch hoheitliche Maßnahmen „heruntergefahren“. Angesichts der neuesten dramatischen Entwicklungen haben diese Maßnahme im Erlass umfassender Ausgangsbeschränkungen u.a. in Bayern vorläufig einen Höhepunkt gefunden. Im Rahmen dieses Beitrags interessiert dabei die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.3.2020, Az. Z6a-G8000-2020/122-98 (online abrufbar unter: https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2020/03/20200320_av_stmgp_
ausgangsbeschraenkung.pdf, im Folgenden: AV Bayern).
Diese wird im Folgenden didaktisch anhand des herkömmlichen Prüfungsschemas von Rechtsgrundlage – formelle Rechtmäßigkeit – materielle Rechtmäßigkeit aufbereitet und analysiert, wobei auf die in den jüngsten juristischen Stellungnahmen geäußerten Bedenken gegenüber Ausgangsbeschränkungen eingegangen wird. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.
 
I. Rechtsgrundlage
Die wohl meistdiskutierte Frage im Rahmen der aktuellen Geschehnisse um die „Corona-Krise“ ist bereits, ob für allgemeine Ausgangsbeschränkungen überhaupt eine Rechtsgrundlage besteht (die AV Bayern wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege auf § 28 I 1 und 2 IfSG gestützt).
Wegen der belastenden Wirkung solcher Maßnahmen für den Einzelnen bedarf eine solche Maßnahme jedenfalls angesichts des Vorbehalts des Gesetzes (vgl. Art. 20 III GG) einer gesetzlichen Grundlage.
In Betracht kommen insoweit spezialgesetzliche Befugnisse auf Basis des IfSG (dazu 1.) oder auch die polizeirechtliche Generalklausel (dazu 2.).
 
1. Befugnisse nach IfSG
a) 30 I 2 IfSG

Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.

Die Ausgangsbeschränkung könnte eine allgemeine (nicht individualisierte) Quarantäneanordnung nach § 30 I 2 IfSG darstellen.
Dies erfordert jedoch zumindest einen Ansteckungsverdacht der Adressaten der Maßnahme. Die Tatsache der Aufnahme von Krankheitserregern muss wahrscheinlicher sein als das Gegenteil (BVerwG NJW 2012, 2823).
Da jedoch trotz der stark ansteigenden Zahlen zumindest zum Zeitpunkt des Erlasses der AV Bayern nicht davon ausgegangen werden konnte, dass bei jedem Bewohner Bayerns eine Infektion wahrscheinlicher ist als eine Nicht-Infektion, scheidet § 30 I 2 IfSG als Rechtsgrundlage für eine umfassende Ausgangsbeschränkung aus.
 
b) 28 I 2 IfSG

Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen;

(Halbsatz 1)
28 I 2 Hs. 1 IfSG als Rechtsgrundlage für die AV Bayern scheidet von vornherein aus, da dieser nur das Verbot von Ansammlungen und die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen erfasst, nicht jedoch die Verhängung von generellen Ausgangsbeschränkungen.

[…] sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt sind.

(Halbsatz 2)
Jedoch könnte sich die AV Bayern auf § 28 I 2 Hs. 2 IfSG stützen lassen, passt doch insoweit die Rechtsfolge des Verbots des Verlassens von Orten (siehe Nr. 4 AV Bayern). Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass die Norm nur vorübergehende Maßnahmen erfasst („[…] bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt sind“), nicht hingegen weit darüber hinausgehende allgemeine Ausgangsbeschränkungen (so auch Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland? JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, https://www.juwiss.de/27-2020/).
Damit stellt auch § 28 I 2 Hs. 2 IfSG keine hinreichende Rechtsgrundlage für die AV Bayern dar.
 
c) 28 I 1 IfSG (Generalklausel)

Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtigte oder Ausscheider festgestellt

(Alt. 1)
oder

ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war

(Alt. 2)

so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen […], soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.

Im Rahmen des IfSG verbleibt somit der Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 I 1 IfSG, als „notwendige Schutzmaßnahme“ könnte angesichts der Offenheit dieses Begriffs auch die Verhängung allgemeiner Ausgangsbeschränkungen verstanden werden.
Problem: Rückgriff auf Generalklausel für Allgemeinverfügung überhaupt möglich?
Es ist jedoch fraglich, ob ein Rekurs auf die Generalklausel für die AV Bayern überhaupt möglich ist. Hier werden aktuell drei Problemkreise diskutiert:
 
(1) Gesetzgeber hatte bei Formulierung der Generalklausel keine allgemeinen Ausgangsbeschränkungen im Blick („teleologische Reduktion“ der Generalklausel)
Teils wird angeführt, der Gesetzgeber des IfSG hatte bei dessen Erlass gerade keine allgemeinen Ausgangsbeschränkungen im Blick.
Ein solches Verständnis widerspricht jedoch m. E. dem Charakter und der Funktion von gefahrenabwehrrechtlichen Generalklauseln. Diese sollen gerade die Möglichkeit eröffnen, auf neuartige, unbekannte Gefahrenlagen zu reagieren („Effektivität der Gefahrenabwehr“), die fehlende historische Regelungsintention bzgl. der konkreten Maßnahme „Ausgangsbeschränkungen“ muss somit unbeachtlich sein und spricht nicht gegen die Heranziehung der Generalklausel.
 
(2) Bestimmtheitsgrundsatz/Gesetzesvorbehalt (abgeleitet aus Art. 20 III GG)
Gewichtiger sind die Einwände, die § 28 I 1 IfSG angesichts der damit intendierten schwerwiegenden Grundrechtseingriffe für nicht bestimmt genug halten.
„Notwendige Schutzmaßnahmen“ sind tatsächlich ein sehr dehnbarer Begriff und auf den ersten Blick wenig aufschlussreich bzgl. der konkreten Maßnahmen.
Zwar darf der Gesetzgeber grundsätzlich unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden; je höher jedoch die Eingriffsintensität einer Maßnahme ist, desto höher sind die Anforderungen an die Bestimmtheit der Befugnisnorm (Holzner, in: BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, 12. Edition, Stand: 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 130).
Im Falle von umfassenden Ausgangsbeschränkungen ist die Eingriffsintensität sehr hoch (v. a. Art. 2 II 2 i. V. m. Art. 104 GG). Dementsprechend sind auch hohe Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen, denen die Formulierung „notwendige Schutzmaßnahmen“ bei Erlass von generellen Ausgangsbeschränkungen nach der überwiegenden Zahl der Autoren nicht gerecht wird (Edenharter, Freiheitsrechte ade? Die Rechtswidrigkeit der Ausgangssperre in der oberpfälzischen Stadt Mitterteich VerfBlog 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/; Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland? JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, https://www.juwiss.de/27-2020).
Aber: Das BVerfG billigt im Gefahrenabwehrrecht (hierzu zählt auch das IfSG) zumindest die vorläufige Anwendung von Generalklauseln bei unvorhergesehenen Gefahrensituationen, sofern bei dauerhafter Ausweitung der Einzelfallanordnung eine gesetzgeberische Reaktion erfolgt (BVerfG, Beschl. v. 8.11.2012 – 1 BvR 22/12).
Dem ist m. E. auch bei Ausgangsbeschränkungen im Rahmen der „Corona-Krise“ zuzustimmen (in diese Richtung auch Kießling, Ausgangssperren wegen Corona nun auch in Deutschland (?), JuWissBlog Nr. 29/2020 v. 19.3.2020, https://www.juwiss.de/29-2020/). Gerade das Gefahrenabwehrrecht zeichnet sich durch seine Schnelllebigkeit und das Erfordernis kurzfristiger Reaktion auf neuartige Bedrohungen aus. Dem Gesetzgeber als Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes kann somit nicht abverlangt werden, alle grundrechtsintensiven Maßnahmen von vornherein detailliert zu regeln. Denn dann könnte er seiner Schutzpflicht zugunsten des Lebens und der Gesundheit von Menschen (vgl. Art. 2 II 1 GG) nicht gerecht werden.
Die Corona-Pandemie ist geradezu paradigmatisch für eine solche unvorhersehbare Gefahrenlage, die eine vorübergehende Anwendung der Generalklausel ermöglicht.
Der Bestimmtheitsgrundsatz steht somit der Heranziehung der Generalklausel des § 28 I 1 IfSG nicht entgegen.
 
(3) Sperrwirkung von § 32 IfSG

Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen.

(Satz 1)

Die Grundrechte der […] Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) […] können insoweit eingeschränkt werden.“

(Satz 3)
Interessant ist aber, ob § 32 IfSG ein Handeln durch Allgemeinverfügung sperrt. Aus der Norm wird teils e contrario abgeleitet, dass umfassende Freizügigkeitsbeschränkungen nur in Form von Rechtsverordnungen und nicht als Allgemeinverfügung erlassen werden können. Denn im Gegensatz zu § 28 IfSG erklärt § 32 IfSG explizit das Grundrecht der Freizügigkeit für einschränkbar (Kingreen, Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, VerfBlog 2020/3/20, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/).
Der Wortlaut („auch durch Rechtsverordnung“) spricht indes dagegen, dass § 32 IfSG ein Handeln nach § 28 I 1 IfSG sperrt, sondern setzt voraus, dass beides möglich ist (daher bestehen auch die gleichen tatbestandlichen Voraussetzungen).
Auch die fehlende Zitierung von Art. 11 I GG ist in den Fällen von Ausgangsbeschränkungen unschädlich. Art. 11 I GG und Art. 2 II 2 GG (der von § 28 I 4 IfSG zitiert wird), stehen nach h. M. in einem Exklusivitätsverhältnis (stellvertretend Ogorek, in: BeckOK-GG, 42. Edition, Stand: 1.12.2019, Art. 11 Rn. 56).  Bei einer Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit („Einsperrung“) genügt somit das Zitieren von Art. 2 II 2 GG. Bei den Ausgangsbeschränkungen handelt es sich um solche Einschränkungen der körperlichen Fortbewegungsfreiheit (siehe Nr. 4 der AV Bayern: „Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt“).
Damit kann § 32 IfSG insgesamt keine Sperrwirkung entnommen werden.
Selbst wenn man dies anders sähe, hat die Bayerische Staatsregierung hierauf bereits reagiert und am 24.3.2020 eine der AV Bayern inhaltlich weitgehend entsprechende Rechtsverordnung erlassen (BayMBl. 2020 Nr. 130, online abrufbar unter: https://www.verkuendung-bayern.de/files/baymbl/2020/130/baymbl-2020-130.pdf).
 
2. Sonstige Befugnisse
Sonstige Befugnisnormen, insbesondere Art. 7 II LStVG, Art. 11 I PAG treten als legi generali gegenüber dem – selbst mit einer Generalklausel ausgestatteten – IfSG zurück.
 
3. Zwischenergebnis
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen lassen sich (vorläufig) auf § 28 I 1 IfSG stützen (nach a. A. besteht de lege lata keine taugliche Rechtsgrundlage).
 
Hinweis: In Bayern wurden die Ausgangsbeschränkungen kumulativ auf § 28 I 1 und 2 IfSG gestützt. Dies dürfte in verwaltungsrechtlicher Hinsicht unproblematisch sein, da die Rechtsprechung großzügig ist und auch noch den Austausch der Rechtsgrundlage in einem etwaigen Prozess zulässt.
Jedoch stellt ein Verstoß gegen § 28 I 1 IfSG gem. § 73 Ia Nr. 6, II IfSG eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße von bis zu 2.500 € sanktioniert werden kann. Nur im Ausnahmefall bei vorsätzlicher Verbreitung der Krankheit ist an den Verstoß gem. § 74 IfSG eine Straftat geknüpft.
Ein Verstoß gegen § 28 I 2 IfSG ist hingegen gem. § 75 I Nr. 1 IfSG direkt eine Straftat mit bis zu zwei Jahren Haft.
Die Ahndung von etwaigen Verstößen kann daher mit Art. 103 II, III GG konfligieren. Bayern versucht dieses Problem zu vermeiden, indem in Nr. 7 der AV Bayern generell nur eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit vorgesehen ist. Interessanterweise fehlt eine Nr. 7 der AV Bayern entsprechende Regelung in der nunmehr geltenden Verordnung vom 24.3.2020.
 
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Sachlich und örtlich zuständig für den Erlass allgemeiner Ausgangsbeschränkungen für den gesamten Freistaat Bayern ist gem. § 28 I 1 IfSG i. V. m. § 65 S. 2 Nr. 2 ZustV das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege als oberste Landesgesundheitsbehörde.
Eine vorherige Anhörung ist gem. Art. 28 II Nr. 4 Var. 1 BayVwVfG nicht erforderlich.
Nach Art. 39 II Nr. 5 BayVwVfG bedarf die Allgemeinverfügung im Falle öffentlicher Bekanntmachung (so in Bayern erfolgt) auch keiner Begründung (gleichwohl enthält die AV Bayern eine Begründung).
 
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Feststellung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern

Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtigte oder Ausscheider festgestellt

(Alt. 1)
oder

ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war (Alt. 2)
so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen […], soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.

In Bayern wurden bereits (zahlreiche) Infizierte festgestellt. Der Tatbestand der Generalklausel des § 28 I 1 IfSG ist somit erfüllt.
 
2. Verhältnismäßigkeit
Maßnahmen sind nur zulässig, soweit und solange zur Verhinderung übertragbarer Krankheiten erforderlich sind. Mithin ist sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht – bereits auf Tatbestandsebene – eine Verhältnismäßigkeitskontrolle angezeigt.
Die Verhängung einer allgemeinen Ausgangsbeschränkung für die Dauer von zwei Wochen (so die AV Bayern) müsste also einen legitimen Zweck verfolgen und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.
 
a) Legitimer Zweck
Die Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus und damit der Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen stellt ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel dar (vgl. Art. 2 II 1 GG).
 
b) Geeignetheit/Erforderlichkeit
Zwar halten nicht alle Experten die Verhängung von umfassenden Ausgangsbeschränkungen für erforderlich.
Gleichwohl besteht aber ein Einschätzungsspielraum des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege. Es genügt, dass die verfolgten Zwecke zumindest gefördert werden und nicht offensichtlich ins Leere laufen oder durch mildere Maßnahmen ersetzt werden könnten. Offensichtliche Ungeeignetheit ist wegen der weitgehenden Reduktion menschlichen Kontakts als nach dem Stand der Forschung hauptausschlaggebende Quelle der Verbreitung nicht erkennbar. Mildere Mittel sind bislang angesichts der stark steigenden Zahl der Infektionen ebenfalls nicht auf den ersten Blick ersichtlich.
 
c) Angemessenheit
Die verfolgten Ziele der Maßnahme sind mit den betroffenen Grundrechtspositionen in einen schonenden Ausgleich zu bringen („praktische Konkordanz“). Hier greift die AV Bayern in bedeutende Grundrechte ein und es besteht – auch aufgrund der hohen Zahl der Betroffenen – eine hohe Eingriffsintensität (v. a. bzgl. Art. 8 I GG, Art. 2 II 2 GG).
Demgegenüber gefährdet die weitere Ausbreitung des Virus ebenfalls überragend wichtige Gemeinschaftsgüter des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung (Art. 2 II 2 GG).
Entscheidend ist angesichts der beidseitig sehr bedeutsamen Grundrechtspositionen die konkrete Ausgestaltung der Ausgangsbeschränkungen. Jedenfalls unverhältnismäßig dürfte eine komplette Ausgangssperre mit der Wirkung einer Freiheitsentziehung sein (dann dürften auch Ärzte das Haus nicht mehr verlassen, womit eine solche Ausgestaltung schon ungeeignet wäre, den bezweckten Zielen Rechnung zu tragen). Diese würde dazu führen, dass sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung auf Dauer eher negativ als positiv entwickelt (Edenharter, Freiheitsrechte ade? Die Rechtswidrigkeit der Ausgangssperre in der oberpfälzischen Stadt Mitterteich VerfBlog 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/). Eine solche komplette Ausgangssperre enthält die AV Bayern indes nicht (daher der treffende Begriff der Ausgangsbeschränkung).
Die AV Bayern enthält in Nr. 5 lit. a)-h) nämlich einige – nicht abschließende – triftige Gründe für das Verlassen der Wohnung, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen sollen:

a) die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
 b) die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z. B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen; Blutspenden sind ausdrücklich erlaubt) sowie der Besuch bei Angehörigen helfender Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist (z. B. Psycho- und Physiotherapeuten),
 c) Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs (z. B. Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Tierbedarfshandel, Brief- und Versandhandel, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Banken und Geldautomaten, Post, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Reinigungen sowie die Abgabe von Briefwahlunterlagen). Nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs gehört die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie etwa der Besuch von Friseurbetrieben,
 d) der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorgerechts im jeweiligen privaten Bereich,
 e) die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
 f) die Begleitung Sterbender sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
 g) Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
 h) Handlungen zur Versorgung von Tieren.

Insbesondere die Möglichkeit des Aufenthalts an der frischen Luft gem. Nr. 5 lit. g) der AV Bayern dürfte die Bedenken bezüglich einer kontraproduktiven negativen Gesundheitsbeeinträchtigung entkräften.
Gleichwohl wird diskutiert, ob angesichts der enormen Tragweite der Regelungen nicht sogar gem. Art. 19 II GG ein Eingriff in den Wesensgehalt von einigen Grundrechten vorliegt. Schließlich sind beispielsweise Versammlungen (Art. 8 I GG) und Gottesdienste (Art. 4 I, II GG) vollumfänglich jedermann in Bayern gänzlich untersagt.
Einen Wesensgehaltseingriff gem. Art. 19 II GG begründet dies jedoch m. E. noch nicht. Angesichts der zeitlichen Befristung der Maßnahme auf zwei Wochen ist eine gänzliche Versagung von Grundrechtspositionen nicht gegeben. Im Übrigen ist Art. 19 II GG wie auch Art. 1 I 1 GG restriktiv auszulegen, um eine individuelle Abwägung von Freiheitsräumen zu gewährleisten und absolute Betrachtungen, die dem Mantra der praktischen Konkordanz fremd sind, zu vermeiden.
Gleichwohl bleibt die künftige Entwicklung zu beobachten, da die Eingriffsintensität mit fortschreitender Dauer der Ausgangsbeschränkungen graduell ansteigt.
Für den aktuellen Zeitpunkt dürfte angesichts der zahlreichen Ausnahmen die AV Bayern einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle standhalten.
 
IV. Fazit
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen lassen sich (vorläufig) auf § 28 I 1 IfSG stützen, wobei der Gesetzgeber bei längerem Andauern der Maßnahmen gehalten ist, spezielle Eingriffsbefugnisse zu schaffen. Diese Eingriffsbefugnisse sollen nun im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundesgesetzgeber geschaffen werden. Insbesondere die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Ausgangsbeschränkungen entscheidet über deren Verhältnismäßigkeit, wobei ein Wesensgehaltseingriff zumindest nach aktuellem Stand abzulehnen ist. Anhand dieser Maßstäbe ist die AV Bayern insgesamt als rechtmäßig anzusehen.

30.03.2020/7 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2020-03-30 09:10:392020-03-30 09:10:39Rechtmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie am Beispiel der Allgemeinverfügung in Bayern
Tobias Vogt

Strafbarkeit durch Ansteckung mit dem Coronavirus

Examensvorbereitung, Strafrecht, Strafrecht AT, Strafrecht BT, Tagesgeschehen

Es gibt wohl kein Thema, dass in den letzten Jahren derart die Schlagzeilen bestimmt hat wie das neuartige Coronavirus. Daher dürfte es auch nicht verwunderlich sein, falls rechtliche Probleme rund um das Coronavirus künftig Gegenstand juristischer Prüfungen sein werden.
In München kam es vergangene Woche bereits zum Eklat: Ein Münchener Rechtsanwalt zeigte einen Strafrichter wegen versuchter Körperverletzung an, nachdem dieser auf die Durchführung einer Gerichtsverhandlung bestand. Anwesend waren über 50 Personen. Nach Ansicht des beteiligten Anwalts sei die Verhandlung daher eine Hochrisikoveranstaltung, bei der ein erhöhtes Ansteckungsrisiko bewusst in Kauf genommen werde.
Dies bietet Anlass, die prüfungsrelevanten Probleme der Strafbarkeit durch Infizierung Anderer mit dem Coronavirus zu erläutern:
I. Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung §§ 223, 224 StGB
Wer eine andere Person mit dem Coronavirus infiziert, der erfüllt den objektiven Tatbestand der Körperverletzung – und dies selbst dann, wenn der Infizierte über keinerlei Symptome klagt. Zwar erfordert eine körperliche Misshandlung spürbare Folgen der Infektion. Eine Gesundheitsschädigung liegt aber bereits in der Infektion mit einer nicht ganz unerheblichen Krankheit selbst, in deren Folge der betroffene auch selbst infektiös sein kann (vgl. BGH, Urteil vom 04-11-1988 – 1 StR 262/88).
Ggf. kann auch eine Strafbarkeit nach § 224 StGB wegen gefährlicher Körperverletzung vorliegen. In Betracht kommt die Beibringung eines anderen gesundheitsschädlichen Stoffes (Nr. 1, 2. Alt.) sowie eine lebensgefährliche Behandlung (Nr. 5).
Nach hM. sind Erreger von Krankheiten als gesundheitsschädliche Stoffe iSd. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB anzusehen (statt vieler Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, StGB § 224 Rn. 2c). Um in Bagatellfälle unangemessen hohen Strafe und einen Wertungswiderspruch mit den Nr. 2-5 zu vermeiden, ist über den Wortlaut hinaus erforderlich, dass die Substanz nach ihrer Art und dem konkreten Einsatz zur Verursachung einer erheblichen Gesundheitsschädigung geeignet ist. Nur so kann die gegenüber dem Grundtatbestand des § 223 StGB massive Strafrahmenerhöhung gerechtfertigt werden. Auch wenn einige die Erkrankung mit dem neuartigen Coronavirus in einigen Fällen milde verläuft, so ist der Virus dennoch jedenfalls geeignet, eine erhebliche Gesundheitsschädigung hervorzurufen.
Zudem kann eine lebensgefährdende Behandlung gemäß Nr. 5 vorliegen. Nach hM. ist keine konkrete Lebensgefahr erforderlich, sondern eine abstrakte Lebensgefahr ausreichend. Schließlich setzten auch die Nr. 1-4 abstrakte Gefahren unter die erhöhte Strafe. Zudem steht im Fokus des Wortlauts gerade die lebensgefährliche Behandlung, also nicht der konkrete Erfolg. An der abstrakten Lebensgefährlichkeit der Ansteckung mit dem Coronavirus kann gezweifelt werden, weil die Krankheit nur in Ausnahmefällen tödlich verläuft. Dies ist bislang in der Regel nur bei älteren Menschen, sowie Personen mit Vorerkrankungen der Fall – sog. Risikogruppe. Ob eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StBG vorliegt, kann daher nur anhand des konkreten Einzelfalls beurteilt werden. Maßgeblich ist die individuelle Schädlichkeit der Einwirkung gegen den Körper des Verletzten (BGH, Beschluss vom 16. 1. 2013 – 2 StR 520/12) unter Berücksichtigung von Alter und Vorerkrankung des Opfers (Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, StGB § 224 Rn. 12). Die Infizierung einer Person, die zur Risikogruppe zählt, stellt somit eine lebensgefährliche Behandlung dar, die Infizierung einer sonstigen Person dagegen nicht.
Eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung wird in der Praxis oftmals am fehlenden Vorsatz scheitern. Ausreichend ist jedoch – wie sonst auch – dolus eventualis. Es kommt also in einer Klausur auf den Klassiker, die Abgrenzung des bedingten Vorsatzes zur bewussten Fahrlässigkeit, an (siehe dazu ausführlich unser Beitrag hier). Erkennt der Täter das Risiko einer Ansteckung anderer Personen und nimmt er dieses Risiko billigend in Kauf, so ist der Vorsatz zu bejahen. Vertraut er aber darauf, niemanden zu infizieren, ist ihm mangels Vorsatz nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen.
II. Fahrlässige Körperverletzung § 229 StGB
Eine fahrlässige Körperverletzung dürfte jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn der Täter von seiner eigenen Infektion wusste, oder zumindest aufgrund von engen Kontakt zu einer infizierten Person oder eigener Symptome mit der ernsthaften Möglichkeit einer Erkrankung rechnen musste, und dennoch in Kontakt mit anderen Personen trat, die er infolge dessen ansteckte. Ohne konkreten Anhaltspunkt bezüglich einer eigenen Erkrankung dürfte eine Strafbarkeit wohl ausscheiden.
III. Strafbarkeit bei tödlichem Krankheitsverlauf
Führt die Infektion zum Tod des Opfers, so hat sich der Täter bei Vorsatz sogar wegen Totschlag nach § 212 StGB oder sogar wegen Mord  nach § 211 StGB strafbar gemacht. Als Mordmerkmale kommen insbesondere Heimtücke und gemeingefährliche Mittel in Betracht. Letzteres könnte anzunehmen sein, wenn sich der Täter trotz eigener Infektion in eine Menschenmenge begibt, bspw. an einer Party teilnimmt, wo er zugleich mit einer Vielzahl an Personen engen Kontakt hat. Ob eine Heimtücke trotz der aktuellen, allgemein bekannten Gefährdungslage angenommen werden kann, ist fraglich. Es könnte an der Arglosigkeit fehlen, wenn bei einer derart weit verbreiteten Pandemie grundsätzlich jederzeit mit dem Risiko einer Infektion gerechnet werden muss.
Fehlt es wiederum am Vorsatz, so kann er sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben. Handelt der Täter vorsätzlich bezüglich einer Körperverletzung, nicht hingegen hinsichtlich des tödlichen Verlaufs, so ist er strafbar wegen Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 StGB.
IV. Strafbarkeit wegen Versuch
Selbst wenn der Täter tatsächlich keine andere Person infiziert, so scheidet dadurch seine Strafbarkeit nicht von vorneherein aus. Rechnete er damit, andere anzustecken oder nahm er dies billigend in Kauf, so ist er mindestens wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung strafbar. Nahm er zudem auch den möglichen Tod einer anderen Person in Kauf, liegt eine Strafbarkeit wegen versuchtem Totschlag (oder sogar Mord) vor.
V. Strafbarkeit eines Richters wegen Durchführung der Verhandlung während Corona-Pandemie
In dem prominenten Fall der Anzeige gegen den Münchener Richter wird die denkbare Strafbarkeit wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung wohl mangels nachweisbaren Vorsatzes ausscheiden. In einer Klausur wäre in einem solchen Fall zudem die objektive Zurechnung einer Infektion zu thematisieren, wenn diese nicht von dem Täter (hier dem Richter) selbst ausgeht. Diese könnte aufgrund des Dazwischentretens Dritter – dem bereits infizierten Teilnehmer der Verhandlung – ausscheiden. Dies dürfte ebenso zu diskutieren sein, wenn es um die Strafbarkeit der Veranstalter sonstiger Massenzusammenkünfte (bspw. Corona-Partys) geht, bei der es zur Infizierung zwischen den Teilnehmern kommt. Zudem könnte im Fall des Richters die objektive Zurechnung aufgrund sozialadäquaten Verhaltens scheitern. Darüber, inwiefern eine Verhandlung während der aktuellen Pandemie noch sozialadäquat ist, kann aber durchaus gestritten werden. Zwei Münchener Anwälte scheiterten mit einem Eilantrag vor dem BVerfG, mit dem sie weitere Verhandlungen verhindern wollten.
VI. Summa
Die Ansteckung anderer Personen mit dem Coronavirus erfüllt den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung §§ 223, 224 Nr. 1, 2. Alt. (bei Personen der Risikogruppe zusätzlich Nr. 5), bei tödlichem Verlauf kommt sogar eine Strafbarkeit wegen Todschlag § 212 StGB oder Mord § 211 StGB in Betracht.
Auch wer sich dieser Folge – etwa mangels Kenntnis der eigenen Infektion – nicht bewusst ist, kann sich wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung § 229 StGB bzw. § 222 StGB strafbar machen.
Nahm der Täter billigend in Kauf, andere Personen anzustecken, so ist er dann, wenn er tatsächlich niemanden infiziert, aus Versuch zu bestrafen.
In diesem Sinne #stayhome und alles Gute.
 
 

25.03.2020/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2020-03-25 09:40:542020-03-25 09:40:54Strafbarkeit durch Ansteckung mit dem Coronavirus

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