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Schlagwortarchiv für: Bundestagswahl

Gastautor

BVerfG zur teilweisen Ungültigerklärung und Wiederholung der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in Berlin

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Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Sören Hemmer veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn

A.   Einleitung

Mit Urteil vom 19.12.2023 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urt. v. 19.12.2023 – 2 BvC 4/23, BeckRS 2023, 36480) über die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bezüglich des Beschlusses des Bundestages vom 10.11.2023, mit dem die Bundestagswahl in Berlin teilweise für ungültig erklärt und eine Wiederholung angeordnet wurde. Nicht nur setzt sich die Entscheidung inhaltlich erheblich von der des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin (VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70) ab, der in einem weitgehend parallelen, wenn auch nicht identischen Fall, für die Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen eine vollständige Wahlwiederholung annahm. Es werden auch einige Fragen behandelt, die so oder so ähnlich KandidatInnen im Examen begegnen könnten. Daher sollen die wesentlichen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts folgend im Stile einer Klausurbearbeitung dargestellt werden.

B.   Der Sachverhalt (leicht abgewandelt)

Am 26.09.2021 fand in Berlin die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt. Zugleich wurden dort die Wahlen zum 19. Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen abgehalten, sowie über einen Volksentscheid abgestimmt, sodass bis zu sechs Stimmen auf fünf verschiedenen Stimmzetteln abzugeben waren. Für die Bundestagwahl waren 2.468.919 Personen wahlberechtigt, die sich auf 2256 Wahlbezirke bzw. 1507 Briefwahlbezirke in zwölf Wahlkreisen verteilten. Zudem wurde am Wahltag der Berlin-Marathon ausgerichtet und es galten diverse besondere Abstands- und Hygienevorschriften in Reaktion auf die gegenwärtige Corona-Pandemie.

In Vorbereitung der Wahl führte die Landeswahlleitung im Juli 2020 eine Simulation mit 750 WählerInnen mit je sechs Stimmen durch und empfahl auf dieser Grundlage, Wahllokale für maximal 750 WählerInnen einzurichten. Dem wurde Rechnung getragen, wobei erwogen wurde, dass ein Teil der Wahlberechtigten nicht oder per Briefwahl teilnehmen würde. Insgesamt wurde die Zahl der Wahlbezirke so im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 um 477 erhöht, wobei die Wahl damals nur mit einem Volksentscheid und keinen weiteren Wahlen zusammenfiel. Ferner stellte die Landeswahlleitung einen „idealtypischen Aufbau“ eines Wahllokals mit zwei Wahlkabinen als Orientierung vor.

Schon am Wahltag wurde von langen Warteschlangen vor diversen berliner Wahllokalen berichtet. Zum Teil wurde auch noch lange nach 18 Uhr und damit nach der Veröffentlichung erster Ergebnisprognosen gewählt. Im Nachgang der Wahl wurden zahlreiche Wahleinsprüche beim Bundestag eingelegt. Diese bezogen sich u.a. auf eine unzureichende Ausstattung der Urnenwahllokale mit Stimmzetteln und Wahlkabinen, die Ausgabe nichtamtlicher Stimmzettel, die Ausgabe von Stimmzetteln anderer Wahlkreise, Unterbrechungen der Wahlhandlung, Wartezeiten, zu frühe Öffnungen oder zu späte Schließungen und die Zulassung nicht wahlberechtigter Personen. Auch die Landeswahlleitung musste in einer Stellungnahme vom 11.01.2022 einräumen, dass es bei der Durchführung der Wahl in einigen Wahlbezirken erhebliche Mängel gegeben habe, die vor allem auf die außerordentliche Belastung durch die Verbindung von drei Wahlen und einem Volksentscheid und erschwerende Umstände der Pandemie und des Marathons zurückzuführen seien. Insbesondere haben die Straßensperrungen zur Durchführung der Sportveranstaltung dazu geführt, dass Nachlieferungen von Stimmzetteln nach Bedarf im Verlauf des Wahltags nicht wie geplant erfolgen konnten.

Daraufhin erklärte der Bundestag mit Beschluss vom 10.11.2022 die Abgabe beider Stimmen für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in insgesamt 431 Wahlbezirken für ungültig und ordnete die Wiederholung der Wahl in diesem Umfang an. Dem lag folgende Begründung zugrunde:

Als Wahlfehler festzustellen sei, dass

  • Stimmzettel anderer Wahlkreise Berlins ausgegeben worden sind. Das verstoße gegen § 39 Abs. 1 S. 2 BWahlG.
  • Wahlhandlungen aufgrund fehlender Stimmzettel erst nach 8 Uhr aufgenommen, zwischenzeitlich unterbrochen oder vor 18 Uhr abgebrochen wurden. Darin liege ein Verstoß gegen § 47 Abs. 1 BWahlO.
  • Stimmzettel über den Tag ausgingen. Damit sei gegen § 49 Nr. 3 BWahlO verstoßen worden.
  • es nicht hinreichend viele Wahlräume und Wahlkabinen gegeben habe. Damit liege ein Verstoß gegen § 43 Abs. 1 S. 3 BWahlO vor.

Auch seien lange Wartezeiten zu beobachten gewesen. Das stelle an sich keinen Wahlfehler dar, könne aber in einen solchen umschlagen, wenn das Warten die Stimmabgabe unzumutbar macht. Insofern seien Wartezeiten vorliegend ein weit verbreitetes Problem gewesen. Es könne von den Wartezeiten auf eine unzureichende Zahl aufgestellter Wahlkabinen geschlossen werden. Dies nahm der Bundestag im Einzelnen auch im Fall einer 30-minütiger Wartezeit im Wahlbezirk 75 01 118, unbestimmt langer Wartezeit iVm einem Verweis auf nicht näher dargelegte „chaotische Zustände“ im Wahlbezirk 75 01 317 und Warteschlangen aus mehreren Dutzend Personen im Wahlbezirk 75 01 722 an. Ferner sei gemäß § 60 S. 2 BWahlO die Stimmabgabe auch nach 18 Uhr an sich ausdrücklich und unabhängig von etwaigen veröffentlichten Ergebnisprognosen möglich, könne aber ebenfalls ein Indiz für weitere Wahlfehler sein.

Die Wahlfehler seien auch mandatsrelevant, denn insgesamt seien 327 Wahlbezirke betroffen. Hinsichtlich dem Zweitstimmenergebnis hätten bereits 802 Stimmen genügt, damit die SPD ein weiteres Mandat erhalten hätte. Bezüglich dem Erststimmenergebnis sei eine Mandatsrelevanz derweil nur für Wahlfehler in den Wahlkreisen 76 und 77 anzunehmen. Hier hätten 26 % bzw. 19 % der NichtwählerInnen ihre Stimme für die Erstunterlegenen abgeben müssen, um zu einer Mandatsverschiebung zu führen. Es sei nicht fernliegend, dass dies ohne die festgestellten Wahlfehler eingetreten wäre. In Wahlkreis 80 hätte es dagegen einer entsprechende Stimmabgabe von 46 % der NichtwählerInnen bedurft. Diese Differenz sei zu hoch, um sie den Wahlfehlern in Rechnung zu stellen. In allen weiteren wahlfehlerbetroffenen Wahlkreisen wäre eine Stimmabgabe von je über 100 % der NichtwählerInnen für die Erstunterlegenen erforderlich, um eine Mandatsverschiebung zu erreichen. Eine Mandatsrelevanz der Wahlfehler müsse daher von vorne herein ausscheiden.

Dort, wo mandatsrelevante Wahlfehler festgestellt wurden, sei die Wahl ungültig und müsse daher wiederholt werden. Die grundsätzliche Beschränkung auf wahlfehlerbehaftete Wahlbezirke entspreche dabei dem aus dem Demokratieprinzip folgenden Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Hingegen folge aus § 44 Abs. 2 BWahlG iVm § 4 BWahlG a.F., dass die Wahl zwingend als Zweistimmenwahl zu wiederholen sei – selbst wenn sich Wahlfehler mandatsrelevant nur auf das Zweitstimmenergebnis ausgewirkt haben. Schließlich seien neben den 327 mandatsrelevant wahlfehlerbehafteten Wahlbezirken auch 104 weitere, an sich wahlfehlerfreie Wahlbezirke für ungültig zu erklären. Dies folge aus dem Umstand, dass Wahlbezirke mitunter über gemeinsame Briefwahlbezirke verknüpft seien.

Dabei verzichtete der Bundestag auf eine umfängliche Auswertung der nach Maßgabe von § 72 Abs. 1 BWahlO iVm Anlage 29 angefertigten Niederschriften. Soweit sie in den Blick genommen wurden habe sich gezeigt, dass die Niederschriften oftmals keine hinreichenden Informationsquellen darstellten. Von einem Schweigen der Niederschriften könne daher nicht auf das Nichtvorliegen von Wahlfehlern geschlossen werden. Vor diesem Hintergrund erschienen auch weitere Ermittlungen nicht zielführend. Stattdessen sollte das Geschehen iRd Bundestagswahl zügig und effizient einer Klärung zugeführt werden.

Wären die Niederschriften weiter ausgewertet worden, hätte dem Bundestag bekannt werden können, dass:

  • Wahlhandlungen in drei weiteren Wahlbezirken erst um 8:55, 8:59 bzw. 9:20 Uhr aufgenommen wurden.
  • es in vier weiteren Wahlbezirken zu Unterbrechungen mangels Stimmzetteln kam.
  • in einem bereits aus anderem Grund für ungültig erklärten Wahlbezirk nichtamtliche Stimmzettel verwendet wurden.
  • bis zu acht nicht für die Bundestagswahl wahlberechtigte Personen Stimmzettel einwerfen konnten.
  • es in vier weiteren Wahlbezirken zu Wartezeiten von über einer Stunde kam.

Ferner wurde erst nach der mündlichen Verhandlung bekannt, dass innerhalb des Wahlkreises 81 Wahlbriefe mit dem Ziel gleichmäßiger Arbeitsbelastung und beschleunigter Feststellung des Wahlergebnisses auf andere Briefwahlbezirke umverteilt wurden. Betroffen sind dabei 1080 Briefe aus für ungültig erklärten Bezirken.

Gegen den Beschluss des Bundestages erhebt die Bundestagsfraktion C Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Sie rügt die Rechtswidrigkeit des Beschlusses in verschiedener Hinsicht. Zunächst seien auch Wartezeiten als selbstständige Wahlfehler zumindest dann anzuerkennen, wenn diese daraus resultieren, dass die Auswahl und Ausstattung der Wahlräume nicht hinreichend darauf ausgerichtet war, die Wahl möglichst zu erleichtern. Auch die Zulassung zur Wahl teils weit nach 18 Uhr sei ein Wahlfehler. Insofern haben hier nicht mehr Personen gewählt, die gemäß § 60 S. 2 BWahlO „aus Platzgründen“, sondern aus Gründen der fehlerhaften Wahldurchführung um 18 Uhr in Warteschlagen vor dem Wahllokal warteten. Die Norm sei daher nicht anwendbar. Ganz grundsätzlich müsse ferner angenommen werden, dass es noch zu weiteren, unbekannt gebliebenen Wahlfehlern gekommen sei. Die Wahl habe an flächendeckenden und grundsätzlichen Problemen gelitten. Diese bis ins Letzte aufzuklären stehe auch entgegen, dass die Niederschriften die wahlprüfungsrelevanten Vorfälle nicht hinreichend ablesen ließen. Hier sei dann aber eine Darlegungslast des Staates anzunehmen. Mängeln der staatlichen Wahlorganisation und -dokumentation sei effektiv und auch präventiv entgegenzutreten. Alles andere schaffe nur Anreize, Wahlfehler schlecht/nicht aufzuzeichnen. Auch hinsichtlich der Mandatsrelevanz sei der Beschluss des Bundestags in zweifacher Hinsicht verfehlt. Zum einen habe der Bundestag einen grundsätzlich zu strengen Maßstab angelegt, der dem Umstand, dass es sich hier um besonders schwere, demokratiebelastende Wahlfehler handelte, nicht hinreichend Rechnung trage. Eine Wahlwiederholung über an sich und in ihrer Wirkung konkret festgestellte Wahlfehler hinaus sei mit Blick auf § 40 Abs. 3 BüWG auch nicht ohne (landesrechtliches) Beispiel. Auf der anderen Seite sei dort, wo nur hinsichtlich der Zweitstimme eine Mandatsrelevanz festzustellen ist, die Wahl auch nur diesbezüglich für ungültig zu erklären und zu wiederholen. Das folge aus dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs und widerspreche auch nicht § 44 Abs. 2 BWahlG.

Hat die Beschwerde der C-Fraktion Aussicht auf Erfolg? Es ist davon auszugehen, dass der Beschluss des Bundestages nicht zu beanstanden ist, soweit im Sachverhalt nichts vorgetragen ist.

C.   Die Entscheidung (leicht abgewandelt)

Die Beschwerde der C-Fraktion hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie begründet ist.

I.   Zulässigkeit

Die Beschwerde ist zulässig, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen.

(zum Prüfungsaufbau und den Voraussetzungen im Einzelnen s. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Auflage 2020, § 36).

1.   Zuständigkeit des BVerfG

Die Wahlprüfung ist zunächst Sache des Bundestags (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG). Gegen dessen Entscheidung ist jedoch die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 41 Abs. 2 GG iVm §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG vorgesehen. Insofern besteht eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts.

2.   Beschwerdeberechtigung

Die C-Fraktion ist als solche gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG beschwerdeberechtigt.

Hinweis: Eine subjektive Betroffenheit iS zumindest der Möglichkeit der Verletzung subjektiver Rechte von BeschwerdeführerInnen bedarf es bei der Beschwerde gegen die Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl nicht. Etwas anderes gilt jedoch, wenn gerade die Feststellung einer subjektiven Rechtsverletzung begehrt wird (BVerfGE 160, 129 (138 f.); Walter, in: Walter/Grünewald, BVerfGG, 15. Ed. 01.06.2023, § 48 Rn. 21).

3.    Beschwerdegegenstand

Die C-Fraktion wendet sich gegen den Beschluss des Bundestages vom 10.11.2022, mit dem die Bundestagswahl in Berlin teilweise für ungültig erklärt wurde. Damit besteht ein zulässiger Beschwerdegegenstand gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG.

4.   Form, Frist

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten seit der Beschlussfassung schriftlich erhoben und begründet worden, sodass die Form- und Fristanforderungen gemäß §§ 23 Abs. 1, 48 Abs. 1 BVerfGG gewahrt sind.

5.    Rechtsschutzbedürfnis

Die C-Fraktion ist auch rechtsschutzbedürftig.

Hinweis: Das Bundesverfassungsgericht betrachtet eine Wahlprüfungsbeschwerde mit Ablauf der Legislaturperiode grundsätzlich für erledigt (BVerfGE 22, 277 (280 f.); 34, 201 (203)). Ausnahmsweise entscheidet es jedoch auch danach noch in der Sache, wenn ein entsprechendes öffentliches Interesse besteht. Die (zulässige) Beschwerde ist von daher zwar eine Voraussetzung für die Befassung des Bundesverfassungsgerichts, hat allerdings nur eine Anstoßfunktion (BVerfGE 122, 304 (305 ff.); zum Ganzen Misol, in: Barczak, BVerfGG, 1. Aufl. 2018, § 48 Rn. 56 ff.).

6.   Zwischenergebnis

Die Beschwerde ist zulässig (Rn. 101).

II.    Begründetheit

Die Beschwerde müsste begründet sein. Das ist der Fall, soweit der gegenständliche Beschluss des Bundestages formell oder materiell rechtswidrig ist.

„Die Wahlprüfung dient der Feststellung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Parlaments und dem Schutz des subjektiven Wahlrechts der Bürgerinnen und Bürger […]. Sie ist zunächst Sache des Deutschen Bundestages“ (Rn. 103).

„Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig (Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 BVerfGG). Dieses überprüft den angegriffenen Beschluss des Bundestags in formeller und materieller Hinsicht (vgl. BVerfGE 89, 243 <249>; 121, 266 <289>). Zudem hat das Gericht, insoweit über den Prüfungsumfang der Wahlprüfungsentscheidung des Deutschen Bundestags hinausgehend (vgl. BVerfGE 160, 129 <145 Rn. 47>), die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Vorschriften zu prüfen, sofern es darauf ankommt […]. Es ist nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt, hat aber die Entscheidungsspielräume zu beachten, die das einfache Recht dem Deutschen Bundestag einräumt“ (Rn. 109).

Maßgeblich sind damit regelmäßig die Normen des WahlPrüfG, des BWahlG, der BWahlO und die Wahlgrundsätze nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (Morlok in Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 41 Rn. 15).

1.   Formelle Rechtswidrigkeit

Der Beschluss des Bundestags könnte formell rechtswidrig sein. Insofern könnte die Entscheidung, die Niederschriften zur Bundestagswahl nicht auszuwerten, einen Verfahrensfehler darstellen. Die Wahlprüfung des Bundestags steht zwischen Anfechtungs- und Offizialprinzip. Er wird nur tätig, wenn und soweit die Gültigkeit der Wahl mit einem Einspruch gemäß § 2 WahlPrüfG gerügt wurde, ist dann aber verpflichtet, den so umrissenen Anfechtungsgegenstand von Amts wegen zu erforschen und alle dabei auftauchenden rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen (BVerfGE 66, 369 (378 f.)). Hier könnte es zu der gebotenen Sachverhaltsaufklärung gehört haben, die im Zuge der Durchführung der Wahl angefertigten Niederschriften umfänglich zu durchleuchten.

Dagegen wird vorgetragen, die Niederschriften seien nicht verwertbar gewesen. Die nach einem bestimmten Muster (§ 72 Abs. 1, Anlage 29 BWahlO) erstellten Niederschriften seien lückenhaft und die Gestaltung der Anlage 29 BWahlO nicht hinreichend auf die hier im Raum stehenden Wahlfehler ausgerichtet. Doch

„auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass aus dem Schweigen der Niederschriften auf das Nichtvorliegen von Wahlfehlern geschlossen werden kann (vgl. BTDrs. 20/4000, S. 57), ist es umgekehrt nicht ausgeschlossen, dass die Durchsicht der Niederschriften zur Feststellung des Vorliegens weiterer Wahlfehler geführt hätte. Bei einer Auswertung der Niederschriften hätte die Möglichkeit bestanden, einzelne, bisher nicht erfasste wahlfehlerrelevante Vorgänge aufzudecken“ (Rn. 126).

Indem der Bundestag die Niederschriften nicht auswertete, sah er in nicht verfahrensfehlerfreier Weise von weiteren Ermittlungen ab (vgl. § 5 Abs. 3 WahlPrüfG). Der Beschluss des Bundestages ist dahingehend formell rechtswidrig, mangels entgegenstehender Hinweise ansonsten rechtmäßig. Soweit im Weiteren auf die vom Bundestag nicht hinreichend berücksichtigten Niederschriften zu rekurrieren sein mag, ist es dem Bundesverfassungsgericht unbenommen entsprechende Ermittlungen zur Aufklärung des tatsächlichen Wahlgeschehens selbst anzustellen (Rn. 129 f.).

2.    Materielle Rechtswidrigkeit

Der Beschluss des Bundestags könnte materiell rechtswidrig sein. Das ist dann der Fall, wenn Wahlfehler nicht oder fälschlicherweise festgestellt, deren Mandatsrelevanz fehlerhaft beurteilt oder eine falsche Rechtsfolge bestimmt wurde (vgl. Rn. 131).

a)   Wahlfehler

Fraglich ist, ob der Bundestag das Vorliegen von „Wahlfehlern“ richtig bewertet hat.

„Ein Wahlfehler liegt immer dann vor, wenn die Regelungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung (vgl. BVerfGE 130, 212 <224>) und die diese prägenden Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt sind. Daneben können Verstöße gegen sonstige Vorschriften einen Wahlfehler begründen, soweit sie mit einer Wahl in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Relevant sind alle Normwidrigkeiten, die den vom Gesetz vorausgesetzten regelmäßigen Ablauf des Wahlverfahrens zu stören geeignet sind. Diese können während der Wahlvorbereitung […], der Wahlhandlung […] und bei der Feststellung des Wahlergebnisses auftreten. Lediglich Sachverhalte, die bei Gelegenheit einer Wahl auftreten, ohne in einem auch nur mittelbaren Bezug zum Wahlvorgang und dessen Ergebnis zu stehen, sind zur Begründung eines Wahlfehlers ungeeignet (Rn. 141)“.

Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht nicht nur, ob die wahlrechtlichen Vorschriften zutreffend angewandt worden sind, sondern auch, ob sie mit den Vorgaben der Verfassung im Einklang stehen (Rn. 134). Bei Unaufklärbarkeit ist vom Nichtvorliegen eines Wahlfehlers auszugehen (Rn. 279).

(1)   Wahlvorbereitung
(a)   Auswahl und Ausgestaltung der Wahlräume

Wahlfehler könnten in der Auswahl und Einrichtung der Wahlräume unterlaufen sein. Weder das BWahlG, noch die BWahlO machen konkrete Vorgaben zu der Zahl von Wahlkabinen. Der Wahlraum soll jedoch gemäß § 46 Abs. 1 S. 3 BWahlO nach den örtlichen Verhältnissen so ausgewählt und eingerichtet werden, dass allen Wahlberechtigten, insbesondere Menschen mit Behinderungen und anderen Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen, die Teilnahme an der Wahl möglichst erleichtert wird. Dahinter steht auch die Verwirklichung der Wahlgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Dies könnte vorliegend in der Vorsehung der Wahlkabinenzahl missachtet worden sein, indem den Umständen der konkreten Wahl nicht hinreichend Rechnung getragen wurde.

Die Landeswahlleitung gab zur Orientierung einen idealtypischen Aufbau eines Wahllokals mit zwei Wahlkabinen aus. Bei einer Wahlzeit von 10 Stunden (8 bis 18 Uhr, § 47 Abs. 1 BWahlO), 2256 Wahllokalen und 2.468.919 Wahlberechtigten stünden so selbst bei einer realistisch prognostizierten Wahlbeteiligung von 75 % und der Annahme einer Briefwahlbeteiligung von 50 % nur 2,9 Minuten Bruttozeit (Herantreten bis Verlassen der Wahlkabine) pro Person bei zwei Wahlkabinen je Wahllokal, 4,4 Minuten bei drei Wahlkabinen je Wahllokal zur Verfügung. Dem steht – durch das Zusammenfallen der Bundestagswahl mit der Wahl zum Abgeordnetenhaus, der Bezirksverordnetenversammlung und einem Volksentscheid – die Abgabe von bis zu sechs Stimmen auf fünf inhaltlich und gestalterisch verschiedenen Stimmzetteln gegenüber. Im Vergleich zu 2017 verdoppelten sich damit die maximal abzugebenden Stimmen, während die Zahl der Wahlbezirke nur um knapp 27 % erhöht wurde. Hinzu kommt die unterschiedliche Größe des Einzugsbereichs der Wahllokale. Je nachdem konnte sich die zur Verfügung stehende Zeit noch verkürzen. Aus alldem ergibt sich, dass

„keine tragfähigen Überlegungen angestellt oder umgesetzt [wurden], wie der einzelne Wahlraum eines jeden Wahlbezirks für die absolute Zahl oder jedenfalls die Zahl der zu erwartenden Wahlberechtigten unter den Bedingungen einer Mehrfachwahl mit sechs Entscheidungsmöglichkeiten auf fünf inhaltlich verschiedenen und unterschiedlich gestalteten Stimmzetteln auszustatten gewesen wäre“ (Rn. 182).

Damit wurde schon in der Wahlvorbereitung gegen § 46 Abs. 1 S. 3 BWahlO verstoßen (Rn. 157 ff., 181 ff.).

Hinweis: Denkbar ist es, an dieser Stelle auch schon auf das Geschehen am Wahltag selbst Bezug zu nehmen und zu erörtern, ob und wo dies Rückschlüsse auf Wahlfehler in der Vorbereitung zulässt, die der Einschätzung des Bundestages widersprechen. Dann müssten freilich sämtliche Ausführungen zur Wartezeit und Stimmabgabe nach 18 Uhr auch schon hier angebracht werden (vgl. u. C) II. 2. a) (2) (e), (f)).

(b)   Übergabe von Stimmzetteln

Die Gemeindebehörde übergibt gemäß § 49 Nr. 3 BWahlO den Wahlvorstehern eines jeden Wahlbezirks vor Beginn der Wahlhandlung amtliche Stimmzettel in genügender Zahl. Diese Vorgabe kann nicht zugunsten anderweitiger Überlegungen logistischer Effizienz der Nachlieferung von Stimmzetteln nach Bedarf über den Wahltag hinweg überwunden werden. Aus den Niederschriften gehen vier von dem Beschluss des Bundestages nicht erfasste Fälle verschiedener Urnenwahlbezirke aus drei Wahlkreisen hervor, in denen im Verlauf des Tages die Stimmzettel ausgingen. Auch insofern liegen Wahlfehler vor (Rn. 187).

(2)   Wahlhandlung
(a)   Aushändigung von Stimmzetteln anderer Wahlkreise

Wird mit einem Stimmzettel, der für einen anderen Wahlkreis gültig ist, gewählt, so ist die Erststimme gemäß § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 2 Hs. 2 BWahlG ungültig. Vorliegend sind 495 derartige Fälle und damit Wahlfehler dokumentiert (Rn. 191).

(b)   Unterbrechungen der Wahlhandlung

Wird das Wahllokal während der Wahlhandlung (vgl. § 31 S. 1 BWahlG, § 54 BWahlO) oder Ermittlung des Ergebnisses (vgl.§§ 67, 54 BWahlO) vorübergehend geschlossen, stellt dies einen Verstoß gegen die Öffentlichkeit der Wahl und damit einen Wahlfehler dar (Rn. 164). Von der Schließung des Wahllokals sind bloße Unterbrechungen bei fortbestehender öffentlicher Zugänglichkeit zu unterscheiden. Insofern dauert die Wahl gemäß § 47 Abs. 1 BWahlO jedoch von 8 bis 18 Uhr. Unterbrechungen, verspätete Öffnungen oder verfrühten Schließungen führen daher zu Wahlfehlern (Rn. 161, 194).

In den Niederschriften dokumentiert sind drei Fälle der Aufnahme von Wahlhandlungen in Urnenwahlbezirken um 8:55 Uhr, 8:59 Uhr und 9:20 Uhr und weitere vier Fälle von Unterbrechungen mangels Stimmzetteln (s.o.) und damit Verstöße gegen § 47 Abs. 1 BWahlO, die im Beschluss des Bundestages keine Berücksichtigung finden und so über ihn hinausgehend als Wahlfehler festzustellen sind (Rn. 212 ff.).

(c)   Verwendung anderer als amtlicher Stimmzettel

Zu wählen ist zwingend mit amtlichen Stimmzetteln (§ 34 Abs. 1 BWahlG, § 56 Abs. 1, 6 S .1 Nr. 6 BWahlO), sodass die Verwendung von anderem einen Wahlfehler begründet. Ein solcher Verstoß konnte jedoch nur in einem, bereits aus einem anderen Grund für ungültig erklärten Fall festgestellt werden (Rn. 196).

(d)   Zulassung nicht wahlberechtigter Personen

Gemäß § 56 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 BWahlO ist zurückzuweisen, wer nicht in das Wählerverzeichnis eingetragen ist und keinen Wahlschein besitzt. Aus den Niederschriften geht hervor, dass in bis zu acht Fällen Personen, die zwar für die Bezirksverordnetenversammlung (vgl. §§ 1, 22a LWahlG Berlin), nicht aber für die Bundestagswahl (vgl. § 12 BWahlG) wahlberechtigt waren, einen Stimmzettel für letztere erhalten und eingeworfen haben. Dahingehend sind Wahlfehler festzustellen (Rn. 162, 197).

(e)   Wartezeiten

Fraglich ist, ob – zumindest ab einer gewissen Schwelle – Wartezeiten als solche einen Wahlfehler begründen können.

Hierfür spricht, dass unzumutbar lange Wartezeiten Wahlberechtigte von der Ausübung des Wahlrechts abhalten können und zwar nicht erst beim Anstellen in der Warteschlange, sondern bereits bei der Annäherung an das Wahllokal, beim Sichtbarwerden der Warteschlange oder durch Bekanntwerden von Informationen über Wartezeiten über persönliche Kontakte oder Medien (Rn. 199).

Jedoch machen weder das BWahlG, noch die BWahlO

„Vorgaben zum Umfang einer zumutbaren Wartezeit. Aus der Formulierung ,möglichst erleichtern‘ in § 46 Abs. 1 Satz 3 BWahlO lässt sich eine bestimmte zumutbare Wartezeit nicht entnehmen“ (Rn. 163).

Auch aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG folgt nicht das Recht, die eigene Stimme

„am Wahltag jederzeit an jedem Ort ungehindert abgeben zu können, sondern nur die gleiche Möglichkeit zur Stimmabgabe für jeden Wahlberechtigten. Die Unwägbarkeit eines gleichzeitigen Zustroms einer Vielzahl von Wahlberechtigten zur selben Zeit kann für alle betroffenen Personen mehr Wartezeit mit sich bringen, ohne dass dadurch ein Wahlfehler begründet wird“ (Rn. 163).

Wartezeiten als solche sind daher keine Wahlfehler. Daraus folgt hingegen noch nicht, dass diese für die Feststellung von Wahlfehlern gänzlich unbeachtlich sind. Insofern ist zu differenzieren, ob eine Wartezeit nur das Resultat eines punktuellen, außerordentlich großen Andrangs oder einer unzureichenden Planung und Vorbereitung ist (Rn. 163).

„Besonders lange Wartezeiten indizieren […] regelmäßig eine unzureichende Ausstattung der Wahlräume mit Wahlkabinen und/oder Stimmzetteln und damit das Vorliegen eines Verstoßes gegen § 46 Abs. 1 Satz 3, § 49 Nr. 3 BWahlO. Als zeitliche Grenze dürfte dabei – unter Berücksichtigung des Umstands, dass in Berlin bis zu sechs Stimmen auf fünf unterschiedlichen Stimmzetteln abgegeben werden konnten – eine Wartezeit ab einer Stunde anzusehen sein. Kürzere Wartezeiten dürfte eine vergleichbare Indizwirkung nicht zukommen, da nicht auszuschließen ist, dass trotz einer für den reibungslosen Ablauf der Wahl grundsätzlich ausreichenden Ausstattung eines Wahllokals aufgrund eines punktuell hohen Andrangs zeitweise Wartezeiten bis zu einer Stunde entstehen können. Überschreitet die Wartezeit aber den Zeitraum von einer Stunde, dürfte dies nicht mehr mit dem besonderen Andrang während sogenannter Stoßzeiten erklärbar sein, sodass von einer unzureichenden Ausstattung des betreffenden Wahllokals auszugehen ist“ (Rn. 201).

Dies zugrunde gelegt ist festzustellen, dass – von dem Beschluss des Bundestages nicht erfasst – in vier Urnenwahlbezirken aus drei Wahlkreisen Wartezeiten von jeweils über einer Stunde aus den Niederschriften hervorgehen, sodass das Vorliegen von Wahlfehlern gemäß §§ 46 Abs. 1 S. 3, 49 Nr. 3 BWahlO anzunehmen ist (Rn. 212 ff.).

Andererseits lies der Bundestag in einem Fall bereits eine Wartezeit von 30 Minuten, in einem anderen Fall unbenannt lange Wartezeiten und nicht näher beschriebene „chaotische Zustände“ und in einem dritten Fall Warteschlangen aus „mehreren Dutzend Leuten“ ohne weitere Angaben genügen, um für die entsprechenden Wahlbezirke das Vorliegen von Wahlfehlern anzunehmen. Aus dem Gesagten folgt, dass dies nicht aufrechterhalten werden kann (Rn. 225 ff.).

(f)   Stimmenabgabe nach 18 Uhr

Die Stimmenabgabe nach 18 Uhr könnte einen Wahlfehler darstellen. Gemäß § 47 Abs. 1 BWahlO dauert die Wahl von 8 bis 18 Uhr. Eine spätere Wahlhandlung verstößt grundsätzlich gegen diese Vorschrift. Jedoch sieht § 60 S. 2 BWahlO vor, dass auch nach Ablauf der Wahlzeit zuzulassen ist, wer vor Ablauf der Wahlzeit erschienen und sich im Wahlraum oder aus Platzgründen davor befindet. Fraglich ist jedoch, ob derartige Fälle hier angenommen werden können. Zum Teil waren um 18 Uhr noch lange Warteschlangen vor den Wahllokalen festzustellen. Zumindest denkbar erscheint der Standpunkt, dass diese Personen sich nicht „aus Platzgründen“, sondern aufgrund von Wahlfehlern vor dem Wahllokal befanden. Die Ausnahme des § 60 S. 2 BWahlO wäre damit nicht einschlägig, die Zulassung entsprechender WählerInnen ein Verstoß gegen § 47 Abs. 1 BWahlO (Rn. 53). Ein derart enges Verständnis von § 60 S. 2 BWahlO iSe Kausalitätsprüfung des Anstehens vor dem Wahllokal geht aus der Norm jedoch nicht hervor.

„Die Formulierung ,aus Platzgründen davor‘ in § 60 Satz 2 BWahlO nimmt Bezug auf die räumlichen Gegebenheiten im Wahllokal, die dazu führen können, dass ein Wahlberechtigter nicht in dem, sondern vor dem Wahlraum warten muss. […] Ein Warten aus Platzgründen vor dem Wahlraum ist anzunehmen, wenn die räumliche Kapazität des Wahllokals erschöpft ist. Entscheidend setzt § 60 Satz 2 BWahlO voraus, dass die betroffene Person ,vor Ablauf der Wahlzeit‘ erschienen ist. Dies ist der Fall, wenn sie vor 18 Uhr am Wahllokal eingetroffen ist“ (Rn. 167).

„Auch eine Stimmabgabe nach 18 Uhr begründet als solche […] keinen Wahlfehler. Ein solcher liegt grundsätzlich nur dann vor, wenn die Wahlberechtigten nicht rechtzeitig vor dem Ablauf der Wahlzeit erschienen und trotzdem zur Wahl zugelassen worden sind. Derartige Fälle sind nicht ersichtlich. Davon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit Öffnungszeiten der Wahllokale über das Ende der Wahlzeit hinaus als ausreichendes Indiz für das Vorliegen sonstiger Wahlfehler angesehen werden können. […] Die Öffnung eines Wahllokals über 18:30 Uhr hinaus setzt voraus, dass zum Zeitpunkt des Endes der Wahlzeit um 18 Uhr eine nicht geringe Zahl an Wahlberechtigten zwar am Wahllokal eingetroffen ist, aber an der Wahl noch nicht teilnehmen konnte. […] Es liegt nahe, in diesem Fall einen Verstoß gegen § 46 Abs. 1 Satz 3, § 49 Nr. 3 BWahlO anzunehmen. Deshalb wird im Folgenden davon ausgegangen, dass eine Verlängerung der Öffnungszeiten eines Urnenwahllokals über 18:30 Uhr hinaus das Vorliegen eines Wahlfehlers indiziert“ (Rn. 202 ff.).

Über den Beschluss des Bundestags hinaus ist demnach festzustellen, dass in je zwei Wahlbezirken aus zwei Wahlkreisen Wahlhandlungen erst zwischen 18:31 Uhr und 19:40 Uhr endeten. Ein Verstoß gegen §§ 46 Abs. 1 S. 3, 49 Nr. 3 BWahlO ist somit indiziert (Rn. 212 ff.).

(g)   Veröffentlichung von Prognosen um 18 Uhr trotz geöffneter Wahllokale

Ein Wahlfehler könnte auch in einem Verstoß gegen § 32 Abs. 2 BWahlG vorliegen, indem um 18 Uhr eine erste Prognose des Wahlergebnisses veröffentlicht wurde, obwohl noch in diversen Wahllokalen Wahlhandlungen durchgeführt wurden. Danach ist die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig. Das „Ende der Wahlzeit“ ist jedoch nach § 47 Abs. 1 BWahlO auf 18 Uhr bestimmt, sodass sich auch § 32 Abs. 2 BWahlG dahin richtet. Die Zulässigkeit von späteren Wahlhandlungen nach § 60 S. 2 BWahlO ist davon zu unterscheiden. Die Veröffentlichung der Prognose um 18 Uhr verstieß demnach nicht gegen § 32 Abs. 2 BWahlG. Zwar kann es hier zur Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl kommen, wenn einige WählerInnen ihre Stimmen bereits in Kenntnis erster Prognosen abgeben. Dies rechtfertigt sich jedoch im Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, sodass die Normen auch nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden sind (Rn. 168, 205).

Hinweis: Neben der Wahlgleichheit ist auch die Wahlfreiheit betroffen (Thum, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 32 Rn. 9).

(h)   Dokumentation

Mögen die Niederschriften aufgetretene Wahlfehler bei der Bundestagswahl 2021 nicht in der gewünschten Eindeutigkeit und Lückenlosigkeit dokumentiert haben, beruht dies nicht auf Verstößen gegen § 72 BWahlO, sodass dies selbst keine weiteren Wahlfehler begründet. Die Lückenhaftigkeit iSe bloßen Schweigens bildet auch keine Grundlage, um auf anderweitige Wahlfehler zu schließen (Rn. 170 ff., 230 f.).

(i)   Umverteilung von Wahlbriefen

Aus den §§ 74, 75 BWahlO folgt, dass Wahlbriefe briefwahlbezirksscharf und nicht nur wahlkreisscharf auszuzählen sind, sodass erfolgte Umverteilungen Wahlfehler begründen (Rn. 291).

Zwar hat sich der Bundestag mit diesen Vorgängen der Umverteilung nicht befasst, maßgeblich ist jedoch für die Zugänglichkeit eines Sachverhalts für das Bundesverfassungsgericht nicht, ob der Bundestag ein Vorkommnis als Wahlfehler gewertet hat, sondern ob dieser zu dem Gegenstand der Entscheidung des Bundestags gehört (Rn. 134).

(3)   Zwischenergebnis

Der Bundestag hat die in Betracht kommenden Wahlfehler weitgehend zutreffend bestimmt, hat jedoch die Wahlfehlerhaftigkeit in 15 Urnenwahlbezirken übersehen und ist bezüglich drei Urnenwahlbezirken fälschlicherweise zu dem Ergebnis des Vorliegens von Wahlfehlern gekommen (Rn. 131, 210). Ferner sind die Wahlfehler im Zusammenhang mit der Umverteilung von Wahlbriefen in Wahlkreis 81 in dem Beschluss nicht zur Geltung gekommen (Rn. 289).

b)   Mandatsrelevanz

Die Wahlfehler müssten mandatsrelevant sein, um eine Auswirkung auf die Gültigkeit der Wahl zu haben. Andernfalls könnte nur eine (subjektive) Rechtsverletzung festgestellt werden (§ 48 Abs. 3 BVerfGG). Mandatsrelevant ist ein Wahlfehler, wenn er Einfluss auf die Verteilung der Sitze im Parlament haben kann. Eine bloß theoretische Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs genügt dafür nicht. Vielmehr muss es sich im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung um eine konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit handeln, dass sich ein Wahlfehler entsprechend ausgewirkt hat (Rn. 235).

(1)   Zweitstimmenergebnis

Der Bundestag nahm an, dass die bereits von ihm festgestellten Wahlfehler in 327 Wahlbezirken mandatsrelevant bezüglich des Zweitstimmenergebnisses waren. Dafür könnte sprechen, dass die SPD landesweit nur 802 weitere Stimmen benötigt hätte, um einen zusätzlichen Sitz im Bundestag zu erlangen. So könnte es nahe liegen,

„dass die mehr als einstündigen Wartezeiten, die Unterbrechungen der Wahlhandlungen, die verspäteten Öffnungen beziehungsweise die vorübergehenden oder vorzeitigen Schließungen von Wahllokalen dafür ursächlich waren, dass Wahlberechtigte nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben“ (Rn. 246).

Ebenso könnte es dann nahe liegen, dass sich in dieser Gruppe von Nichtwählenden 802 Personen finden ließen, die andernfalls ihre Zweitstimme für die SPD abgegeben hätten. Eine Mandatsrelevanz wäre so bereits auf Grundlage der vom Bundestag festgestellten Wahlfehler festzustellen (Rn. 246).

Fraglich ist jedoch, ob derartige Erwägungen eines potenziellen Wahlverhaltens von NichtwählerInnen zulässig sind. So ist zumindest theoretisch denkbar, dass sämtliche Wahlberechtigte, die von den Wahlfehlern betroffen sein konnten, sich ohnehin dafür entschieden hatten der Wahl fernzubleiben oder niemand von ihnen die SPD hätte wählen wollen. Eine Voraussage des hypothetischen Wahlverhaltens iRd Wahlprüfung könnte dann gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 S. 2 GG) verstoßen. So könnte es gerade dem Wesen der regelmäßig wiederkehrenden Wahlen zum Erhalt der demokratischen Legitimation der Abgeordneten gegenüber dem Volk und der damit verbundenen Möglichkeit der Wählenden, ihre Wahlentscheidung bei jeder Wahl zu erneuern oder zu verändern, entsprechen, dass sich das Stimmverhalten im demokratischen Prozess jeder verfassungsrechtlich tragfähigen Voraussage entzieht (VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70 (79); Rn. 243).

Andererseits ist aufzuklären, welches Auswirkungen Wahlfehler auf das Wahlergebnis gehabt haben können.

„Es entspricht nicht der Lebenswirklichkeit anzunehmen, dass die Stimmen aller Wählerinnen und Wähler, die aufgrund von nicht parteibezogenen Wahlfehlern an einer Wahl nicht oder nicht unbeeinflusst teilgenommen haben, nur auf eine Partei entfallen wären. Dem Verfassungsgerichtshof ist zwar zuzugestehen, dass eine exakte Übertragung der Wahlergebnisse oder Prognosen auf die Gruppe der Nichtwählerinnen und Nichtwähler nicht in Betracht kommt. Vielmehr ergeben sich daraus nur Orientierungspunkte, die in die Bewertung der Wahrscheinlichkeit der Auswirkung eines Wahlfehlers auf die Zusammensetzung des Parlaments einfließen können. Bei der Prüfung, ob nach der allgemeinen Lebenserfahrung die konkrete Möglichkeit einer Beeinflussung der Mandatsverteilung durch den festgestellten Wahlfehler besteht, ist daher das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung der Wahlergebnisse, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen“ (Rn. 244).

Angesichts der geringen Zahl der benötigten Stimmen für die SPD, um eine Veränderung der Sitzverteilung herbeizuführen, kann schon auf Grundlage der vom Bundestag festgestellten Wahlfehler eine Mandatsrelevanz bezüglich der Zweitstimmen festgestellt werden. Das gilt erst recht mit Blick auf die vom Bundestag übersehenen und insofern als Bewertungsgrundlage hinzukommenden Wahlbezirke, in denen wegen verspäteten Öffnungen Wartezeiten, Unterbrechungen und späten Schließungen ebenfalls Wahlfehler anzunehmen sind und wird nicht durch den Wegfall von drei fälschlicherweise als wahlfehlerbehaftet einbezogenen Bezirken erschüttert. Die insoweit vom Bundestag festgestellten und übersehenen Wahlfehler sind damit mandatsrelevant für das Zweitstimmenergebnis (Rn. 246).

Etwas anderes könnte sich jedoch für die Wahlfehler der Zulassung nicht wahlberechtigter Personen ergeben.

„Insgesamt handelt es sich dabei um acht dokumentierte Fälle […]. Selbst wenn diese Personen alle zugunsten einer Landesliste gestimmt hätte und deren Gesamtstimmenzahl dementsprechend zu verringern wäre, hätte dies für die Sitzverteilung keine Bedeutung“ (Rn. 247).

Eine Mandatsrelevanz ist dahingehend zu verneinen.

Auch die Auszählung von Wahlbriefen in falschen Briefwahlbezirken, jedoch dem richtigen Wahlkreis, hat auf die Sitzverteilung im Bundestag keinen Einfluss, sodass auch diese Wahlfehler – für sich betrachtet – nicht mandatsrelevant sind (Rn. 303).

(2)   Erststimmenergebnis

Fraglich ist, inwieweit die festgestellten Wahlfehler auch für das Erststimmenergebnis mandatsrelevant sind. Das ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn die Stimmendifferenz zwischen den beiden am besten abschneidenden KandidatInnen größer ist als die Zahl der NichtwählerInnen. Damit kommt eine Mandatsrelevanz nur noch für die Wahlkreise 76, 77 und 80 in Betracht, wo es einer entsprechenden Stimmabgabe von 26 %, 19 %, respektive 46 % der NichtwählerInnen bedurft hätte, um eine Mandatsverschiebung herbeizuführen. Der Bundestag beurteilte hingegen nur in den ersten beiden Fällen die Wahlfehler für mandatsrelevant. Insofern ist zu erkennen, dass es nicht der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeit entspricht, dass sämtliche NichtwählerInnen dieser Wahlkreise nur aufgrund der aufgetretenen Wahlfehler von der Wahl ferngeblieben sind und knapp die Hälfte von ihnen auch für die Erstunterlegene gestimmt hätte. Das Ergebnis in den anderen beiden Wahlkreisen ist demgegenüber deutlich knapper. Hier erscheinen mandatsrelevante Verschiebungen hinreichend wahrscheinlich (Rn. 250).

Der Bundestag könnte so zu Recht zu dem Ergebnis gekommen sein, dass sich eine Mandatsrelevanz der Wahlfehler für die Erststimmenergebnisse auf die Wahlkreise 76 und 77 beschränkt. Zu einem anderen Ergebnis könnte jedoch führen, wenn für die vorliegende Frage kein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzulegen ist, sondern

„die Anforderungen an die Feststellung einer möglichen Beeinflussung der Sitzverteilung desto geringer ist, je schwerwiegender die Wahlfehler das Demokratieprinzip beeinträchtigen“ (Rn. 56).

Doch

„[d]em steht bereits entgegen, dass eine solche Absenkung der Anforderungen bei besonders schwerwiegenden Wahlfehlern letztlich zu einem Heranziehen von bloßen Vermutungen und damit zu einer weitgehenden Aufweichung des Grundsatzes der potentiellen Kausalität führen würde (vgl. Wischmeyer, JuS 2023, S. 286 <288>). Außer Betracht bleibt dabei ferner, dass primäres Ziel des Wahlprüfungsverfahrens die Feststellung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des gewählten Parlaments ist. Dies setzt die Feststellung voraus, dass sich die identifizierten Wahlfehler hierauf ausgewirkt haben können. Ein Wahlfehler kann den in einer Wahl zum Ausdruck gebrachten Volkswillen nur verletzen, wenn sich ohne ihn eine andere für die Mandatsverteilung relevante Mehrheit ergäbe (vgl. BVerfGE 29, 154 <165>). Wie schwer ein Wahlfehler wiegt, ist dafür ohne Belang. Auch ein schwerwiegender Wahlfehler, der sich auf die Zusammensetzung des Parlaments nicht ausgewirkt hat, rechtfertigt den Erfolg der Wahlprüfungsbeschwerde hinsichtlich der Gültigkeit der Wahl nicht“ (Rn. 236 f.).

Richtigerweise hat der Bundestag daher die Mandatsrelevanz für die Erststimmenergebnisse als auf Wahlkreise 76, 77 beschränkt erkannt.

c)   Rechtsfolge

Der Bundestag könnte rechtsfehlerhaft die Wahl teilweise für ungültig erklärt und die Wiederholungswahl in dem näher beschriebenen Umfang angeordnet haben. Aus dem hier gegenständlichen Beschluss geht hervor, es habe mandatsrelevante Wahlfehler in 327 Urnenwahlbezirken gegeben, mit denen weitere 104 Urnenwahlbezirke „verknüpft“ seien. Daher sei die Wahl in insgesamt 431 Wahlbezirken ungültig und in diesem Umfang zu wiederholen (Rn. 23 ff.; BTDrs. 20/4000, S. 19 ff.). Fraglich ist, ob damit die richtige Rechtsfolge gewählt wurde, die auf die sich ereigneten Wahlfehler zu folgen hat.

Grundsätzlich sieht § 44 Abs. 1 BWahlG vor, dass wenn die Wahl im Wahlprüfungsverfahren ganz oder teilweise für ungültig erklärt wird, sie nach Maßgabe der Entscheidung zu wiederholen ist. Die teilweise Ungültigkeit und Wiederholung der Wahl ist somit prinzipiell vorgesehen. Ein genauer Maßstab, nach dem zu einem solchen Ergebnis zu gelangen ist, geht aus dem einfachen Gesetz hingegen nicht hervor. Die Norm bedarf so der Auslegung im Lichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. Rn. 251 f.).

Auf der einen Seite steht die Legitimation des Bundestages. Diese erlangt er über den Wahlakt. Ist die Wahl in einer Weise fehlerhaft, die sich auf die Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt haben kann, so ist die demokratische Legitimation des Bundestages in diesem Maße beeinträchtigt. Auf der anderen Seite streitet jedoch auch ein aus dem Demokratieprinzip folgender Grundsatz des Bestandschutzes, soweit eine demokratische, fehlerfreie Wahl vorlag. Beides ist miteinander iRe Abwägung in einen Ausgleich zu bringen (Rn. 252).

„Der Eingriff in die Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muss also vor dem Interesse an deren Erhalt gerechtfertigt werden (vgl. BVerfGE 121, 266 <311 f.>; 123, 39 <87> m.w.N.). Die Ungültigerklärung der Wahl kommt deshalb nur in Betracht, wenn das Interesse an der Korrektur der mandatsrelevanten Wahlfehler im konkreten Fall nach Art und Ausmaß das Interesse am Bestand des gewählten Parlaments überwiegt (vgl. BVerfGE 121, 266 <311>). […] Dementsprechend unterliegt die Wahlprüfungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“ (Rn. 252 f.).

Insgesamt kommen so vier Möglichkeiten in Betracht, um auf festgestellte Wahlfehler zu reagieren: Die Ergebnisberichtigung, die teilweise Wahlwiederholung, die vollständige Wahlwiederholung und die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit unter Verweis auf überwiegende Bestandsinteressen (Sauer, Über Wahlfehlerfolgen, 17.11.2022, https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/ (letzter Abruf: 02.01.2024)). Dabei müssen sich Wahlfehler umso stärker ausgewirkt haben, je intensiver der wahlprüfungsrechtliche Eingriff ist. Fällt die Beeinflussung nicht ins Gewicht, kann die Wahl dadurch nicht ungültig werden. Die Ergebnisberichtigung geht der teilweisen, die teilweise der vollständigen Wahlwiederholung vor (Rn. 257).

(1)   Richtige Rechtsfolge dem Grunde nach

Die Rechtsfolge der teilweisen Ungültigkeit und entsprechenden Wiederholung der Wahl gemäß § 44 Abs. 1 BWahlG könnte zu beanstanden sein.

Insofern sind jedoch Wahlfehler festgestellt, die einige, aber im Einzelnen unwägbare Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben konnten. Die bloße Feststellung von Wahlfehlern oder die Berichtigung des Ergebnisses scheidet damit aus (vgl. Rn. 260).

Die Wahl ist somit jedenfalls zu wiederholen. Geboten sein könnte jedoch nicht die teilweise, sondern eine vollständige Wahlwiederholung. Dagegen spricht jedoch, dass die Wahl in einem Großteil der Wahlbezirke von den festgestellten Wahlfehlern unbeeinflusst verlief. Nach dem Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs muss sich eine Wiederholung auf die Wahlbezirke, -kreise oder Länder beschränken, in denen sich die Wahlfehler ausgewirkt haben. Etwas anderes könnte nur dann anzunehmen sein, wenn Wahlfehler so gewichtig sind, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint (Rn. 257). Die Wahlfehler betreffen jedenfalls (s.u. C) II. 2. a) (2)) unter 20 % der Urnenwahlbezirke. Das allein vermag die Wahl als Legitimationsgrundlage nicht zu erschüttern. Soweit § 40 Abs. 3 BüWG vorsieht, dass die gesamte Bürgerschaft neu zu wählen ist, wenn die Wiederholung für mehr als ¼ der Wahlberechtigten erforderlich wäre, kann zum einen von dem Bestehen einer solchen einfach-gesetzlichen Regelung noch nicht auf die verfassungsrechtliche Gebotenheit geschlossen werden. Jedenfalls wäre dieses Quorum im vorliegenden Fall nicht erreicht (Rn. 266, 281). Soweit neben den festgestellten Wahlfehlern weitere Vorkommnisse vorgetragen werden, die schon iRd Feststellung von Wahlfehlern nicht verifiziert werden konnten, kann ihnen auch nicht als bloße Vermutungen und rein spekulative Annahmen in diesem Rahmen eine Wahlgültigkeitsrelevanz zukommen (Rn. 279). Schließlich besteht die Funktion des Wahlprüfungsverfahrens auch nicht darin,

„etwaige Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung einer Wahl und damit ein etwaiges Organisationsverschulden der zuständigen Behörden zu sanktionieren. Vielmehr ist es darauf gerichtet, die ordnungsgemäße, der Legitimationsfunktion der Wahl genügende Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten. Dafür ist die Frage der Verantwortlichkeit für Organisationsmängel ohne Belang“ (Rn. 280).

Auch dahingehende Erwägungen können daher nicht zur Annahme einer „überschießenden Wiederholungswahl“ iSd Unerträglichkeit des Fortbestandes führen (Rn. 261; zur „überschießenden Wiederholungswahl“ siehe Sauer, Über Wahlfehlerfolgen, 17.11.2022, https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/ (letzter Abruf: 02.01.2024)).

Die teilweise Ungültigerklärung und entsprechende Wiederholung der Wahl gemäß § 44 Abs. 1 BWahlG ist dem Grunde nach die für die festgestellten Wahlfehler gebotene Rechtsfolge (Rn. 261).

(2)   Maß der Ungültigkeit, Wiederholung

Die Ungültigerklärung des Bundestages könnte jedoch im Maß fehlerhaft sein.

(a)   Ungültigkeit nach Wahlbezirken

Insofern beschränkte sich der Bundestag auf die Ungültigerklärung einzelner Urnenwahlbezirke. Zwar werden auch damit an sich von den Wahlfehlern nicht betroffenen Stimmabgaben ihre Geltung entzogen und infolge von Umzügen kann es hier im Ergebnis dazu kommen, dass Wahlberechtigte von dem Legitimationsakt der Wahl ausgeschlossen oder doppelt beteiligt werden (vgl. § 44 Abs. 2 S. 2 BWahlG, § 83 Abs. 4 S. 2 BWahlO). Mit der Ungültigerklärung auf der Ebene von Wahlbezirken ist jedoch schon die niedrigste gewählt worden. Die in diesem Rahmen auftretenden „Brüche“ sind bei einer Wiederholungswahl unausweichlich und daher hinzunehmen. (vgl. Rn. 255 f.) Eine Erstreckung der Ungültigkeit auf ganze Wahlkreise ist demgegenüber, wie auch die Ungültigkeit der Wahl in Berlin insgesamt, nicht mit dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs zu vereinbaren (s.o.; Rn. 277 ff.).

(b)   Erstreckung auf „verknüpfte“ Bezirke

Noch offen bleibt, wie zu bewerten ist, dass der Bundestag nicht nur diejenigen Wahlbezirke für ungültig erklärte, in denen mandatsrelevante Wahlfehler festgestellt wurden, sondern auch diejenigen,

„die mit den wahlfehlerbehafteten Urnenwahlbezirken als Briefwahlbezirke bzw. über einen gemeinsamen Briefwahlbezirk miteinander „verknüpft“ waren. Er ist davon ausgegangen, dass die Wähler eines Briefwahlbezirks mit den Wählern des dazu gehörenden Urnenwahlbezirks eine Gesamtheit bildeten, sodass bei der Ungültigerklärung der Wahl in einem Urnenwahlbezirk die Wahl auch in dem gemeinsamen Briefwahlbezirk und den weiteren, mit diesem Briefwahlbezirk verbundenen Urnenwahlbezirken zu wiederholen sei. Andernfalls bestünde die Gefahr doppelter Stimmabgabe oder einer Beeinträchtigung der Geheimheit der Wahl (vgl. BTDrs. 20/4000, S. 42). […] Durch die Erstreckung der Wahlwiederholung auf die zugehörigen Briefwahlbezirke und die damit verbundenen Urnenwahlbezirke wird die Gesamtheit der Wählerinnen und Wähler in dem von den mandatsrelevanten Wahlfehlern betroffenen Bereich in die Wahlwiederholung einbezogen. Dies gewährleistet, dass die Wahlfehler in einer den allgemeinen Wahlgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG entsprechenden Weise korrigiert werden können. Davon könnte bei einer Beschränkung der Wiederholungswahl auf die von Wahlfehlern betroffenen Urnenwahlbezirke nicht ohne Weiteres ausgegangen werden“ (Rn. 273).

Die Erstreckung auf derart verknüpfte Wahlbezirke ist daher nicht zu beanstanden (Rn. 273).

Gleiches muss dann aber auch dort gelten, wo eine Verknüpfung wahlfehlerhaft erfolgt ist, indem 1080 Wahlbriefe aus für ungültig erklärten Wahlbezirken des Wahlkreises 81 in an sich wahlfehlerfreie Briefwahlbezirke desselben Wahlkreises umverteilt wurden. Auch hier besteht die Möglichkeit der doppelten Stimmabgabe infolge der Gültigkeit der Briefwahl im aufnehmenden Bezirk und der Teilnahme an der Wiederholungswahl im ungültigen Bezirk in einer gewichtigen Zahl an Fällen (Rn. 293 ff.).

Hinweis: Im Originalfall ist es auch in anderen Wahlkreisen zur Umverteilung von Wahlbriefen am Wahltag gekommen. Der Senat entschied jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit der Umverteilung von Wahlbriefen gerade von ungültigen zu gültigen Bezirken (und umgekehrt) gering sei. Gleiches gelte dann für das Risiko einer Doppel- oder Nichtwahl, sodass das Bestandsinteresse gegenüber dem Korrekturinteresse überwiege (Rn. 301 ff.).

(c)   Wiederholungswahl als Zweistimmenwahl

Nicht überall, wo Wahlfehler mandatsrelevant für das Zweitstimmenergebnis wurden, ist auch eine Mandatsrelevanz hinsichtlich des Erststimmenergebnisses festzustellen (s.u. C) II. 2. b)). Denkbar ist, dass der Bundestag gegen das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs verstoßen hat, indem er anordnete, die Wahl durchgängig als Zweistimmenwahl zu wiederholen. Dagegen spricht jedoch, dass § 44 Abs. 2 BWahlG ausdrücklich vorsieht, dass die Wiederholungswahl nach denselben Vorschriften wie die Hauptwahl stattfindet. Dahingehend hat sich

„der Gesetzgeber für eine mit der Personenwahl verbundene[n] und daraus folgend für eine Zweistimmenwahl entschieden […] (vgl. u.a. § 1 Abs. 2 Satz 2, § 6 und § 30 Abs. 2 BWahlG). Der in § 4 Abs. 1 Satz 2 BWahlG vorgesehenen vorrangigen Berücksichtigung der erfolgreichen Wahlkreisbewerber und dem Verfahren der Zweitstimmendeckung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 4 BWahlG könnte bei einer Trennung von erst- und Zweitstimmenwahl nicht entsprochen werden“ (Rn. 286).

Die Anordnung einer durchgängigen Zweistimmenwahl ist somit rechtmäßig (Rn. 282; zu dieser Frage ausführlich Boehl, in: Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 44 Rn. 2).

(d)   Zwischenergebnis; Liste der ungültigen Wahlbezirke

Damit ist dem Ansatz des Bundestages zur Bestimmung des Ausmaßes der teilweisen Ungültigkeit der Wahl zu folgen. Zu beachten ist jedoch, dass Wahlfehler in 15 Urnenwahlbezirken übersehen und in 3 Urnenwahlbezirken fälschlicherweise festgestellt wurden. Die entsprechenden Wahlbezirke und die, die mit ihnen verknüpft sind, sind daher ebenfalls für ungültig zu erklären bzw. ihre Ungültigerklärung aufzuheben (Rn. 274 ff.). Ebenfalls ungültig sind diejenigen Briefwahlbezirke (und mit ihnen verknüpfte Urnenwahlbezirke), die umverteilte Wahlbriefe aus Wahlbezirken aufnahmen, deren Wahl für ungültig erklärt wurde (Rn. 300).

3.   Zwischenergebnis

Der Beschluss ist teilweise begründet (Rn. 101).

II.   Ergebnis

Die Wahlprüfungsbeschwerde hat teilweise Aussicht auf Erfolg (vgl. Rn. 101).

D.   Ausblick

Mag der dem Bundesverfassungsgericht gestellte Sachverhalt zu komplex und umfangreich sein, um ihn originalgetreu als (Examens-)Klausur zu stellen, ist die Examensrelevanz des Wahlrechts aktuell wohl kaum zu unterschätzen (siehe auch BVerfG, Urt. v. 29.11.2023 – 2 BvF 1/21, BeckRS 2023, 33683; BVerfG, Beschl. v. 25.01.2023 – 2 BvR 2189/22, NJW 2023, 2025; VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70; BGBl. I 2023 Nr. 147 v. 13.06.2023). Vor diesem Hintergrund kann es lohnen, in der Vorbereitung auf die Klausuren oder die mündliche Prüfung ein besonderes Augenmerk auf die Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und das Demokratieprinzip zu legen und auch gewisse Grundkenntnisse zur Wahlprüfungsbeschwerde mitzubringen.

Eine juristisch anspruchsvolle Problematik ist zwischen dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (VerfGH Berlin, Urt. v. 16.11.2022 – 154/21, NVwZ 2023, 70) und der hier besprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage nach einer überschießenden Wiederholungswahl aufgetan, die schnell zu solchen des Grundverständnisses von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 GG führt. Kann man noch davon sprechen, das Volk habe gewählt, wenn verschiedene Teile der Wahlberechtigten zu ganz verschiedenen Zeiten und beeinflusst von unterschiedlichen (politischen) Gegebenheiten ihre Stimmen abgegeben haben oder muss nicht dennoch anerkannt werden, dass zumindest ein Teil der WählerInnen wahlfehlerunbeeinflusst eine Entscheidung getroffen hat (siehe dazu Sauer, Über Wahlfehlerfolgen, 17.11.2022, https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/ (letzter Abruf: 02.01.2024))? Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage nicht abschließend beantwortet. Mit Blick auf die vollständige Wiederholung der Wahl des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen hat es vielmehr darauf verwiesen, dass schon die vom Verfassungsgerichtshof festgestellte Mandatsrelevanz im dortigen Fall viel weiter reiche und so keine Vergleichbarkeit der Sachverhalte bestehe (Rn. 268 f.).

09.01.2024/2 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2024-01-09 10:19:092024-02-09 11:09:17BVerfG zur teilweisen Ungültigerklärung und Wiederholung der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in Berlin
Dr. Marius Schäfer

Regierungsfindung – Wie geht es weiter mit Deutschland?

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Ausgangslage
Das Ergebnis der vergangenen Bundestagswahlen ist erst drei Tage alt, doch kristallisiert sich bereits jetzt heraus, dass es um eine Regierungsbildung nicht allzu gut bestellt ist: Der Bundeskanzlerin scheint ein williger Koalitionspartner zu fehlen, den sie angesichts der fehlenden fünf Sitze der Union zur absoluten Mehrheit benötigt. Eine Minderheitsregierung, mit der damit ständig verbundenen Suche nach wechselnden Mehrheiten, kommt von Unionsseite jedenfalls nicht in Frage. Doch wie geht es weiter und was steht Deutschland in den nächsten Tage, Wochen oder gar Monaten bevor? Grund genug jedenfalls aus staatsrechtlicher Sicht – auch im Hinblick auf eine Mündliche Prüfung – den derzeitigen Stand zu analysieren.
 
Geschäftsführung der Regierung
Während die Suche nach einer neuen Regierungskoalition beginnt, ruhen die Geschäfte der „alten“ Bundesregierung nicht, da die Bundesrepublik Deutschland weiterhin regierungsfähig bleiben muss. Auszugehen ist zunächst von Art. 39 II GG, nach dem der neu gewählte Bundestag spätestens 30 Tage nach der Wahl zu einer konstituierenden Sitzung zusammentreten muss. In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 69 II GG, dass das Amt des Bundeskanzlers sowie die Ämter der Bundesminister erst durch dieses Zusammentreten des neuen Bundestages enden. Der noch amtierende Bundestagspräsident Norbert Lammert hat bereits angekündigt, dass diese Übergangsfrist voll ausgeschöpft werden soll, sodass die erste Sitzung des 18. Deutschen Bundestages spätestens am 22. Oktober anzuberaumen wäre. Solange befinden sich jedenfalls die fünf FDP-Minister auf ihrer Abschiedstour. So verweilt Guido Westerwelle derzeit in New York, um Deutschland bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu repräsentieren.
Solange die Koalitionsverhandlung aber bis Ende Oktober zu keinem Ergebnis führt, und danach sieht es derzeit aus, gewährt Art. 69 III GG dem Bundespräsidenten die Möglichkeit, den Bundeskanzler und die Bundesminister zu verpflichten „die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen“. Dieser geschäftsführende Zustand wird auch als Interregnum (lat. für „Zwischenregierung“; Plural: Interregna) bezeichnet und ist zeitlich nicht limitiert, sodass der ein oder andere Experte bereits mit einer Übergangsphase bis zum Ende des Jahres rechnet. Es ist gut möglich, dass der bisher längste Zeitraum einer Übergangsregierung aus dem Jahre 1976 (insgesamt 73 Tage) überschritten wird.
 
Rechte der Opposition
Spekulativ sind zwar auch die Fragen über einen möglichen Koalitionspartner der Union, doch sollte man sich zumindest die staatsrechtlichen Konsequenzen vor Augen führen, sollte es eine aus CDU/CSU und SPD bestehende „Große Koalition“ geben. Diese Regierungskoalition bestände aus 503 Sitzen, was in etwa 80 % der insgesamt 630 Sitze entsprechen würde. Die Oppositionsparteien Grüne und Linke kämen im Gegensatz dazu auf lediglich 127 Sitze.
Auswirkungen hätte eine solche Konstellation auf bedeutende Minderheitsrechte der Opposition, der im Wesentlichen der Auftrag zukommt, die Regierung zu kontrollieren. Dazu gehören aber auch die Kritik sowie das Aufzeigen von Alternativen an den Gesetzesvorschlägen der Regierung.
Nach Art. 93 I Nr.2 GG und § 76 ff BVerfGG ist für die Antragsberechtigung eines abstrakten Normenkontrollantrages im Hinblick auf die Opposition erforderlich, dass dieser mindestens von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages gestellt wird. Damit sind jedenfalls 158 Parlamentarier erforderlich, welche Grüne und Linke nicht einmal annähernd alleine aufbringen könnten. Zudem erfordert auch die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses gemäß Art. 44 I GG den Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Die bedeutsame Stellung eines solchen Untersuchungsausschusses wurde in der Vergangenheit insbesondere im Falle des 1. Untersuchungsausschusses zum Luftangriff bei Kundus deutlich. Insofern würde äußerst fraglich bleiben, ob die Opposition im Falle einer Großen Koalition überhaupt in der Lage sein würde, ihrer demokratischen Rolle gerecht zu werden. Dies war nach den Bundestagswahlen im Jahre 2005 noch anders, als die Oppositionsparteien FDP, PDS und Grüne zusammen auf 166 von insgesamt 614 Sitzen kamen.
 
Ausblick
Angela Merkel wird einen der beiden potenziellen Koalitionspartner an ihre Verantwortung erinnern, zum Wohle der Bundesrepublik gemeinsam eine regierungsfähige Koalition zu bilden. Dass hier zähe und lange andauernde Verhandlungen bevorstehen, scheint vorprogrammiert zu sein. Dennoch sollte aber nicht vergessen werden, dass in unserem Verständnis von einer parlamentarischen Demokratie auch der Opposition ein bedeutender Beitrag zukommen soll und auch muss. Von daher muss sich die SPD überlegen, ob sie lieber an der Regierung beteiligt sein oder die Rolle der Oppositionsführung wahrnehmen möchte. Demgegenüber haben die Grünen die Wahl zwischen einer Regierungsbeteiligung oder der des Juniorpartners unter einem Oppositionsführer Gregor Gysi von der Linken, die im letzteren Fall sogar nach parlamentarischem Brauch den Vorsitz des Haushaltsausschusses innehaben würde. Unabhängig vom Ergebnis der Regierungsfindung verdeutlicht dieser Vorgang, wie sensibel aber auch spannend Politik und Staatsrecht miteinander verknüpft sind.
 

25.09.2013/3 Kommentare/von Dr. Marius Schäfer
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Marius Schäfer https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Marius Schäfer2013-09-25 12:30:532013-09-25 12:30:53Regierungsfindung – Wie geht es weiter mit Deutschland?
Dr. Stephan Pötters

Zur Gründung der „Alternative für Deutschland“: Wann darf eine Partei an Bundestagswahlen teilnehmen?

Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht, Verschiedenes, Verwaltungsrecht

An diesem Wochenende hat sich die „Alternative für Deutschland“ gegründet. Ihr erklärtes Ziel ist es an den kommenden Bundestagswahlen teilzunehmen. Aus wahlrechtlicher Sicht müssen dafür noch einige Hürden genommen werden. Diese sollen im Folgenden in kurzer Form dargestellt werden.
Voraussetzung für die Teilnahme an einer Bundestagswahl
Für die Wahlteilnahme von politischen Vereinigungen ist zunächst danach zu unterscheiden, ob es sich um solche handelt, die im Deutschen Bundestag oder einem Landtag seit deren letzter Wahl auf Grund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren („etablierte Parteien“) oder nicht („nicht-etablierte Parteien“). Zu differenzieren ist außerdem zwischen der Erst- und Zweitstimme.
Die nicht-etablierten Parteien können nach dem BWahlG dann Wahlvorschläge für Kandidaten unterbreiten, wenn sie die Voraussetzungen des § 18 BWahlG erfüllen. Maßgebend ist insb. Abs. 2 (zur sog. Beteiligungsanzeige):

(2) Parteien, die im Deutschen Bundestag oder einem Landtag seit deren letzter Wahl nicht auf Grund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können als solche einen Wahlvorschlag nur einreichen, wenn sie spätestens am siebenundneunzigsten Tage vor der Wahl bis 18 Uhr dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl schriftlich angezeigt haben und der Bundeswahlausschuß ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. In der Anzeige ist anzugeben, unter welchem Namen sich die Partei an der Wahl beteiligen will. Die Anzeige muß von mindestens drei Mitgliedern des Bundesvorstandes, darunter dem Vorsitzenden oder seinem Stellvertreter, persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein. Hat eine Partei keinen Bundesvorstand, so tritt der Vorstand der jeweils obersten Parteiorganisation an die Stelle des Bundesvorstandes. Die schriftliche Satzung und das schriftliche Programm der Partei sowie ein Nachweis über die satzungsgemäße Bestellung des Vorstandes sind der Anzeige beizufügen. Der Anzeige sollen Nachweise über die Parteieigenschaft nach § 2 Absatz 1 Satz 1 des Parteiengesetzes beigefügt werden.
Nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 BWahlG stellt der Bundeswahlausschuss spätestens am neunundsiebzigsten Tage vor der Wahl für alle Wahlorgane verbindlich fest, welche Vereinigungen, die ihre Beteiligung angezeigt haben, für die Wahl als Parteien anzuerkennen sind.

Landeslisten, über die bei Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde Bundestagsmandate entsprechend der Zweitstimmen vergeben werden, können gem. § 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG nur von Parteien eingereicht werden. Nach § 2 Abs. 1 ParteienG sind Parteien Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.
Die Landeslisten müssen von dem Vorstand des Landesverbandes oder, wenn Landesverbände nicht bestehen, von den Vorständen der nächstniedrigen Gebietsverbände, die im Bereich des Landes liegen, persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein. Außerdem müssen nicht-etablierte Parteien wie die AfD, die der Regelung des oben zitierten § 18 Abs. 2 BWahlG unterfallen, zusätzlich gem. § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG Unterschriften „von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, jedoch höchstens 2.000 Wahlberechtigten“ für die jeweilige Landesliste sammeln. Dies wird für die AfD sicherlich keine einfache Herausforderung.
Beschwerderecht bei Nichtzulassung
Gegen die Wahl zum Deutschen Bundestag kann durch einen Antrag beim BVerfG eine Wahlprüfungsbeschwerde erhoben werden, Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Art. 41 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG. Eine wichtige Zulässigkeitsvoraussetzung ist ein vorheriger Einspruch gegen die Wahl nach § 2 WahlPrG. Dieser Einspruch muss durch Beschluss des Bundestages nach § 13 WahlPrG abgelehnt worden sein.
Der Bundestag hat außerdem am 23.05.2012 eine Änderung mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen, nach der nun Parteien, die nicht zur Bundestagswahl vom Bundeswahlausschuss zugelassen sind, noch vor der Wahl den Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht beschreiten können (wir berichteten; s. hierzu auch den Beitrag auf der Homepage des BT).
Nach § 18 Abs. 4a S. 1 BWahlG kann eine Partei oder Vereinigung gegen die Feststellung des Bundeswahlausschusses nach § 18 Abs. 4 BWahlG (s.o.)  binnen vier Tagen nach Bekanntgabe Beschwerde beim BVerfG erheben. In diesem Fall ist die Partei oder Vereinigung gem. § 18 Abs. 4a S. 2 BWahlG von den Wahlorganen bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, längstens bis zum Ablauf des neunundfünfzigsten Tages vor der Wahl, wie eine wahlvorschlagsberechtigte Partei zu behandeln.
Weitere wichtige Problemstellungen aus dem Wahlrecht
Das Wahlrecht stand in letzter Zeit angesichts zahlreicher Entscheidungen des BVerfG und dadurch bedingter Reformen immer wieder im Fokus der Berichterstattung. Es ist daher im Moment besonders relevant für die mündliche Prüfung. Einige wichtige Themen sind u.a.:

  • Zum neuen Bundeswahlgesetz und der Vergrößerung des BT
  • Zum Wahlrecht von im Ausland lebenden Deutschen
  • Zur Verfassungswidrigkeit des (alten) BWahlG und möglichen Neuregelungen, s. hierzu auch diesen Beitrag
  • Zur Fünfprozenthürde bei Landtagswahlen
  • Zu Problemen der Wahlkreiseinteilung
  • Zur Fünfprozenthürde bei der Europawahl

15.04.2013/0 Kommentare/von Dr. Stephan Pötters
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Stephan Pötters https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Stephan Pötters2013-04-15 10:00:172013-04-15 10:00:17Zur Gründung der „Alternative für Deutschland“: Wann darf eine Partei an Bundestagswahlen teilnehmen?
Tom Stiebert

BVerfG: Verfassungswidrigkeit des Bundeswahlgesetzes

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Am gestrigen 25.07.2012 hat das BVerfG (2 BvF 3/11;- 2 BvR 2670/11; 2 BvE 9/11) (nicht zum ersten Mal) Regelungen des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt.
Eine sehr gute Zusammenfassung des Urteils findet ihr in der Pressemitteilung des BVerfG, die auch die einzelnen Kritikpunkte am Gesetz gut darstellt.
Das Wahlrecht ist offensichtlich ein absoluter Dauerbrenner des BVerfG in den letzten Jahren, sodass wir zunächst nur kurz auf unsere Beiträge hierzu hinweisen wollen: siehe zuletzt hier, vgl. ferner  hier, hier, hier, hier und hier.
Viel Neues bringt die Entscheidung des BVerfG nicht, sondern wiederholt vielmehr die bekannten Grundlagen des Wahlrechts. Dennoch sollen einige zentrale Aussagen nachfolgend kurz dargestellt werden. Meist sind diese aber so technisch, dass sie sich für eine Prüfung in der Klausur wenig eignen. Auch in einer mündlichen Prüfung ist eher davon auszugehen, dass Grundsätze des Wahlrechts (Art. 38 GG) geprüft werden und nicht die mathematischen Besonderheiten.
Zentraler Ansatzpunkt der Prüfung ist (erneut) der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Das BVerfG formuliert den Obersatz wie folgt:

„Grundanforderungen an alle Wahlsysteme ergeben sich insbesondere aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. Danach sind unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des Wahlverfahrens alle Wähler bei der Art und Weise der Mandatszuteilung strikt gleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 11, 351 <360>; 95, 335 <369>). Die Stimme eines jeden Wahlberechtigten muss grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben (vgl. BVerfGE 95, 335 <353, 369 f.>; 121, 266 <295>; 124, 1 <18>). Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen können (BVerfGE 121, 266 <295>).“

Fraglich ist, ob diese Gleichheit im jetzigen System gewahrt ist.
1. Verstoß des § 6 Abs. 1 Satz 1 BWahlG gegen Art. 38 GG
Nach dieser Norm ergibt sich der Anteil der Sitze für jedes Bundeslandes anhand des Verhältnisses zur Gesamtzahl der Stimmen. Das Land wird damit in voneinander abgetrennte Wahlkörper unterteilt. Eine solche Unterteilung ist auch grundsätzlich zulässig. Ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl ergibt sich allerdings durch die Möglichkeit des negativen Stimmgewichts:

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG verletzt die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien, soweit die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht. Ein Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl darf solche Effekte nur in seltenen Ausnahmefällen herbeiführen.

Nachfolgend wird erklärt, was darunter im Einzelnen zu verstehen ist:

Ein Sitzzuteilungsverfahren, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, widerspricht aber Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl (vgl. BVerfGE 121, 266 <299 f.>)
Das in § 6 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 BWG geregelte Sitzzuteilungsverfahren kann infolge der Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl dazu führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für Landeslisten einer Partei insofern negativ wirken, als diese Partei in einem anderen Land Mandate verliert oder eine andere Partei Mandate gewinnt. Umgekehrt ist es auch möglich, dass die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist. Dieser Effekt des negativen Stimmgewichts ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Aus diesem Grund verstößt diese Regelung gegen die Gleichheit der Wahl.
2. Verstoß des § 6 Abs. 2a BWahlG gegen Art. 38 GG
Eine schwer zu verstehende sehr technische Norm enthält § 6 Abs. 2a BWahlG. Diese neuaufgenommene Regelung sollte der Abmilderung von Ungleichheiten dienen und „Erfolgswertunterschiede unter den Landeslisten der Parteien, die aufgrund von Rundungsverlusten bei der Verteilung der Sitze in den 16 Sitzkontingenten entstehen“, durch die Vergabe weiterer Sitze (§ 6 Abs. 2a Satz 3 BWG) ausgleichen (vgl. BTDrucks 17/6290, S. 7 f., 15).
Vereinfacht gesagt summiert die Regelung „Bruchtteilssitze“ in den einzelnen Ländern auf und vergibt diese zusätzlich. Aufrundungsgewinne werden hingegen nicht entzogen. Dies führt zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen.

Die Regelung identifiziert nur einseitig die Abrundungsverluste der Landeslisten einer Partei in den 16 Ländern, summiert diese bundesweit auf und vergibt, soweit sich dabei ganzzahlige Sitzanteile ergeben, hierfür zusätzliche Sitze. Aufrundungsgewinne der Landeslisten einer Partei lässt die Regelung außer Betracht. Dies hat zur Folge, dass bislang ohne Stimmerfolg gebliebene Stimmen zwar unter Umständen mandatswirksam werden, die vergleichsweise größere Erfolgskraft der bislang übergewichteten Stimmen jedoch unverändert bestehen bleibt.

3. Verstoß des § 6 Abs. 5 BWahlG gegen Art. 38 GG
Schließlich verstößt auch § 6 Abs. 2 BWahlG gegen die Gleichheit der Wahl, da er Überhangmandate weiterhin ohne Ausgleich ermöglicht. Das BVerfG erklärt diesen Fall wie folgt:

Der Gesetzgeber hat in § 6 Abs. 5 Satz 1 BWG klargestellt, dass die im jeweiligen Land in den Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei verbleiben. Wird das Ziel des Verhältnisausgleichs durch den Rechenschritt nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG unvollständig erreicht, weil die Sitze, die einer Landesliste nach dem Verhältnis der Summen der Zweitstimmen zustehen, nicht ausreichen, um alle errungenen Wahlkreismandate abzuziehen, so erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze des Bundestages um die Unterschiedszahl (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWG); es entstehen Überhangmandate jenseits der proportionalen Sitzverteilung.

Eine generelle Unzulässigkeit von Überhangmandaten verneint das BVerfG, wenn es darlegt:

Diese Ungleichheit könne nur hingenommen werden, soweit sie notwendig sei, um das Anliegen der personalisierten Verhältniswahl zu verwirklichen; diese wolle zumindest für die Hälfte der Abgeordneten eine enge persönliche Bindung zu ihrem Wahlkreis gewährleisten (vgl. BVerfGE 7, 63 <74>; 16, 130 <139 f.>; 79, 169 <171>; 95, 335 <358>).

Das Anfallen von Überhangmandaten kann also gerechtfertigt sein, wenn es bei dem aktuellen Wahlrechtskonzept zwingend ist.

Die durch die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten bewirkte ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen ist durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl, dem Wähler im Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen, grundsätzlich gerechtfertigt. Der insoweit bestehende Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird allerdings durch den Grundcharakter der Bundestagswahl als eine Verhältniswahl begrenzt.

Diesbezüglich müssen allerdings Grenzen bestehen:

Das Erfordernis eines föderalen Proporzes zwischen den Landeslisten einer Partei untereinander rechtfertigt die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten nicht.
Die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen kann jedoch in begrenztem Umfang durch das besondere Anliegen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt werden.

Wie hoch dieser Umfang ist, kann aus dem Gesetz nicht klar hergeleitet werden, sondern ist eine eigene Entscheidung des Gerichtes, wie es auch selbst zugibt:

Vor diesem Hintergrund sieht der Senat einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Anliegen möglichst proportionaler Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Bundestag und dem mit der Personenwahl verbundenen Belang uneingeschränkten Erhalts von Wahlkreismandaten dann nicht mehr für gewahrt an, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet. Diese Größenordnung entspricht der vom Senat im Urteil vom 10. April 1997 gebilligten Quote von 16 Überhangmandaten bei einer regulären Abgeordnetenzahl von 656 […]

Der Senat ist sich bewusst, dass die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann.

Jedenfalls die jetzige Regelung, die einen unbegrenzten Anfall von Überhangmandaten ermöglicht, ist damit verfassungswidrig.
4. Fazit
Zumindest die Anknüpfung an Art. 38 GG sollte jedem Studenten bekannt sein. Ebenso sollte das Problem des negativen Stimmgewichts und der Überhangmandate zumindest bekannt sein und ansatzweise erklärt werden können. Gerade beim negativen Stimmgewicht kann allerdings nicht erwartet werden, dass die mathematischen Probleme bekannt sind.
Nicht beherrscht werden muss die Frage der Zusatzmandate, da dieser Regelung eine komplizierte mathematische Berechnung zugrundezulegen ist, die nicht abgeprüft werden kann (judex non calculat).
 
5. Möglichkeit eines verfassungskonformen Systems
Abschließend soll kurz dargestellt werden, wie ein verfassungsgemäßes Wahlrecht aussehen könnte.
a) Beseitigung negatives Stimmgewicht
Das negative Stimmgewicht beruht auf dem Verhältnis der unterschiedlichen Listen in den einzelnen Bundesländern. Es könnte damit beseitigt werden, wenn eine einheitliche Bundesliste eingeführt würde. Erst- und Zweitstimme könnten dann beibehalten werden.
Ebenso wäre es möglich, die Sitzvergabe der einzelnen Länder nicht mehr an die Anzahl der abgegebenen Stimmen zu koppeln, sondern als ausschlaggebendes Kriterium die Anzahl der Wahlberechtigten festzulegen. Dies bestätigt das BVerfG ausdrücklich:

Von Verfassungs wegen ist der Gesetzgeber nicht daran gehindert, diesen Ursachenzusammenhang innerhalb des von ihm geschaffenen Wahlsystems zu unterbinden, indem er zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der Wählerzahl die Zahl der Bevölkerung oder der Wahlberechtigten heranzieht. Denn jede vom Wahlverhalten der Wahlberechtigten nicht beeinflusste Größe als Grundlage der Bestimmung der Ländersitzkontingente würde den Effekt des negativen Stimmgewichts bei der Sitzzuteilung vermeiden.

Die daraus resultierende Erfolgsungleichheit der Stimmen in den einzelnen Ländern, scheint das BVerfG hinzunehmen.
b) Beseitigung der Überhangmandate
Eine generelle Beseitigung der Überhangmandate ist nicht erforderlich. Vielmehr genügt es, anderen Parteien entsprechende Ausgleichsmandate zuzuweisen (wie bspw. im Landtag von NRW). Dies hätte dann zwar zur Folge, dass der Bundestag im Zweifel stark aufgebläht würde, die Gleichheit der Wahl wäre aber gewahrt. Dies könnte auch erst ab einer Mindestanzahl von Überhangmandaten erfolgen.
c) Extrempositionen
Neben diesen milden Positionen, die das personalisierte Verhältniswahlrecht beibehalten, sind auch Extrempositionen denkbar. So könnte auch die Erst- bzw. Zweitstimme abgeschafft werden. Würde die Erststimme abgeschafft, liefe dies auf ein reines Verhältniswahlrecht hinaus. Dies könnte sowohl bundeseinheitlich als auch in den einzelnen Ländern separat erfolgen. In dem zweiten Fall müsste allerdings wieder die Gefahr des negativen Stimmgewichts gebannt werden (s.o.).
Als Extremposition ist wohl auch ein reines Mehrheitswahlrecht denkbar. Zwar liefe das auf eine starke Erfolgswertungleichheit der Stimmen hinaus, diese wäre aber systemimmanent. Insofern würde für die Ungleichheit wohl ein sachlicher Grund bestehen, handelt es sich beim Mehrheitswahlrecht doch um ein weltweit anerkanntes Wahlsystem, dem nicht die demokratische Legitimation abgesprochen werden kann.

26.07.2012/4 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2012-07-26 14:09:252012-07-26 14:09:25BVerfG: Verfassungswidrigkeit des Bundeswahlgesetzes
Dr. Gerrit Forst

BVerfG: Anträge auf Wahlzulassung nicht erfolgreich

Öffentliches Recht, Verfassungsrecht

Das BVerfG hat mit Kammerbeschlüssen vom 24.8.2009 (2 BvR 1898/09 und 2 BvQ 50/09) die Anträge der „Freien Union“ und der „PARTEI“ auf Zulassung zur Teilnahme an der Bundestagswahl zurückgewiesen. In beiden Fällen wurden die Anträge als unzulässig verworfen, da es an einer vorherigen Wahlprüfung durch den Deutschen Bundestag fehle (§ 48 BVerfGG).
Der Fall ist für die mündliche Prüfung insofern relevant, als hier ein aktuelles Thema auf allgemein-dogmatische Fragen trifft: Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG); Zweck der Zulässigkeitsprüfung (u.a. Popularklagen verhindern, hier wohl eher Schutz der Wahldurchführung); praktische Konkordanz (Artt. 19, 38 GG vs. Art. 41 Abs. 2 GG); Verhältnis der EMRK (Art. 6: Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz) zum GG.

31.08.2009/0 Kommentare/von Dr. Gerrit Forst
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Gerrit Forst https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Gerrit Forst2009-08-31 10:01:442009-08-31 10:01:44BVerfG: Anträge auf Wahlzulassung nicht erfolgreich

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