Mit Urteil vom gestrigen 09.06.2020 (Az.: 2 BvE 1/19) hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass die Veröffentlichung eines Interviews des Bundesinnenministers auf der Internetseite des Ministeriums die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in ihren Rechten verletzt hat. Das Urteil fügt sich dabei in eine Reihe aktueller Entscheidungen zur parteipolitischen Neutralitätspflicht von Staatsorganen ein und ist damit ein ganz „heißes Eisen“ nicht für die Examensklausur, sondern insbesondere auch für (Erstsemester-)Klausuren im Staatsorganisationrecht. Im Einzelnen:
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)
Am 14.09.2018 veröffentlichte das Bundesinnenministerium ein Interview des Ministers mit der Deutschen Presse-Agentur. In dem Interview äußert sich dieser, angesprochen auf die AfD, wie folgt: „Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln. Das ist staatszersetzend.“ Im weiteren Verlauf des Interviews bekundet er außerdem, dieses Vorgehen sei „einfach schäbig“ gewesen. Sodann bejaht er die Frage, ob die AfD radikaler geworden sei, und fügt hinzu: „Die sind auf der Welle, auf der sie schwimmen, einfach übermütig geworden und haben auch dadurch die Maske fallen lassen. So ist es auch leichter möglich, sie zu stellen, als wenn sie den Biedermann spielt“. Schließlich führt er aus: „[…] Mich erschreckt an der AfD dieses kollektive Ausmaß an Emotionalität, diese Wutausbrüche – selbst bei Geschäftsordnungsdebatten. […] So kann man nicht miteinander umgehen, auch dann nicht, wenn man in der Opposition ist.“ Das Interview kann seit dem 01.10.2018 nicht mehr von der Homepage abgerufen werden.
Die AfD begehrt im Wege des Organstreitverfahrens die Feststellung, durch die Veröffentlichung in ihren Rechten verletzt zu sein.
II. Rechtliche Würdigung
Verfassungsprozessual geltend zu machen war die behauptete Rechtsverletzung in einem Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. In der Klausurbearbeitung ist im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung besonderes Augenmerk auf die Diskrepanz zwischen dem Art. 93 I Nr. 1 GG und dem enger gefassten § 63 BVerfGG zu legen. Diese Diskrepanz wirkt sich nicht auf die Beteiligtenfähigkeit des Bundesinnenministers aus, da dieser als Teil der Bundesregierung unter Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG fällt und die Bundesregierung in § 63 BVerfGG explizit als mögliche Antragstellerin oder -gegnerin genannt wird. Anders ist dies bei politischen Parteien: Sie werden in § 63 BVerfGG nicht genannt, werden jedoch beispielsweise durch Art. 21 Abs. 1 GG mit eigenen Rechten ausgestattet. Hier setzt sich die GG-Bestimmung als ranghöhere Norm durch, sodass auch die Partei „AfD“ beteiligungsfähig im Organstreitverfahren ist.
Der Antrag ist begründet, wenn die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des Bundesinnenministeriums verfassungswidrig ist und die AfD hierdurch in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt wird. Im vorliegenden Fall kommt eine Verletzung des in Art. 21 Abs. 1 GG niedergelegten Rechts auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Betracht.
1. Grundsätzliches zur Neutralitätspflicht von Staatsorganen
Tragendes Prinzip der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ist das Prinzip der Volkssouveränität. Art. 20 Abs. 2 GG formuliert insoweit anschaulich, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von diesem in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Dies beinhaltet auch, dass Willensbildung von „unten nach oben“ erfolgt, d.h. sich der Wille des Volkes im Volk bildet und dann nach oben durchsetzt. Politische Parteien nehmen dabei eine besonders wichtige Rolle im Willensbildungsprozess ein. Ein freier Meinungs- und Willensbildungsprozess setzt dabei voraus, dass die politischen Parteien gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Daher wird aus Art. 21 Abs. 1 GG (und in Wahlkampzeiten zusätzlich aus Art. 38 Abs. 1 GG) ein Recht der Parteien auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung abgeleitet, das die Äußerungsbefugnis der Staatsorgane einschränkt.
2. Das Neutralitätsgebot schließt Informations- und Öffentlichkeitsarbeit von Ministern nicht aus…
Die Neutralitätspflicht schließt jedoch nicht jegliche (partei-)politischen Äußerungen von Ministern aus. Im Gegenteil: Aus Art. 65 GG folgt die Aufgabe der Bundesregierung zur Staatsleitung und diese schließt die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein. Somit besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit und dem Neutralitätsgebot.
3. … setzt ihr aber enge Grenzen
Das BVerfG hat in seiner Judikatur versucht, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, und in inzwischen ständiger Rechtsprechung einen Maßstab der Äußerungsbefugnis für Regierungsmitglieder entwickelt, der auch im vorliegenden Fall wieder zur Anwendung gekommen ist. Allgemein gesagt endet die „Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung […] dort, wo Werbung für oder Einflussnahme gegen einzelne im politischen Wettbewerb stehende Parteien oder Personen beginnt“.
Grds. erlaubt sei – bei Wahrung der gebotenen Sachlichkeit – damit die öffentliche Zurückweisung von gegen ihre Politik gerichteten Angriffen. Regelmäßig zulässig sind zudem (patei-)politische Aussagen, wenn das Regierungsamt nicht in Anspruch genommen wird, beispielsweise bei Auftritten auf Parteitagen.
Im vollen Umfang kommt die Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern jedoch zum Tragen, wenn diese auf
durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten und Mittel zurückgreifen, über welche die politischen Wettbewerber nicht verfügen. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in Ausübung des Ministeramtes stattgefunden hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen. Eine Äußerung erfolgt insbesondere dann in regierungsamtlicher Funktion, wenn der Amtsinhaber sich in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen sowie auf der Internetseite seines Geschäftsbereichs erklärt oder wenn Staatssymbole und Hoheitszeichen eingesetzt werden.
4. Überschreitung der Äußerungsbefugnis im konkreten Fall?
Was bedeuten diese grundsätzlichen Aussagen auf den konkreten Fall bezogen? Durch die im Interview getätigten Äußerungen ergreift der Minister Partei, indem er die AfD deutlich kritisiert. Zur Beantwortung der Frage, ob er dadurch seine Befugnisse überschritten hat, hat das BVerfG – überzeugend – zwischen der Äußerung im Rahmen des Interviews und der Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage des Ministeriums differenziert. Während ersteres nicht zu beanstanden war, sahen die Verfassungsrichter bei letzterem die AfD in ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt.
Denn: Bei der Abgabe der genannten Äußerungen im Rahmen des Interviews hat der Minister
weder in spezifischer Weise auf die Autorität seines Ministeramtes noch auf die damit verbundenen Ressourcen zurückgegriffen […]. Vielmehr ergibt der Gesamtzusammenhang des Interviews, dass sich die Äußerungen als Teilnahme des Antragsgegners am politischen Meinungskampf in seiner Eigenschaft als Parteipolitiker und nicht als Wahrnehmung des Ministeramtes darstellen. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass der Antragsgegner zu Themen befragt wird, die nicht von seinem Ressort umfasst sind.
Anders zu beurteilen ist die Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage. Damit hat der Bundesinnenminister nämlich
auf Ressourcen zurückgegriffen, die ihm allein aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen. Diese hat er auch zur Beteiligung am politischen Meinungskampf eingesetzt, da die Wiedergabe des Interviews der weiteren Verbreitung der darin enthaltenen Aussagen diente. Da diese Aussagen in einseitiger Weise Partei gegen die Antragstellerin ergreifen, verstößt die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des Ministeriums gegen das Gebot strikter staatlicher Neutralität […].
Auch die Tatsache, dass die getätigten Aussagen keinen konkreten Wahlkampfbezug aufwiesen, führte nicht zu einer abweichenden Bewertung des Falls. Schließlich könne die politische Willensbildung nicht nur durch Wahl- oder Nichtwahlaufrufe beeinflusst werden, „sondern auch durch die negative Qualifizierung des Handelns oder der Ziele einzelner Parteien“. Darüber hinaus sei das Neutralitätsgebot nicht auf Wahlkampzeiten beschränkt, da politische Willensbildung fortlaufend stattfinde.
5. Ergebnis
Während die Abgabe der genannten Äußerungen im Rahmen des Interviews die verfassungsrechtlichen Rechte der AfD nicht verletzt, ist die Veröffentlichung des Interviews verfassungswidrig, da sie AfD in ihrem aus Art. 21 Abs. 1 GG folgenden Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung verletzt. Der Antrag der AfD ist damit teilweise begründet.
III. Einordnung
Über Organstreitverfahren, in denen es um eine mögliche Verletzung der Neutralitätspflicht von Staatsorganen ging, musste das BVerfG in den letzten Jahren vermehrt entscheiden, sodass es die Gelegenheit hatte, eine kohärente und vorhersehbare Rechtsprechung zu entwickeln.
Das Innenministerium hätte das Obsiegen der AfD in dem vorliegenden Organstreitverfahren verhindern können, hätte es sich nur an der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung orientiert. Erst ein gutes halbes Jahr vor der Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage hat das BVerfG geurteilt (Urt. v. 27.02.2018 – Az.: 2 BvE 1/16), dass die Veröffentlichung einer Pressemitteilung der damaligen Bundesbildungsministerin auf der Homepage des Ministeriums, in der sie sich wie folgt äußerte, das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt hat:
Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung.
So hat der Innenminister genau das Gegenteil von dem erreicht, was er mit seiner Aussage beabsichtigte zu bezwecken: Das Verhalten des Ministers ermöglicht es der AfD einmal mehr, sich öffentlichkeitswirksam als Opfer der Mächtigen zu stilisieren.
Besser angestellt hat es die damalige Bundesfamilienministerin. Sie hat sich 2014 am Rande der Teilnahme an der Verleihung des Thüringer Demokratiepreises in Weimar bei einem Zeitungsinterview wie folgt geäußert:
Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.
Ihr hat das BVerfG (Urt. v. 16.12.2014 – Az.: 2 BvE 2/14) nämlich attestiert, dass die Äußerung die NPD nicht in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt hat, da die Äußerung dem politischen Meinungskampf zuzuordnen gewesen sei und die Ministerin ihr Amt nicht in Anspruch genommen habe.
Ebenfalls als verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sah das BVerfG (Urt. v. 10.06.2014 – Az.: 2 BvE 4/13) die Bezeichnung von NPD-Anhängern als „Spinner“ durch den damaligen Bundespräsidenten bei einer Gesprächsrunde mit mehreren hundert Berufsschülern, über die im Anschluss in der Presse berichtet wurde, an. Die Verwendung des Wortes „Spinner“ sei zwar zuspitzend, im Kontext der Gesamtaussage betrachtet aber nicht unsachlich gewesen. Im Vergleich zu Regierungsmitgliedern ist das auch vom Bundespräsidenten zu beachtende Neutralitätsgebot zudem weniger streng, da dieser nicht im direkten Wettbewerb um die Erzielung von politischem Einfluss steht und zudem Repräsentations- und Integrationsaufgaben wahrnimmt, sodass ihm für die konkrete Amtsführung ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt wird.
IV. Fazit
Angesichts der zahlreichen BVerfG-Urteile zur Neutralitätspflicht der Staatsleitung in den letzten sechs Jahren ist damit zu rechnen, dass dieser Themenkomplex Prüflinge weiter beschäftigen wird. Bei der Frage, ob eine Äußerung eine Partei in ihrem verfassungsrechtlichem Recht auf Gleichbehandlung verletzt, ist maßgeblich darauf abzustellen, ob dabei in spezifischer Weise auf die Autorität und die Ressourcen des Amtes zurückgegriffen wurde. Prüflinge wird es freuen, dass dabei maßgeblich die Umstände des Einzelfalls zu würdigen sind. Für eine erfolgreiche Klausurbearbeitung ist somit für derartige Fallkonstellationen kein Auswendiglernen im größeren Umfang erforderlich. Vielmehr kommt es (wie so oft) auf ein solides Grundlagenverständnis sowie eine überzeugende Argumentation, durch die man zu einem vertretbaren Ergebnis gelangt, an.
Ein Blick auf die neueren Urteile des BVerfG (oder für die eiligen Leser: die Pressemitteilungen) lohnt freilich nichtsdestotrotz, da dieser die Argumentationsfähigkeit schärft:
- BVerfG, Urt. v. 09.06.2020 – Az.: 2 BvE 1/19 (Interview des Bundesinnenministers): Pressemitteilung
- BVerfG, Urt. v. 27.02.2018 – Az.: 2 BvE 1/16 („Rote Karte“ für die AfD): Pressemitteilung; Urteil
- BVerfG, Urt. v. 10.06.2014 – Az.: 2 BvE 4/13 (NPD-Anhänger als „Spinner“): Pressemitteilung; Urteil
- BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – Az.: 2 BvE 2/14 (Interview der Bundesfamilienministerin): Pressemitteilung; Urteil