Wir danken Nicolas für einen weiteren Gastbeitrag zu einem aktuellen Urteil des BGH vom 1.2.2011, in der es insbesondere um die examensrelevante Problematik des allgemeinen Persönichkeitsrechts in der Zivilrechtsklausur geht.
In einer kürzlich ergangenen Entscheidung des BGH (Urteil vom 1.02.2011 – VI ZR 345/09) ging es um die Frage, ob sich der verurteilt Mörder des Schauspielers Walter Sedlmayer gegen Berichte im Internet wehren kann, die den Mordfall unter namentlicher Nennung der an der Straftat beteiligten Personen sowie Veröffentlichung von Bildern derselben zum Gegenstand haben. Der Fall ist insofern interessant, als dass klassische Fragen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Rahmen von § 823 I BGB, § 1004 BGB analog angesprochen werden, die sehr gut Thema einer zivilrechtlichen Klausur sein können.
Sachverhalt
Im Jahr 1993 war der bekannte Schauspieler Walter Sedlmayer ermordet worden. Der rechtskräftig wegen Mordes verurteilte Kläger K wurde 2008 auf Bewährung aus der Haft entlassen, nachdem er im Jahr 2004 erfolglos – unter Hinzuziehung der Presse – eine Wiederaufnahme des Verfahrens angestrengt hatte. Die Beklagte B ist Betreiberin eines Internetportals. Dort hatte B schon im Jahr 2005 einen Bericht veröffentlicht, der sich mit der Wiederaufnahme des Verfahrens des K beschäftigt und bis zum heutigen Zeitpunkt in einem Archiv frei abrufbar ist. In diesem Bericht werden (neben anderen Beteiligten an der Tat) der K namentlich und mit Foto genannt und der Fortgang des Wiederaufnahmeverfahrens erläutert.
K sieht sich in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt und verlangt die Unterlassung der Namensnennung. Insbesondere führe diese Form der Berichterstattung zu einer permanenten und unangemessenen Stigmatisierung seiner Person, die mit dem Informationsinteresse der Allgemeinheit nicht zu rechtfertigen sei. Immerhin habe er seine Strafe schon verbüßt.
K beruft sich gegenüber B auf § 823 Abs.1, 1004 BGB analog i.V.m Art. 1 Abs.1, Art. 2 Abs.1 GG.
Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des K ist gegeben
Der Vorinstanz folgend bejaht der BGH einen Eingriff in das allgemeines Persönlichkeitsrecht des K. Ein solcher Eingriff ist nicht nur dann anzunehmen, soweit „klassische“ Massenmedien (Tagespresse, Funk- und Fernsehen) über einen vergleichbaren Sachverhalt berichten, sondern auch bei einem „Bereithalten“ und „Abrufbarmachen“ des Berichts mittels eines Online-Archivs.
Denn die Berichterstattung über eine Straftat unter Nennung des Namens des Straftäters beeinträchtigt zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und Achtung seines Privatlebens, weil sie sein Fehlverhalten öffentlich bekannt macht und seine Person in den Augen der Adressaten von vornherein negativ qualifiziert ([…]vom 20. April 2010 – VI ZR 245/08, AfP 2010, 261 Rn. 11 mit NA-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 2010 – 1 BvR 1316/10; BVerfGE 35, 202, 226; BverfG NJW 2006, 2835; AfP 2009, 365 Rn. 15). Dies gilt nicht nur bei aktiver Informationsübermittlung durch die Medien, wie es im Rahmen der herkömmlichen Berichterstattung in Tagespresse, Rundfunk oder Fernsehen geschieht, sondern auch dann, wenn – wie im Streitfall – den Täter identifizierende Inhalte lediglich auf einer passiven Darstellungsplattform im Internet zum Abruf bereitgehalten werden (vgl. BVerfG, AfP 2009, 365 Rn. 17). Diese Inhalte sind nämlich grundsätzlich jedem interessierten Internetnutzer zugänglich (vgl. Senatsurteile vom 15. Dezember 2009 – VI ZR 227/08, aaO – „Onlinearchiv“ I; vom 9. Februar 2010 – VI ZR 243/08, aaO – „Onlinearchiv“ II; vom 20. April 2010 – VI ZR 245/08, aaO; Verweyen/Schulz, AfP 2008, 133, 137).
Ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Medienberichte verletzt, muss zwischen Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 GG abgewogen werden.
Denn wegen der Eigenart des Persönlichkeitsrechts als eines Rahmenrechts liegt seine Reichweite nicht absolut fest, sondern muss erst durch eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Belange bestimmt werden, bei der die besonderen Umstände des Einzelfalles sowie die betroffenen Grundrechte und Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention interpretationsleitend zu berücksichtigen sind.
Fehlende Stigmatisierung aufgrund geringer Breitenwirkung der Veröffentlichung
Der BGH stellt zunächst fest, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch bei Verbreitung wahrer Tatsachen ein Interesse des Betroffenen an einer Einschränkung der Meinungs– und Pressefreiheit überwiegen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Berichterstattung das Ansehen des Betroffenen nachhaltig und in einer erheblichen beschädigt. Bei aktuellen Berichten über besonders schweren Straftaten ist jedoch zusätzlich das erhöhte Interesse der Allgemeinheit an einer umfangreichen Aufklärung in die Abwägung mit einzubeziehen. Hingegen kann dieses Interesse dann zurücktreten, wenn die Straftat schon einige Zeit zurückliegt und die Resozialisierung des Täters ggf. schon abgeschlossen ist. Eine zu besorgende Stigmatisierung ist jedenfalls dann zu befürchten, wenn die Berichterstattung in einem breiten Spektrum und ohne aktuellen Bezug Verbreitung findet. (So im Fall „Lebach I“, BVerfGE 35, 2020, auf den K sich u.a. berufen hat).
Nach Ansicht des BGH ist der vorliegende Fall mit der zitierten Entscheidung nicht vergleichbar.
[…] Zwar kommt dem Interesse des Klägers, von einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben, vorliegend erhöhtes Gewicht zu. Die von ihm begangene Straftat und die Verurteilung liegen lange zurück; der Kläger ist im Januar 2008 aus der Strafhaft entlassen worden. Andererseits beeinträchtigt die beanstandete Meldung sein Persönlichkeitsrecht einschließlich seines Resozialisierungsinteresses unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht in erheblicher Weise. Sie ist insbesondere nicht geeignet, den Kläger „ewig an den Pranger“ zu stellen oder in einer Weise „an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren“, die ihn als Straftäter (wieder) neu stigmatisieren könnte. Die Meldung enthält wahrheitsgemäße Aussagen über ein Kapitalverbrechen an einem bekannten Schauspieler, das erhebliches öffentliches Aufsehen erregt hatte. In ihr wird sachbezogen und objektiv mitgeteilt, dass sich in dem Fall neue Erkenntnisse ergeben hätten und eine Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Wiederaufnahme des Verfahrens kurz bevorstehe. Die den Kläger identifizierenden Angaben in der Meldung waren angesichts der Schwere des Verbrechens, der Bekanntheit des Opfers, des erheblichen Aufsehens, das die Tat in der Öffentlichkeit erregt hatte, und des Umstands, dass sich die Verurteilten noch im Jahr 2004 unter Inanspruchnahme aller denkbaren Rechtsbehelfe um die Aufhebung ihrer Verurteilung bemühten, zum Zeitpunkt der erstmaligen Veröffentlichung unzweifelhaft zulässig. In der Art und Weise, wie die Meldung zum Abruf bereitgehalten wurde, kam ihr eine nur geringe Breitenwirkung zu. Der Verbreitungsgrad des konkret gewählten Mediums war gering; eine Fallgestaltung, wie sie der Lebach-I- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 35, 202) zugrunde lag, ist nicht gegeben. Gegenstand dieser Entscheidung war eine Fernsehdokumentation zur besten Sendezeit, die zu einem intensiven Nacherleben der Straftat unter Betonung der emotionalen Komponente führte (vgl. BVerfGE 35, 202, 228 f.). Unter den damaligen Fernsehbedingungen war gerade für eine solche Sendung mit einer besonders hohen Einschaltquote zu rechnen (BVerfG 35, 202, 227 f.). Hingegen setzte eine Kenntnisnahme vom Inhalt der beanstandeten Meldung im Streitfall eine gezielte Suche voraus. Die Meldung wurde nur auf einer als passive Darstellungsplattform geschalteten Website angeboten, die typischerweise nur von solchen Nutzern zur Kenntnis genommen wird, die sich selbst aktiv informieren.
Vollständige Immunisierung des Täters steht Art. 5 I GG entgegen
Überdies ist nach Ansicht des BGH auch die Recherche vergangener Ereignisse durchaus von Art. 5 I GG gedeckt, welches vor allem für Kapitalverbrechen gelten müsse, die in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit erregt haben.
Dementsprechend nehmen die Medien ihre Aufgabe, in Ausübung der Meinungsfreiheit die Öffentlichkeit zu informieren und an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken, auch dadurch wahr, dass sie nicht mehr aktuelle Veröffentlichungen für interessierte Mediennutzer verfügbar halten. Ein generelles Verbot der Einsehbarkeit und Recherchierbarkeit bzw. ein Gebot der Löschung aller früheren den Straftäter identifizierenden Darstellungen in „Onlinearchiven“ würde dazu führen, dass Geschichte getilgt und der Straftäter vollständig immunisiert würde
Keine permanente Rechtmäßigkeitskontrolle archivierter Inhalte
Auch könne von der Beklagten nicht verlangt werden, gar kein Online-Archiv anzubieten oder eine permanente Rechtmäßigkeitskontrolle der Inhalte durchzuführen..
Die Beklagte könnte ihren verfassungsrechtlichen Auftrag, in Wahrnehmung der Meinungsfreiheit die Öffentlichkeit zu informieren, nicht vollumfänglich erfüllen, wenn es ihr generell verwehrt wäre, dem interessierten Nutzer den Zugriff auf frühere Veröffentlichungen zu ermöglichen. Würde auch das weitere Bereithalten als solcher erkennbarer und im Zeitpunkt der erstmaligen Veröffentlichung zulässiger Altmeldungen auf für Altmeldungen vorgesehenen Seiten zum Abruf im Internet nach Ablauf einer gewissen Zeit oder nach Veränderung der zugrunde liegenden Umstände ohne weiteres unzulässig und wäre die Beklagte verpflichtet, sämtliche archivierten Beiträge von sich aus immer wieder auf ihre Rechtmäßigkeit zu kontrollieren, würde die Meinungs- und Medienfreiheit in unzulässiger Weise eingeschränkt. Angesichts des mit einer derartigen Kontrolle verbundenen personellen und zeitlichen Aufwands bestünde die erhebliche Gefahr, dass die Beklagte entweder ganz von einer der Öffentlichkeit zugänglichen Archivierung absehen oder bereits bei der erstmaligen Veröffentlichung die Umstände ausklammern würde, die – wie vorliegend der Name des Straftäters – das weitere Vorhalten des Beitrags später rechtswidrig werden lassen könnten, an deren Mitteilung die Öffentlichkeit aber im Zeitpunkt der erstmaligen Berichterstattung ein schützenswertes Interesse hat.
Im Ergebnis überwiegt daher das Informationsinteresse der Allgemeinheit gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des K. K hat keinen Anspruch auf Unterlassung der Nennung seines Namens im Bericht der B.
Fazit
Umfangreiches Zivilrechtsurteil mit Ausflügen ins GG und die EMRK – es ist nicht auszuschließen, dass das Thema im Schriftlichen oder Mündlichen in nächster Zeit drankommt, zumal das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Rahmen von § 823 I BGB („sonstiges Recht“) immer wieder beliebter Prüfungsstoff ist. Die Ausführungen des BGH zum Datenschutzrecht, insbesondere zum BDSG (Bundesdatenschutzgesetz) und zum RstV (Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien) wurden zugunsten der Lesbarkeit bewusst außen vor gelassen (zum Nachlesen: Rz.23ff im Urteil).
Update: Das OLG Hamburg hat jetzt (Urt. v. 15.03.2011 – Az.: 7 U 45/10) in einem parallelen Fall anders entschieden, da der Betroffene noch auf Bewährung war. Für eine Zusammenfassung, siehe hier.