Muss ein gewerblicher Mieter die Ladenmiete weiterzahlen während er sein Ladengeschäft aufgrund einer staatlichen Maßnahme zur Bekämpfung der Coronapandemie nicht für den Kundenverkehr öffnen darf? Diese Frage stellten sich nicht nur die betroffenen Mieter und Vermieter sondern auch Öffentlichkeit und Juristen seit dem Beginn der Coronakrise im Frühjahr 2020. Mit Spannung erwartet wurde daher die brandaktuelle Entscheidung des BGH – zumal sich die Oberlandesgerichte in dieser Rechtsfrage nicht einig waren. Die Examensrelevanz dürfte damit auf der Hand liegen.
Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang:
Dem Urteil liegt ein Rechtstreit zwischen Kik (Einzelhandel für Textilien aller Art sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs) und dessen Vermieterin zugrunde. Aufgrund einer Allgemeinverfügung anlässlich der Coronapandemie musste das Ladengeschäft im Zeitraum vom 19. März bis zum 19. April 2020 geschlossen bleiben. Die Vermieterin verlangte auch für diesen Zeitraum die Zahlung der vollen Miete, wozu Kik nicht bereit war.
Das erstinstanzlich zuständige Landgericht verurteilte Kik zur Zahlung der Miete in voller Höhe (LG Chemnitz Urteil vom 26.8.2020 – 4 O 639/20).
Mit der Berufung hatte Kik jedoch teilweise Erfolg: Das OLG Dresden (OLG Dresden Urteil vom 24.2.2021 – 5 U 1782/20) sah nur die Hälfte der Miete als geschuldet an. Das OLG Dresden stütze sich hierbei auf eine Vertragsanpassung wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB. In der Regel sei bei einer coronabedingten Schließung eine Reduzierung der Kaltmiete um 50 % gerechtfertigt, weil keine der Vertragsparteien eine Ursache für die Störung der Geschäftsgrundlage gesetzt oder sie vorhergesehen hat. Es sei demzufolge angemessen, die damit verbundene Belastung gleichmäßig auf beide Parteien zu verteilen.
Divergierende OLG-Rechtsprechung:
Andere Ansicht als das OLG Dresden und das mit diesem auf einer Linie liegende Kammergericht Berlin (KG Urteil vom 1.4.2021 – 8 U 1099/20) ist das OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20, Revision anhängig beim BGH unter dem Az. XII ZR 15/21): Die Karlsruher Oberlandesrichter kamen zum Ergebnis, dass die volle Miete zu zahlen sei. Eine Anpassung des Vertrags gemäß § 313 Abs. 1 BGB lehnten sie ab. Dem Mieter sei das unveränderte Festhalten am Gewerberaummietvertrag in der Regel erst dann unzumutbar, wenn dessen Inanspruchnahme zur Vernichtung seiner Existenz führen würde; unter Umständen genüge auch bereits eine schwere Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Fortkommens. Hierbei zu berücksichtigen sei auch, ob der Mieter öffentliche oder sonstige Zuschüsse erhalten hat, mit denen er die Umsatzausfälle infolge staatlicher Beschränkung jedenfalls teilweise kompensieren kann, und ob er Aufwendungen erspart hat (zB wegen Kurzarbeitergeld oder weggefallenen Wareneinkaufs).
Urteil des BAG vom 12.01.2022, Az. XII ZR 8/21:
Auf die Revisionen der Vermieterin, die nach wie vor die volle Miete verlangt, und der Beklagten Kik, die ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, hat der Bundesgerichtshof das Urteil des OLG Dresden aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
Zunächst stellt der für gewerbliches Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat klar, dass die Anwendbarkeit der mietrechtlichen Gewährleistungsvorschriften und der Regelungen des allgemeinen schuldrechtlichen Leistungsstörungsrechts, insbesondere des § 313 BGB zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, nicht durch die für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. September 2022 geltende Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB ausgeschlossen ist. Diese Regelung habe nach seinem eindeutigen Wortlaut und seinem Gesetzeszweck allein eine Beschränkung des Kündigungsrechts des Vermieters zum Ziel und sage nichts zur Höhe der geschuldeten Miete aus.
Bevor der BGH auf eine mögliche Anpassung nach § 313 BGB zu sprechen kommt, äußert er sich zum Vorliegen eines Mangels nach § 536 Abs. 1 S. 1 BGB, der zum Wegfall oder zur Minderung der Miete qua Gesetz führen würde:
Ein Mangel liege nicht vor, so der BGH. Ergeben sich aufgrund von gesetzgeberischen Maßnahmen während eines laufenden Mietverhältnisses Beeinträchtigungen des vertragsmäßigen Gebrauchs eines gewerblichen Mietobjekts, kann dies zwar einen Mangel i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB begründen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die durch die gesetzgeberische Maßnahme bewirkte Gebrauchsbeschränkung unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand oder der Lage des Mietobjekts in Zusammenhang steht (so bereits BGH Urteil vom 13.7.2011 – XII ZR 189/09). Die mit der Schließungsanordnung verbundene Gebrauchsbeschränkung der Beklagten erfülle diese Voraussetzung nicht. Denn die behördlich angeordnete Geschäftsschließung knüpfe allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergebenden Publikumsverkehr an, der die Gefahr einer verstärkten Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus begünstigt und der aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt werden sollte.
Der BGH weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch die Allgemeinverfügung weder der Vermieterin die Nutzung der angemieteten Geschäftsräume im Übrigen noch der Mieterin tatsächlich oder rechtlich die Überlassung der Mieträumlichkeiten verboten wird. Das Mietobjekt stand daher trotz der Schließungsanordnung weiterhin für den vereinbarten Mietzweck zur Verfügung.
Das Vorliegen eines Mangels i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich nach der Entscheidung des BGH auch nicht aus dem im vorliegenden Fall vereinbarten Mietzweck der Räumlichkeiten zur „Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts für Textilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs“. Der Mieter könne nicht davon ausgehen, dass die Vermieterin mit der Vereinbarung des konkreten Mietzwecks eine unbedingte Einstandspflicht auch für den Fall einer hoheitlich angeordneten Öffnungsuntersagung im Falle einer Pandemie übernehmen wollte.
Da demnach grundsätzlich nach dem Mietvertrag die volle Miete geschuldet ist, bliebe nur noch die Möglichkeit der Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB. Dies komme in Fällen der coronabedingten Geschäftsschließung grundsätzlich in Betracht, betont der XII. Zivilsenat.
Auch bejaht der BGH das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzung des § 313 Abs. 1 BGB – der schwerwiegenden Störung der Geschäftsgrundlage des Mietvertrags durch die behördliche Schließung des Ladengeschäfts aufgrund der Coronapandemie. Hierfür spreche auch die als Reaktion auf die Coronapandemie vom Gesetzgeber neu eingefügte Regelung des Art. 240 § 7 EGBGB, wonach vermutete wird, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat, wenn vermietete Grundstücke oder vermietete Räume, die keine Wohnräume sind, infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar sind.
Eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB erfolgt jedoch nur, wenn auch die weitere – normative – Voraussetzung der Vorschrift erfüllt ist. Dies setzt voraus, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
Hierbei konnte der BGH nicht auf die Vermutungsregel des Art. 240 § 7 EGBGB zurückgreifen. Denn diese führt aber nicht etwa dazu, dass stets von dem Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen des § 313 BGB auszugehen wäre: Die Regelung schafft eine tatsächliche Vermutung, dass sich ein Umstand iSd § 313 Abs. 1 BGB, der Grundlage des Mietvertrags geworden ist, nach Vertragsabschluss schwerwiegend verändert hat. Die Vermutung ist widerleglich und gilt nur für dieses reale Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB. Das normative Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB, dass dem einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen und gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann, wird von der Vermutungsregelung nicht erfasst (OLG Karlsruhe Urteil vom 24.2.2021 – 7 U 109/20; so auch Brinkmann/Thüsing, NZM 2021, 5).
Der BGH stellt ausdrücklich klar, dass – wie in § 313 Abs. 1 vorgesehen – auch in Fällen der coronabedingten Ladenschließung stets eine umfassende Einzelfallabwägung erforderlich ist. Einer pauschalen Halbierung der Miete, wie sie das OLG Dresden vorgenommen hatte, schiebt der BGH damit einen Riegel vor.
Zwar ist auch nach der Ansicht des BGH regelmäßig eine Anpassung vorzunehmen, da sich durch die Covid-19-Pandemie letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht hat und die Betriebsschließung gerade nicht auf einer unternehmerischen Entscheidung oder enttäuschten Gewinnerwartung des Mieters beruhe. Daher könne das hiermit verbundene Risiko regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden. Die Entscheidung darüber, ob und in welcher Höhe eine Reduzierung der Miete erfolge, bedarf jedoch stets einer Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls.
Der BGH nennt in seiner Pressemitteilung sogleich die maßgeblichen Faktoren für die Einzelfallabwägung:
Zunächst ist zu untersuchen, welche konkreten Nachteile dem Mieter durch die Geschäftsschließung und deren Dauer entstanden sind. Hierbei ist auf den konkreten Umsatzrückgang in dem konkreten Mietobjekt abzustellen – ein möglicher Konzernumsatz ist nicht von Belang.
Zu berücksichtigen sei auch, welche Maßnahmen der Mieter ergriffen hat oder ergreifen konnte, um die drohenden Verluste während der Geschäftsschließung zu vermindern. In der Pressemitteilung sind noch keine konkreten Maßnahmen benannt. Man könnte hier etwa an Kurzarbeit oder verstärkten Onlinehandel denken.
Da eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage aber nicht zu einer Überkompensierung der entstandenen Verluste führen darf, sind bei der Prüfung der Unzumutbarkeit grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen, die der Mieter aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erlangt hat. Dabei können auch Leistungen einer ggf. einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen, die nur auf Basis eines Darlehens gewährt wurden, bleiben hingegen bei der gebotenen Abwägung außer Betracht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kompensation der erlittenen Umsatzeinbußen erreicht.
Zudem seien auch die Interessen des Vermieters in den Blick zu nehmen.
Nicht erforderlich sei eine tatsächliche Gefährdung der Existenz des Mieters. Somit erteilt der BGH bereits in diesem Verfahren auch der Rechtsprechung des OLG Karlsruhe eine Absage, über die er noch gesondert zu entscheiden hat.
Fazit:
Die Grundsätze dieser Entscheidung sollte aufgrund der enormen medialen Aufmerksamkeit sowie der Bezugspunkte zu den beliebten Prüfungsfeldern des Mietrechts sowie des allgemeinen Teils des BGB jeder Examenskandidat beherrschen.
Im Gutachten sollten der Reihe nach sämtliche Probleme geprüft werden. Stürzen sich Examenskandidaten bei der Falllösung sofort auf das Hauptproblem des § 313 BGB, so begehen sie einen großen Fehler. Ansonsten werden kostbare Punkte für die übrigen Probleme des Falls liegengelassen.
Was man aus dem Urteil auf jeden Fall mitnehmen sollte:
- Sofern keine ausdrückliche vertragliche Regelung zur Einstandspflicht des Vermieters für den Fall einer coronabedingten Ladenschließung besteht, liegt kein Mangel gemäß § 536 Abs. 1 BGB vor.
- Für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB bedarf es neben dem tatsächlichen Element der erheblichen Störung der Geschäftsgrundlage zudem eines Vorliegens des normativen Elements der Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag.
- Das tatsächliche Element dürfte unproblematisch Vorliegen, diesbezüglich greift auch die Vermutung des Art. 240 § 7 EGBGB.
- In der Regel ist das allgemeine Lebensrisiko der coronabedingten Ladenschließung von keiner Vertragspartei voll zu tragen. Einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz des Mieters bedarf es für eine Vertragsanpassung gemäß § 313 Abs. 1 BGB nicht.
- Für die Feststellung der Unzumutbarkeit und die Bemessung der Höhe der etwaigen Reduzierung der Miete bedarf es stets einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Eine pauschale Halbierung der Miete kommt nicht in Betracht.
- Maßgeblich sind insbesondere der konkrete Umsatzrückgang des gewerblichen Mieters bezogen auf das konkrete Mietobjekt, die getroffenen oder möglichen Maßnahmen des Mieters zur Verringerung des Verlustes, das Eingreifen von staatlichen Leistungen oder einer Betriebsversicherung des Mieters (nicht jedoch eines Darlehens) sowie die Interessen des Vermieters.