Der BGH hat gestern eine grundlegende Entscheidung zur Auslegung des 221 StGB verffentlicht (Beschl. v. 19.10.2011 – 1 StR 233/11). Zum Einstieg zunächst der amtliche Leitsatz:
Aussetzung durch Im Stich lassen ist stets ein Unterlassungsdelikt; eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB ist nicht möglich, auch nicht, wenn der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht (§ 221 Abs. 3 StGB).
I. Sachverhalt
Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte lebte mit seiner Freundin, dem späteren Opfer, zusammen in einer Wohnung. Er hatte für das Opfer – wie sich der 1. Senat ausdrückt – „Verantwortung übernommen“. Der Angeklagte fand einen Slip der Frau bei einem weiteren Mitbewohner. Daraufhin kam es zu einem Streit zwischen dem Angeklagten und dem Opfer. Aus ungeklärter Ursache stürzte das Opfer gegen 2:35 Uhr über die Brüstung des Balkons der Wohnung. Die Frau konnte sich festhalten und rief nach dem Angeklagten, der ihr helfen möge. Nachbarn bekundeten, dass darauf mit Gelächter geantwortet wurde. Der Angeklagte erkannte, dass die Frau sich nicht alleine würde retten können. Er verließ die Wohnung, obwohl es ihm ohne Weiteres möglich gewesen wäre, das Opfer zu retten. Das Opfer verlor kurz davor, währenddessen oder kurz danach – dies war nicht aufzuklären – den Halt, stürzte ab und war auf der Stelle tot. Das Landgericht verneinte den Tötungsvorsatz und verurteilte den Angeklagten nach §§ 221 Abs. 1 Nr. 2, 221 Abs. 3 StGB wegen Aussetzung mit Todesfolge durch „im Stich lassen“ . Die Revision rügte unter anderem, dass das Landgericht nicht beantwortet habe, ob der Angeklagte den Tatbestand durch Tun oder durch Unterlassen verwirklicht habe und dass es deshalb die Möglichkeit einer Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB nicht bedacht habe.
II. Entscheidung
Der 1. Senat verwirft die Revision als unbegründet. Es komme nicht darauf an, wann der Angeklagte die Wohnung genau verlassen habe, weil dies für die Frage der Strafbarkeit und den Strafrahmen unbeachtlich sei. Denn ein „im Stich lassen“ könne ausschließlich durch Unterlassen begangen werden. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB sei ein echtes Unterlassungsdelikt. Auf diese sei § 13 StGB nicht anzuwenden. Nichts anderes könne für die Qualifikation des § 221 Abs. 3 StGB gelten, die auf dem Grundtatbestand aufbaue. Hier der relevante Auszug aus den Entscheidungsgründen:
(2) Der Senat hält § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein Unterlassungsdelikt. Das Verlassen des Opfers ist – anders als nach der früheren Gesetzeslage (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. September 1991 – 1 StR 339/91, BGHSt 38, 78 ff.) – nur noch ein faktischer Anwendungsfall, aber kein gesetzlicher Unterfall des Im-Stich-Lassens. Dass der Täter die gebotene Handlung deshalb nicht vornimmt, weil er den Ort, an dem er handeln müsste, verlässt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Rechtscharakter der Tat (vgl. Neumann, aaO). Letztlich ist bei der Bewertung von Verhaltensweisen unter dem Blickwinkel, ob strafbares Tun oder strafbares Unterlassen vorliegt, darauf abzustellen, worin der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ liegt (st. Rspr., vgl. BGH (GrSSt), Beschluss vom 17. Februar 1954 – GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urteil vom 1. Feb-ruar 2005 – 1 StR 422/04, BGH NStZ 2005, 446, 447; BGH, Urteil vom 12. Juli 2005 – 1 StR 65/05, NStZ-RR 2006, 174, 175; w. Nachw., auch für die anderen Auffassungen, bei Wielant, aaO, S. 156 Fußn. 379). Dieser liegt darin, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlässt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sich (zusätzlich) entfernt.
c) Ob § 13 StGB anwendbar und damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB möglich ist, richtet sich danach, ob ein „echtes“ oder „unechtes“ Unterlassungsdelikt vorliegt. Für „echte“ Unterlassungsdelikte gilt § 13 StGB nicht (vgl. zusammenfassend Fischer, StGB, 58. Aufl., § 13 Rn. 3 mwN). „Echte“ Unterlassungsdelikte müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 1960 – 2 StR 65/60, BGHSt 14, 280, 281; BayObLG, Beschluss vom 22. Januar 1990 – RReg 1 St/5/90, NJW 1990, 1861; Fischer, aaO, vor § 13 Rn. 16). So verhält es sich letztlich hier. Das pflichtwidrige Garantenverhalten führt im Rahmen von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg, sondern zur strafrechtlichen Haftung für die nicht abgewendete konkrete Gefahr (Küper, aaO, 58 f.). Ist aber aus diesen Gründen § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB echtes Unterlassungsdelikt, sodass § 13 StGB nicht anwendbar ist (so auch die überwiegende Meinung in der Fachliteratur, vgl. zusammenfassend Wielant, aaO, S. 398 mwN in Fußn. 1459, auch für gegenteilige Auffassungen), kann für den hierauf aufbauenden Qualifikationstatbestand des § 221 Abs. 3 StGB nichts anderes gelten.
III. Bewertung
Wie so oft im Strafrecht lässt sich auch über diese Entscheidung vortrefflich streiten. Ich will mich hier nur auf einen Punkt beschränken, nämlich die Aussage, § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB sei ein echtes Unterlassungsdelikt.
Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht angreifbar: Erstens ist nicht eindeutig, dass § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nur durch Unterlassen verwirklicht werden kann. Der Wortlaut („im Stich läßt“) lässt auch eine andere Interpretation zu. Der 1. Senat betont zwar, ein aktives Sich-Entfernen habe neben der unterbleibenden Hilfeleistung keine weitere Bedeutung. Dem kann man mit der Erwägung zustimmen, dass der „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ darin besteht, nicht geholfen zu haben, obwohl dem Täter dies möglich und zumutbar war. Ich habe allerdings Zweifel, ob dieser Einwand stets und in jedem denkbaren Sachverhalt eingreift. Wo liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit, wenn der Täter aktiv eine Gefahrenquelle schafft und er das Opfer dann bei Eintritt der Gefahr nicht rettet? So lag es hier, wenn der Angeklagte das Opfer über die Brüstung stieß (dann läge hier allerdings auch ein Totschlag/Mord vor, der nach der BGH-Rechtsprechung die Aussetzung konsumiert).
Unterstellt man, dass es sich bei § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB um einen Tatbestand handelt, der nur durch Unterlassen verwirklicht werden kann, stellt sich zweitens die Frage, ob es sich um ein echtes oder ein unechtes Unterlassungsdelikt handelt. „Echte“ Unterlassungsdelikte sind nach Ansicht des 1. Senats solche, die keinen Taterfolg aufweisen müssen. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB verlangt nun, dass der Täter das Opfer durch das „im Stich lassen“ der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt. Überwiegend wird angenommen, es bedürfe hierfür einer konkreten Gefahr. Der Nichteintritt des Todes etc. dürfe nur noch vom für den Täter nicht mehr beherrschbaren Zufall abhängen. Handelt es sich bei einer derart eng verstandenen konkreten Gefahr nicht um einen Erfolg? Ein Teil der Literatur schlägt die konkreten Gefährdungsdelikte jedenfalls den Erfolgsdelikten zu (z.B. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, Vor § 13 Rn. 32 m.w.N.).
IV. Examensrelevanz
Mit dem Beschluss positioniert der 1. Senat sich in einigen sehr umstrittenen, grundlegenden Fragen. Die Entscheidung ist deshalb zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen. Ich empfehle sie sowohl Studenten als auch Referendaren nachdrücklich zur Lektüre. Referendare sollten dabei zusätzlich die Ausführungen zur Strafzumessung beachten, die ich hier weggelassen habe.