Der EuGH hat sich in der letzten Woche (Urteil v. 26.2.2013 – C 11/11 – Folkerts, abrufbar hier) wieder einmal zur Fluggastrechte-VO (EG/261/2004) geäußert.
Sachverhalt: Das Ehepaar Folkerts hatte bei Air France einen Flug von Bremen über Paris und São Paulo (Brasilien) nach Asunción in Paraguay gebucht. Sie erhielten bereits bei Flugantritt in Bremen Bordkarten für die gesamte Reise. Der Flug in Bremen startete mit 2,5 Verspätung, weshalb sie ihre beiden Anschlussflüge verpasste und mit einer Verspätung von 11h gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit in Asunción ankamen. Air France verweigerte die Zahlung einer Entschädigung nach Art. 7 Abs. 1 der FluggastVO mit der Begründung, nach Art. 6 der VO käme es auf die Verspätung beim Abflug und nicht bei der Ankunft an.
Grundlage: Ausgleichsanspruch auch für große Verspätung (Rs. Sturgeon)
Interessant ist zunächst, wie es überhaupt zu einem Ausgleichsanspruch für Verspätungen kommt. Denn Art. 6, der Ansprüche bei „Verspätung“ regelt, verweist gerade nicht auf Art. 7 VO, nach dem ein Ausgleichsanspruch geschuldet ist. Auch der systematische Vergleich mit Art. 5, wo sich ein solcher Verweis findet, legt nahe, dass es für Verspätungen eben keinen Ausgleichsanspruch geben soll.
In seinem durchaus umstrittenen Urteil vom 19.11.2009 (Rs. C‑402/07 u.a., Slg. 2009, I‑10923 – Sturgeon u. a.) hat der EuGH dennoch Fluggästen auch für große Verspätungen einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der FluggastVO zugestanden:
- Die Fluggäste, die von einer großen Verspätung betroffen waren, wären im Ergebnis nicht anders gestellt als die von einer Annullierung betroffenen, wenn, wie im Falle des Art. 5 Abs. 1 lit. c) Sublit iii, die Annullierung unmittelbar vor Flugantritt erfolge. Denn in beiden Fällen kämen sie wesentlich später am Zielort an. Sie dürften daher schon aus Gleichheitsgründen nicht anders behandelt werden, denn ihr Schutz solle nach den Erwägungsgründen 1-4, insbesondere 2, gleich intensiv sein.
- Der 15. Erwägungsgrund gehe auch davon aus, dass für große Verspätungen ebenfalls ein Ausgleichsanspruch bestehe. Denn er sagt, von außergewöhnlichen Umständen sei auch bei einer großen Verspätung unter bestimmten Umständen auszugehen. Von dem Vorliegen außergewöhnlicher Umstände macht die VO aber gerade einen Ausschluss des Ausgleichsanspruchs abhängig (vgl. Art. 5 Abs. 3 VO). Die Ausführungen im Erwägungsgrund haben also nur Sinn, wenn auch für große Verspätungen ein Ausgleichsanspruch besteht. Darüber hinaus zeige der Erwägungsgrund auch, dass Annullierung und große Verspätung gleich zu behandeln sein.
- Andererseits scheide die (m.E. naheliegende) Lösung, unter den Begriff der Annullierung auch große Verspätungen zu fassen, aus, denn die VO unterscheide die Begriffe.
- Vielmehr sei der Ausgleichsanspruch in analoger Anwendung des Art. 5 Abs. 1 lit. c) Sublit. iii zu geben, wobei es aber nur auf die insgesamt dreistündige Verspätung ankomme. Er führt aus (Rn. 32):
„Fluggäste, die eine große Verspätung erleiden, d. h. eine Verspätung von drei Stunden oder mehr, ebenso wie Fluggäste, deren ursprünglicher Flug annulliert wurde und denen das Luftfahrtunternehmen keine anderweitige Beförderung unter den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Voraussetzungen anbieten kann, haben einen Ausgleichsanspruch auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004, da sie in ähnlicher Weise einen irreversiblen Zeitverlust und somit Unannehmlichkeiten erleiden.“
Große Verspätung – zu später Abflug oder zu späte Ankunft?
Teleologisch geht es also um den Ausgleich für den Zeitverlust. Dieser hängt nicht davon ab, ob der Reisende rechtzeitig abfliegt, sondern davon, ob er rechtzeitig am Endziel seiner Reise ankommt. Schon deshalb spricht vieles dafür, dass der Zeitverlust bei Ankunft entscheidend sein muss (Rn. 32f.).
Allerdings könnte dem Art. 6 Abs. 1 entgegenstehen, der für die Rechte bei „Verspätungen“ auf die Verzögerung des Abfluges abstellt. Jedoch gibt es – das stellt der EuGH klar – zwei verschiedene Verspätungsbegriffe, an welche die Verordnung jeweils eigene Rechtsfolgen anknüpft. Art. 6 der Verordnung regele nur die Verspätung wegen verspäteten Abfluges (Rn. 29). Hierfür gibt es keinen Entschädigungsanspruch, sondern nur Unterstützungsleistungen. Das ergibt auch Sinn, weil die dortigen Unterstützungsleistungen dafür da sind, den Aufenthalt am Flughafen erträglich zu gestalten, bis es losgeht (vgl. auch Rn. 37f.).
Für den Ausgleichsanspruch kommt es dagegen auf die Verspätung am Ankunftsort an. Dies folgt wohl schon daraus, dass der Ausgleichsanspruch in Entsprechung zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii entwickelt wurde, der ebenfalls – jedenfalls im Ergebnis – auf die Verzögerung der Ankunft abstellt. Auch teleologisch ist – wie bereits dargelegt – dieser Schluss zwingend, denn es soll Ersatz für den insgesamt erlittenen Zeitverlust geleistet werden (Rn. 32f.).
Demnach ist hier entscheidend, wann das Paar an seinem Endziel ankam. Dieses ist definiert nach Art. 2 lit. h):
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck (…)
h) ‚Endziel‘ den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen den Zielort des letzten Fluges; verfügbare alternative Anschlussflüge bleiben unberücksichtigt, wenn die planmäßige Ankunftszeit eingehalten wird.“
Mithin kommt es auf die Verzögerung bei der Ankunft in Paraguay an. Da diese mehr als drei Stunden betrug, haben sie Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 lit. c) VO in Höhe von je 600 €.
Examensrelevanz
Bisher hat nach Kenntnis die FluggastrechteVO im mündlichen oder schriftlichen Examen noch keine Rolle gespielt. Das könnte sich aber demnächst ändern, weil sie inzwischen in der Praxis auch der obersten Gerichte (BGH, EuGH) immer wieder auftaucht. Außerdem ist sie rechtspolitisch interessant, weil sie das erste unmittelbar anwendbare europäische Recht darstellt, das (Kern-) zivilrechtliche Materien regelt und mit dem die Bürger im Alltag in Berührung kommen. Ferner bietet sie eine gute Gelegenheit das selbstständige Verständnis weitgehend unbekannter Normtexte abzuprüfen. Besonders umstritten ist dabei, dass der EuGH den Fluggästen auch im Falle großer Verspätungen einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung zugesteht, obwohl Wortlaut und Systematik der Verordnung gegen einen solchen sprechen. Hieran anknüpfend kann man etwa die Frage nach den Grenzen der Kompetenz des EuGH und ihre Überprüfung durch das BVerfG (dort insbesondere die Grundsätze des Honeywell-Beschlusses v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286; dazu Pötters/Traut, EuR 2011, 580ff.) stellen.