Die Bundesregierung verkündete am 14.3.2011: „Bundesregierung setzt Laufzeitverlängerung für drei Monate aus“ (s. auch den Bericht in der FAZ vom 15.3.2011, S. 1; Bericht bei Spiegel-Online v. 14.3.2011). Aus juristischer Sicht stellt sich die Frage, ob die Regierung einfach die „Aussetzung“ eines Parlamentsgesetzes beschließen kann oder ob dies gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung und der Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt. Ferner sind mögliche Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche auszuloten.
Rechtlicher Hintergrund: Laufzeitverlängerung durch das Elfte Änderungesetz zum AtG
Der rechtliche Hintergrund dieser Aussetzung ist folgender: Die durch das Elfte Änderungsgesetz v. 8.12.2010 gerade erst eingeführten Änderungen im Atomgesetz (§ 7 Abs. 1a – 1e und Anlage 3 AtG) erlauben eine Laufzeitverlängerung. Es wurde die „Reststrommenge“ der Atomkraftwerke erheblich erhöht (vgl. § 7 Abs. 1a i.V.m. Anlage 3 AtG), ferner wurde die Übertragung von Reststrommengen erleichtert. Ohne die Erhöhung der Strommenge/der Übertragung von Reststrommengen hätten die sieben Atomkraftwerke, die jetzt wegen der Katastrophe in Japan abgeschaltet werden sollen, vom Netz gehen müssen.
Verstoß gegen die Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG)?
Ein solche „exekutive Abschaffung“ eines Gesetzes ist hochproblematisch. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Daraus folgt nicht nur die Verpflichtung, nicht „aktiv“ gegen Gesetze zu verstoßen, sondern auch, sie anzuwenden. Das BVerfG führt aus:
Aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3) folgt vielmehr, daß die zuständigen Behörden verpflichtet sind, die nach dem Gesetz entstandenen Leistungsansprüche geltend zu machen, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen (BVerfGE 25, 216 [228]). Jede Ausnahme von diesem Grundsatz bedarf einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung.“ (BVerfGE 30, 292, 332; Hervorhebung vom Verfasser)
Die Exekutive kann also nicht einfach ein Gesetz unangewendet lassen, weil es ihr politisch oder aus sonstigen Gründen „nicht mehr in den Kram passt“. Dies folgt auch aus dem Prinzip der Gewaltenteilung, das allerdings insofern neben Art. 20 Abs. 3 GG keine eigene Bedeutung hat.
Rechtfertigung eines Aussetzens?
Andererseits kann natürlich auch keine Pflicht der Exekutive zur blinden Anwendung der Gesetze bestehen. Angesichts der relativ langen parlamentarischen Entscheidungswege können Situationen auftreten, in denen das Gesetz durch die Entwicklung der Sachlage gleichsam überholt wird, etwa wenn – hypothetisch – bei der Nichtabschaltung bestimmter Atomkraftwerke eine Massenpanik in der Bevölkerung drohte. Allerdings ist auch dann nicht das weitere Vorgehen in das Belieben der Exekutive gestellt. Die ausnahmsweise „Aussetzung von Gesetzen“ führt richtigerweise nicht zu einer „Durchbrechung“ des Art. 20 Abs. 3 GG, sondern zu einer „praktischen Konkordanz“ des in konkreten Fall nicht angewandten Gesetzes mit anderen gesetzlichen Regelungen und, nötigenfalls, mit unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Rechtssätzen (im Beispiel: Allgemeines Ordnungsrecht, notfalls Schutzpflichten aus der Verfassung). Die Regierung bleibt insgesamt an die Rechtsordnung gebunden und darf Gesetze nur unangewendet lassen, wenn andere Rechtsnormen dies fordern. Letztlich bleibt das Gesetz unangewendet, um Widersprüche in der Rechtsordnung aufzulösen. Die Exekutive hat also keinen politischen Spielraum (außer dem, der aus ihrer verfassungsrechtlichen Stellung folgt und wieder rechtlich abgesichert ist), sondern ist rechtlich verpflichtet, das Gesetz unangewendet zu lassen. Damit bleibt die Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG intakt.
In jedem Fall muss sie, um den Eingriff in die Rechte des Parlaments möglichst gering zu halten, möglichst bald eine Entscheidung des Parlaments einholen und solange nur Maßnahmen treffen, die unmittelbare Gefahren abwehren, im Übrigen aber versuchen die Entscheidungsfreiheit des Parlamentes zu erhalten.
Entsprechend den obigen Ausführungen beruft sich im vorliegenden Kontext auch die Bundesregierung für die zeitweilige Abschaltung der Atommeiler auf § 19 Abs. 3 AtG:
(3) 1Die Aufsichtsbehörde kann anordnen, daß ein Zustand beseitigt wird, der den Vorschriften dieses Gesetzes oder der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen, den Bestimmungen des Bescheids über die Genehmigung oder allgemeine Zulassung oder einer nachträglich angeordneten Auflage widerspricht oder aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können. 2Sie kann insbesondere anordnen,
- 1.dass und welche Schutzmaßnahmen zu treffen sind,
- 2.dass radioaktive Stoffe bei einer von ihr bestimmten Stelle aufbewahrt oder verwahrt werden,
- 3.dass der Umgang mit radioaktiven Stoffen, die Errichtung und der Betrieb von Anlagen der in den §§ 7 und 11 Abs. 1 Nr. 2 bezeichneten Art sowie der Umgang mit Anlagen, Geräten und Vorrichtungen der in § 11 Abs. 1 Nr. 3 bezeichneten Art einstweilen oder, wenn eine erforderliche Genehmigung nicht erteilt oder rechtskräftig widerrufen ist, endgültig eingestellt wird.
Nach § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 kann die Aufsichtsbehörde anordnen, dass der Betrieb von Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität (§ 7 Abs. 1 S. 2 AtG), auch wenn sie genehmigt sind, einstweilen eingstellt wird. Voraussetzung dafür ist aber nach § 3 Abs. 1 S. 1 AtG – hier werden nur die in Frage kommenden Modalitäten genannt – dass ein Zustand besteht, der dem Gesetz, der Genehmigung der Anlage widerspricht oder aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können.
Die ersten Varianten – Verstoß gegen das Gesetz oder die Genehmigung – liegen sicher nicht vor. Fraglich ist also, ob Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter vorliegen. Auch das wird man wohl verneinen müssen, denn gegenüber der Genehmigung, die das allgemeine Restrisiko „legalisiert“, hat sich M.E. keine Änderung der Gefährdungslage ergeben. Die abstrakte Gefährdung atomarer Anlangen durch Erdbeben ist bekannt und wird in Deutschland bei Genehmigungsverfahren nach meinen Informationen auch untersucht. Das japanische Unglück hat die Folgen möglicher Erdbeben besonders drastisch vor Augen geführt, aber wohl nicht die Bewertung derartiger Vorkommnisse durch Fachleute geändert. Ferner bleibt in jedem Fall fraglich, inwieweit man die japanischen Erkenntnisse auf Deutschland übertragen kann. Allerdings kann man hier sicherlich auch in die andere Richtung argumentieren. Zu der Norm ausführlich der sehr lesenswerte Artikel von Simon.
Rechtsfolgen eines unzulässigen Aussetzens
§ 839 BGB?
- Amtspflichtverletzung? Z.B. Falsche Auslegung von Gesetzen, Nichtbeachtung höchstrichterlicher Rechsprechung (vgl. BGHZ 84, 285, 287 = NJW 1983, 222, 223; BGHZ 119, 365, 369 f = NJW 1993, 530; BGH NJW 1994, 3158 f; Bamberger/Roth-Reinert § 839 Rn. 3).
- Drittbezogenheit ist hier kein großes Problem, da die Unternehmen Adressat der Maßnahme sind (vgl. Bamberger/Roth-Reinert § 839 Rn. 56).
- Verschulden – Fahrlässigkeit? Jedenfalls (+) wenn das Aussetzen rechtlich unvertretbar.
- Kausaler Schaden – hier aufpassen: Nicht einfach den Ausfall der Einkünfte ansetzen. Sollte die gesetzliche Regelung in der bisherigen Form bestehen bleiben, so ist der wirtschaftliche Wert der Laufzeitverlängerung in der Reststrommenge „verköpert“. Solange das Kraftwerk vom Netz geht, verbraucht es die Reststrommenge nicht. Sie kann später noch verbraucht werden. Das Stromunternehmen verliert also die Einkünft nicht, sie werden nur verschoben. Dies muss als Vorteil angerechnet werden (oder in der Differenzbetrachtung beachtet werden). Mögliche Schäden sind daher insbesondere die Erhaltung des „kalten Kraftwerks“ während des Moratoriums, Verzinsung, weil Gewinn später anfällt, und Schwankungen im Strompreis (sollte dieser allerdings zu einem späteren Zeitpunkt höher sein, müsste auch dies beachtet werden).
- § 839 Abs. 1 S. 2 BGB
- § 839 Abs. 3 BGB
Enteignungsgleicher Eingriff?
- Eingriff in von Art. 14 GG geschützte Rechtsposition? Wohl ja, da Laufzeitverlängerung durch Gesetz bereits in Kraft. Hier kann man kurz diskutieren, weil man argumentieren kann, dass nur eine „zusätzliche Begünstigung“ wieder entzogen wird. Halte ich aber für falsch, weil es zumindest im Gesetz steht, also Art. 14 Abs. 1 GG (+). Dieser Aspekt ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit, die aber beim enteignungsgleichen Eingriff allenfalls kurz unter dem Aspekt des Sonderopfers aufgegriffen werden sollte und hier auch nicht entscheidend ist, da M.E. der Eingriff schon deshalb rechtswidrig ist, weil er ohne gesetzliche Grundlage erfolgt.
- Hoheitliche Maßnahme? (+) Verfügung
- Unmittelbarkeit (+)
- Sonderopfer? Hier durch Rechtswidrigkeit der Maßnahme indiziert. Keine Widerlegung (s.o., a.A. vertretbar).
- Vorrang des Primärrechtsschutzes
