Wir freuen uns, folgenden Gastbeitrag von Marcus Schnetter veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1385 Recht und Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
„Die Wohnung ist unverletzlich“. In galanter Prägnanz warnt Art. 13 Abs. 1 GG den Staat eindringlich davor, in die intimsten Rückzugsräume seiner Bürgerinnen und Bürger einzudringen. Dieser Beitrag behandelt den damit durch die Verfassung garantierten Schutzbereich. Durch die aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie gewinnen dessen Gewährleistungen ungeahnte Examensrelevanz.
Schutzgut, Bedeutung und Geschichte
Historisch lässt sich die Unverletzlichkeit der Wohnung bereits in den Vorläuferverfassungen nachweisen. Wortgleich formulierten bereits Art. 6 der Preußischen Verfassung und § 140 der Paulskirchenverfassung ein entsprechendes Abwehrrecht des Bürgers gegen staatliche Übergriffe. Auch die Weimarer Reichsverfassung erachtete in ihrem Art. 115 die Wohnung als unverletzliche Freistätte jedes Deutschen. Von Störungen freigehalten werden soll damit die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet. Der enge Bezug zur Menschenwürde und zur Persönlichkeitsentfaltung, wie er in Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EuGrCH noch deutlicher zum Vorschein kommt, macht es zu einem ausgesprochen wertigen Grundrecht. Kurz und bündig geht es um das Recht „in Ruhe gelassen zu werden“ (BVerfGE 89, 1, 12)
Sachlicher Schutzbereich
Der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG nimmt ein deutlich extensiveres Verständnis in Bezug, als es auf den Blick erscheinen mag. Die Garantie ist gerade nicht im wörtlichen Sinne nur auf die Wohnung, also auf Stätten des privaten Lebens beschränkt, in denen wir uns von der Öffentlichkeit zurückziehen, um in ungestörter Ruhe zu schlafen, zu essen und unsere Freizeit zu gestalten. Vielmehr geht mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ein weiter Wohnungsbegriff einher: Geschützt sind daher auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten, selbst wenn diese öffentlich zugänglich sind (BVerfGE 97, 228, 242).
Gegen diese Schutzbereichsausdehnung wird in der Literatur der personale Gehalt des Art. 13 GG ins Feld geführt. Die enge Verbindung zur Menschenwürde und zur Persönlichkeitsentfaltung spreche dafür, den Schutzbereich auf natürliche Personen zu begrenzen. Von der verfassungsgerichtlichen Ausweitung würden jedoch in erster Linie juristische Personen profitieren, die sich unstreitig gerade nicht auf das personal angelegte Konzept von Würde und Persönlichkeitsentfaltung berufen können (Dreier/Hermes, Grundgesetz-Kommentar, Art. 13 GG Rn. 26). Für die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts spricht jedoch die schwere Abgrenzbarkeit von Wohn- und Arbeitsraum (v. Mangoldt/Klein/Starck/Gornig, Grundgesetz, Art. 13 GG Rn. 22). Gerade in Zeiten vermehrter Erwerbsarbeit von Zuhause aus verschwimmen die Grenzen zwischen home und office. Mit der Schutzbereichsausdehnung wird die Bedeutung von Art. 13 GG durch die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG aufgeladen, was der Norm ihre größtmögliche Wirkungskraft verleiht.
Gut begründen lässt sich indessen auch eine vermittelnde Ansicht, wonach Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten zumindest dann vom Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG ausgeschlossen sind, wenn diese jeder und jedem zugänglich sind. Schutzwürdige Belange der Privatsphäre oder Persönlichkeitsentfaltung sind bei solchen der Öffentlichkeit zugewandten Stätten kaum noch erkennbar (Epping, Grundrechte, Rn. 666-668)
Persönlicher Schutzbereich
In persönlicher Hinsicht differenziert der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG dementsprechend: Auf den Schutz von Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten können sich sowohl natürliche als auch juristische Personen berufen. Grundrechtsträger im Sinne des engen Wohnungsbegriffs sind indessen alleine natürliche Personen.
Die Relevanz des Schutzes der Wohnung im Zuge aktueller Entwicklungen
Des Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG verdient angesichts der jüngsten Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus nähere Aufmerksamkeit.
Es stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, wenn die Länder zur Bekämpfung der Pandemie „in die Wohnung hineinregieren“. So verbietet beispielsweise die Hamburgische SARS-CoV-2-EindämmungsVO in ihrem § 4a Abs. 2 die Zusammenkunft von mehr als zehn Personen im privaten Wohnraum. Wenn aber ein Bürger das Recht hat, vom Staat in seinen eigenen vier Wänden in Ruhe gelassen zu werden, stellt dann nicht ein Verbot des Zusammenkommens in seiner Privatwohnung eine rechtfertigungsbedürftige Verkürzung des Gewährleistungsgehalts von Art. 13 Abs. 1 GG dar?
Richtigerweise schützt Art. 13 Abs. 1 GG aber nicht jegliche Nutzung der Wohnung. Denn die Unverletzlichkeit der Wohnung ist keine zwingende Voraussetzung, um sich mit Freunden oder Familie zusammenzufinden. Für den Genuss von Privatsphäre und das Ausleben der eigenen Persönlichkeit ist ein ungestörter Rückzugsraum hingegen conditio sine qua non. Der bloß zufällige Bezug zur Wohnung genügt dementsprechend nicht. Das Verbot des Reitens im Walde wird ja auch nicht zur Frage des Art. 14 Abs. 1 GG, nur weil ein Reiter sein ihm gehörendes Pferd ausführt (BVerfGE 80, 137). Die historische Bedeutung der Norm weist ebenfalls darauf hin, dass nur der spezifische Einblick des Staates in das Treiben innerhalb der Wohnung rechtfertigungsbedürftig sein soll. Mit anderen Worten: „Auch das soziale Zusammentreffen von Menschen in einer Wohnung wird erst dann zu einem Thema dieses Grundrechts, sobald der Staat sich mit einem Fuß, Auge oder Ohr in die Wohnung hineinbegeben möchte“ (Kluckert, VerfBlog, 2020/11/07, auch näher zur Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 13 Abs. 1 GG)
Novelle der Corona-Schutzverordnung NRW: Legaldefinition des „öffentlichen Raums“
Interessant wird die genaue Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 13 Abs. 1 GG auch im Zusammenhang mit der Neuregelung der Corona-Schutzverordnung NRW. Anders als beispielsweise Hamburg und einige andere Bundesländer sieht der nordrhein-westfälische Verordnungsgeber von einer Regelung der Wohnungsnutzung im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen explizit ab.
Dies gelingt ihm über die Konkretisierung des Begriffs vom „öffentlichen Raum“. Dieser umfasst nach § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW „alle Bereiche mit Ausnahme des nach Art. 13 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützten Bereichs.“
Aber Halt! Wir erinnern uns: Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG fallen auch öffentlich zugängliche Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten in den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG. Das ist deswegen höchst relevant, weil die Verhaltenspflichten in Bezug auf das Coronavirus – vom einzuhaltenden Mindestabstand über die Maskenpflicht bis zu den Kontaktbeschränkungen – nur für den Aufenthalt in ebenjenem öffentlichen Raum gelten. Das hieße im Umkehrschluss, dass diese Stätten des privaten Wirkens nicht mehr von den Regelungen der Verordnung umfasst wären. Dementsprechend würden beispielsweise in Supermärkten, Büroräumen, Werkstätten, Lagerhallen und Frisören die gerade verschärften Regelungen keine Anwendung mehr finden. Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen wären in diesen Bereichen hinfällig.
Ein regelungstechnisches Versehen
Dies kann offensichtlich nicht im Sinne des Verordnungsgebers gewesen sein. Das zeigt schon ein systematisch-vergleichender Blick in den Regelungskomplex. Ginge man davon aus, dass Geschäftsstellen (also bspw. Supermärkte) als nicht-öffentlicher Raum vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen seien, wäre eine Regelung wie § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Corona-Schutzverordnung NRW schlechterdings sinnlos. Diese verpflichtet „zum Tragen einer Alltagsmaske [..] in geschlossenen Räumlichkeiten im öffentlichen Raum, soweit diese – mit oder ohne Eingangskontrolle – auch Kundinnen und Kunden beziehungsweise Besucherinnen und Besuchern zugänglich sind, sowie auf Märkten und ähnlichen Verkaufsstellen im Außenbereich“. Neben den hiermit in Bezug genommenen Verkaufsräumen, zählen nach dem impliziten Willen des Verordnungsgebers auch Büroräume zum „öffentlichen Raum“, wie sich aus einem Umkehrschluss aus § 3 Abs. 2 S. 2 Corona-Schutzverordnung NRW ergibt.
Darüber hinaus ist auch das Zustandekommen der neuen Verordnung zu berücksichtigen. Die Landesregierung wollte mit der Neufassung bekanntermaßen strengere Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Verbreitung des Coronavirus umsetzen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber mit der negativ-akzessorischen Anknüpfung an den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG den Anwendungsbereich der Verordnung (so massiv) beschränken wollte. Die en passant eingeführte Legaldefinition des Begriffs des öffentlichen Raums ist daher ein regelungstechnisches Versehen par excellence. Vor uns liegt der klassische Fall eines Widerspruchs von verba und voluntas.
Teleologische Reduktion als methodisch zulässige Korrektur
Dieser Widerspruch kann (und muss) mittels einer teleologischen Reduktion der Anknüpfung an Art. 13 Abs. 1 GG in § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW gelöst werden. Richtigerweise verweist § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW dann nur noch auf eine Wohnung im engeren Sinne, also einen Raum, der aufgrund äußerer Vorrichtungen nicht allgemein zugänglich ist, sich für einen länger andauernden Aufenthalt eignet und dazu bestimmt ist, dem menschlichen Bedürfnis nach einem individuellen Rückzugsort zu dienen. Methodisch wird dabei nicht am Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG angesetzt, sondern lediglich der Umfang des durch § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW erfolgten Verweises im Sinne des Verordnungsgebers reduziert.
Für die Zukunft sollte der Verordnungsgeber freilich schnellstmöglich das Missverständnis beseitigen, indem er eine eigenständige Definition des Begriffs des öffentlichen Raumes vornimmt.
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