Wir freuen uns, folgenden Gastbeitrag von Marcus Schnetter veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1385 Recht und Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
„Die Wohnung ist unverletzlich“. In galanter Prägnanz warnt Art. 13 Abs. 1 GG den Staat eindringlich davor, in die intimsten Rückzugsräume seiner Bürgerinnen und Bürger einzudringen. Dieser Beitrag behandelt den damit durch die Verfassung garantierten Schutzbereich. Durch die aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie gewinnen dessen Gewährleistungen ungeahnte Examensrelevanz.
Schutzgut, Bedeutung und Geschichte
Historisch lässt sich die Unverletzlichkeit der Wohnung bereits in den Vorläuferverfassungen nachweisen. Wortgleich formulierten bereits Art. 6 der Preußischen Verfassung und § 140 der Paulskirchenverfassung ein entsprechendes Abwehrrecht des Bürgers gegen staatliche Übergriffe. Auch die Weimarer Reichsverfassung erachtete in ihrem Art. 115 die Wohnung als unverletzliche Freistätte jedes Deutschen. Von Störungen freigehalten werden soll damit die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet. Der enge Bezug zur Menschenwürde und zur Persönlichkeitsentfaltung, wie er in Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EuGrCH noch deutlicher zum Vorschein kommt, macht es zu einem ausgesprochen wertigen Grundrecht. Kurz und bündig geht es um das Recht „in Ruhe gelassen zu werden“ (BVerfGE 89, 1, 12)
Sachlicher Schutzbereich
Der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG nimmt ein deutlich extensiveres Verständnis in Bezug, als es auf den Blick erscheinen mag. Die Garantie ist gerade nicht im wörtlichen Sinne nur auf die Wohnung, also auf Stätten des privaten Lebens beschränkt, in denen wir uns von der Öffentlichkeit zurückziehen, um in ungestörter Ruhe zu schlafen, zu essen und unsere Freizeit zu gestalten. Vielmehr geht mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ein weiter Wohnungsbegriff einher: Geschützt sind daher auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten, selbst wenn diese öffentlich zugänglich sind (BVerfGE 97, 228, 242).
Gegen diese Schutzbereichsausdehnung wird in der Literatur der personale Gehalt des Art. 13 GG ins Feld geführt. Die enge Verbindung zur Menschenwürde und zur Persönlichkeitsentfaltung spreche dafür, den Schutzbereich auf natürliche Personen zu begrenzen. Von der verfassungsgerichtlichen Ausweitung würden jedoch in erster Linie juristische Personen profitieren, die sich unstreitig gerade nicht auf das personal angelegte Konzept von Würde und Persönlichkeitsentfaltung berufen können (Dreier/Hermes, Grundgesetz-Kommentar, Art. 13 GG Rn. 26). Für die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts spricht jedoch die schwere Abgrenzbarkeit von Wohn- und Arbeitsraum (v. Mangoldt/Klein/Starck/Gornig, Grundgesetz, Art. 13 GG Rn. 22). Gerade in Zeiten vermehrter Erwerbsarbeit von Zuhause aus verschwimmen die Grenzen zwischen home und office. Mit der Schutzbereichsausdehnung wird die Bedeutung von Art. 13 GG durch die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG aufgeladen, was der Norm ihre größtmögliche Wirkungskraft verleiht.
Gut begründen lässt sich indessen auch eine vermittelnde Ansicht, wonach Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten zumindest dann vom Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG ausgeschlossen sind, wenn diese jeder und jedem zugänglich sind. Schutzwürdige Belange der Privatsphäre oder Persönlichkeitsentfaltung sind bei solchen der Öffentlichkeit zugewandten Stätten kaum noch erkennbar (Epping, Grundrechte, Rn. 666-668)
Persönlicher Schutzbereich
In persönlicher Hinsicht differenziert der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG dementsprechend: Auf den Schutz von Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten können sich sowohl natürliche als auch juristische Personen berufen. Grundrechtsträger im Sinne des engen Wohnungsbegriffs sind indessen alleine natürliche Personen.
Die Relevanz des Schutzes der Wohnung im Zuge aktueller Entwicklungen
Des Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG verdient angesichts der jüngsten Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus nähere Aufmerksamkeit.
Es stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt zulässig ist, wenn die Länder zur Bekämpfung der Pandemie „in die Wohnung hineinregieren“. So verbietet beispielsweise die Hamburgische SARS-CoV-2-EindämmungsVO in ihrem § 4a Abs. 2 die Zusammenkunft von mehr als zehn Personen im privaten Wohnraum. Wenn aber ein Bürger das Recht hat, vom Staat in seinen eigenen vier Wänden in Ruhe gelassen zu werden, stellt dann nicht ein Verbot des Zusammenkommens in seiner Privatwohnung eine rechtfertigungsbedürftige Verkürzung des Gewährleistungsgehalts von Art. 13 Abs. 1 GG dar?
Richtigerweise schützt Art. 13 Abs. 1 GG aber nicht jegliche Nutzung der Wohnung. Denn die Unverletzlichkeit der Wohnung ist keine zwingende Voraussetzung, um sich mit Freunden oder Familie zusammenzufinden. Für den Genuss von Privatsphäre und das Ausleben der eigenen Persönlichkeit ist ein ungestörter Rückzugsraum hingegen conditio sine qua non. Der bloß zufällige Bezug zur Wohnung genügt dementsprechend nicht. Das Verbot des Reitens im Walde wird ja auch nicht zur Frage des Art. 14 Abs. 1 GG, nur weil ein Reiter sein ihm gehörendes Pferd ausführt (BVerfGE 80, 137). Die historische Bedeutung der Norm weist ebenfalls darauf hin, dass nur der spezifische Einblick des Staates in das Treiben innerhalb der Wohnung rechtfertigungsbedürftig sein soll. Mit anderen Worten: „Auch das soziale Zusammentreffen von Menschen in einer Wohnung wird erst dann zu einem Thema dieses Grundrechts, sobald der Staat sich mit einem Fuß, Auge oder Ohr in die Wohnung hineinbegeben möchte“ (Kluckert, VerfBlog, 2020/11/07, auch näher zur Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 13 Abs. 1 GG)
Novelle der Corona-Schutzverordnung NRW: Legaldefinition des „öffentlichen Raums“
Interessant wird die genaue Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 13 Abs. 1 GG auch im Zusammenhang mit der Neuregelung der Corona-Schutzverordnung NRW. Anders als beispielsweise Hamburg und einige andere Bundesländer sieht der nordrhein-westfälische Verordnungsgeber von einer Regelung der Wohnungsnutzung im Hinblick auf Kontaktbeschränkungen explizit ab.
Dies gelingt ihm über die Konkretisierung des Begriffs vom „öffentlichen Raum“. Dieser umfasst nach § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW „alle Bereiche mit Ausnahme des nach Art. 13 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützten Bereichs.“
Aber Halt! Wir erinnern uns: Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG fallen auch öffentlich zugängliche Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsstätten in den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG. Das ist deswegen höchst relevant, weil die Verhaltenspflichten in Bezug auf das Coronavirus – vom einzuhaltenden Mindestabstand über die Maskenpflicht bis zu den Kontaktbeschränkungen – nur für den Aufenthalt in ebenjenem öffentlichen Raum gelten. Das hieße im Umkehrschluss, dass diese Stätten des privaten Wirkens nicht mehr von den Regelungen der Verordnung umfasst wären. Dementsprechend würden beispielsweise in Supermärkten, Büroräumen, Werkstätten, Lagerhallen und Frisören die gerade verschärften Regelungen keine Anwendung mehr finden. Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen wären in diesen Bereichen hinfällig.
Ein regelungstechnisches Versehen
Dies kann offensichtlich nicht im Sinne des Verordnungsgebers gewesen sein. Das zeigt schon ein systematisch-vergleichender Blick in den Regelungskomplex. Ginge man davon aus, dass Geschäftsstellen (also bspw. Supermärkte) als nicht-öffentlicher Raum vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen seien, wäre eine Regelung wie § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Corona-Schutzverordnung NRW schlechterdings sinnlos. Diese verpflichtet „zum Tragen einer Alltagsmaske [..] in geschlossenen Räumlichkeiten im öffentlichen Raum, soweit diese – mit oder ohne Eingangskontrolle – auch Kundinnen und Kunden beziehungsweise Besucherinnen und Besuchern zugänglich sind, sowie auf Märkten und ähnlichen Verkaufsstellen im Außenbereich“. Neben den hiermit in Bezug genommenen Verkaufsräumen, zählen nach dem impliziten Willen des Verordnungsgebers auch Büroräume zum „öffentlichen Raum“, wie sich aus einem Umkehrschluss aus § 3 Abs. 2 S. 2 Corona-Schutzverordnung NRW ergibt.
Darüber hinaus ist auch das Zustandekommen der neuen Verordnung zu berücksichtigen. Die Landesregierung wollte mit der Neufassung bekanntermaßen strengere Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Verbreitung des Coronavirus umsetzen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber mit der negativ-akzessorischen Anknüpfung an den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG den Anwendungsbereich der Verordnung (so massiv) beschränken wollte. Die en passant eingeführte Legaldefinition des Begriffs des öffentlichen Raums ist daher ein regelungstechnisches Versehen par excellence. Vor uns liegt der klassische Fall eines Widerspruchs von verba und voluntas.
Teleologische Reduktion als methodisch zulässige Korrektur
Dieser Widerspruch kann (und muss) mittels einer teleologischen Reduktion der Anknüpfung an Art. 13 Abs. 1 GG in § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW gelöst werden. Richtigerweise verweist § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW dann nur noch auf eine Wohnung im engeren Sinne, also einen Raum, der aufgrund äußerer Vorrichtungen nicht allgemein zugänglich ist, sich für einen länger andauernden Aufenthalt eignet und dazu bestimmt ist, dem menschlichen Bedürfnis nach einem individuellen Rückzugsort zu dienen. Methodisch wird dabei nicht am Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG angesetzt, sondern lediglich der Umfang des durch § 1 Abs. 5 Corona-Schutzverordnung NRW erfolgten Verweises im Sinne des Verordnungsgebers reduziert.
Für die Zukunft sollte der Verordnungsgeber freilich schnellstmöglich das Missverständnis beseitigen, indem er eine eigenständige Definition des Begriffs des öffentlichen Raumes vornimmt.
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Neue Entscheidung des BVerfG: Richtervorbehalt aus Art. 13 GG kann nächtlichen Bereitschaftsdienst erforderlich machen
BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Examensvorbereitung, Lerntipps, Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, VerfassungsrechtEine aktuelle Entscheidung aus Karlsruhe mit besonders hoher Klausurrelevanz: Der Beschluss des BVerfG vom 12. März 2019 – 2 BvR 675/14 gibt Aufschluss über die aus der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG resultierenden Pflicht des Staates, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zu sichern – im Zweifel auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes. Die Erwägungen des Gerichts betreffen in weiten Teilen auch Grundlegendes zur praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehaltes und damit eine Materie, die insbesondere in öffentlich-rechtlichen Examensklausuren gerne Prüfungsgegenstand ist. Schon deshalb ist jedem Kandidaten geraten, sich mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts zu beschäftigen:
I. Sachverhalt (dem Beschluss entnommen)
Der Beschwerdeführer wurde an einem frühen Samstagmorgen, dem 14. September 2013, von Rettungskräften in Rostock aufgefunden. Er befand sich infolge eines akuten Rauschzustands in hilfloser Lage, hatte keine Dokumente bei sich und konnte weder zu seiner Person noch zu konsumierten Rauschmitteln Angaben machen. Da die Rettungskräfte vermuteten, dass er Rauschpilze oder ähnlich wirkende Betäubungsmittel zu sich genommen hatte, verständigten sie die Polizei. Nach ihrem Eintreffen gegen 4 Uhr versuchten die Polizeibeamten vergeblich, von einer Zeugin zu erfahren, um wen es sich bei der hilflosen Person handle, brachten aber in Erfahrung, dass sie in unmittelbarer Nähe wohne. Da die Rettungskräfte baten, in der Wohnung nach Personaldokumenten und Hinweisen darauf zu suchen, was die Person zu sich genommen haben könnte, betraten die Polizeibeamten die Wohnung, während der Beschwerdeführer in das Universitätsklinikum Rostock verbracht wurde. Die Wohnung teilte sich der Beschwerdeführer mit einem zu diesem Zeitpunkt abwesenden Mitbewohner. Im Zimmer des Beschwerdeführers fanden die Polizeibeamten zwei große Plastiktüten mit Cannabisprodukten, eine Feinwaage sowie eine Haschischpfeife und nahmen starken Cannabisgeruch wahr.
Aufgrund ihres Fundes sahen die Polizeibeamten einen Verdacht gegen den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln begründet. Sie hielten deshalb telefonisch Rücksprache mit der zuständigen Bereitschaftsstaatsanwältin der Staatsanwaltschaft Rostock, die um 4:44 Uhr die Durchsuchung der Wohnung zur Beschlagnahme von Beweismitteln anordnete. Die Bereitschaftsstaatsanwältin folgte der Argumentation der Polizeibeamten, es bestehe Gefahr im Verzug, weil sich der Beschwerdeführer jederzeit aus dem Universitätsklinikum Rostock entfernen könne. Dass sie zuvor versucht hatte, den zuständigen Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Rostock zu erreichen, lässt sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Bei der im Anschluss vollzogenen Durchsuchung des Zimmers des Beschwerdeführers und der Gemeinschaftsräume wurde umfangreiches Beweismaterial beschlagnahmt, unter anderem Cannabisprodukte mit einem THC-Gehalt von insgesamt über 44 Gramm.
Im weiteren Verlauf des 14. September 2013 ordnete das Amtsgericht Rostock auf Antrag der Staatsanwaltschaft die nochmalige Durchsuchung des Wohnraums des Beschwerdeführers sowie der gemeinschaftlich genutzten Küche und des Bades an, da zu vermuten sei, dass unter Einsatz eines Drogenspürhundes weitere Betäubungsmittel aufgefunden werden könnten. Diese Erwartung bestätigte sich nicht.
II. Richtervorbehalt aus Art. 13 Abs. 2 GG und Gefahr im Verzug
Wohnungsdurchsuchungen bedürfen grundsätzlich der richterlichen Anordnung, Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG. Die richterliche Durchsuchungsanordnung – und dies zeigen bereits Wortlaut und Systematik der Norm – bildet den Regelfall, mit der Folge, dass die nichtrichterliche die Ausnahme bleiben soll (vgl. BVerfGE 103, 142 (153)). Nur bei Gefahr im Verzug sollen andere staatliche Organe eine Anordnungsbefugnis haben. Ordnen die Strafverfolgungsbehörden eine Durchsuchung an, entfällt in erster Linie die präventive Kontrolle durch einen unabhängigen Richter. Es liegt auf der Hand, dass hiermit Gefahren für die effektive Durchsetzung des Grundrechtsschutzes einhergehen. Prüft der zuständige Richter erst nachträglich den mit der Durchsuchung einhergehenden Grundrechtseingriff, können die mit einer Durchsuchung verbundenen Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Verbindet man diese Erkenntnis mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von Richtervorbehalt und Anordnung durch anderweitige Staatsorgane, muss schlussgefolgert werden, dass der Begriff „Gefahr im Verzug“ i.S.v. Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG restriktiv auszulegen ist. Die praktische Konsequent ist dann, dass Gefahr im Verzug nur anzunehmen ist, „wenn die richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme – regelmäßig die Sicherung von Beweismitteln – gefährdet würde“ (vgl. BVerfGE 51, 97 (111)).
Wann aber kann eine richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden? Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG kann Gefahr im Verzug nicht lediglich damit, dass eine richterliche Entscheidung für gewöhnlich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einer gewissen Zeitspanne mangels Erreichbarkeit eines Richters zu erlangen sei, begründet werden (BVerfGE 103, 142 (155)). Ein solcher abstrakter Verweis genügt den strengen Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG in keinem Fall. Das Verfassungsgericht stellt vielmehr auf den Einzelfall ab: „Gefahr im Verzug liegt in einem solchen Fall nur vor, wenn ein richterlicher Bereitschaftsdienst zu dieser Zeit im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 GG nicht eingerichtet wurde und ein Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters nicht möglich ist.“
III. Konkretisierung dieser Vorgaben für Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes
Aus dem engen Verständnis der Dispensvorschrift ergeben sich unmittelbare Folgen für die Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes: Praktische Wirksamkeit entfaltet der grundrechtssichernde Richtervorbehalt nur, wenn den Gerichten die (verfassungsrechtliche) Pflicht auferlegt wird, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters – sofern notwendig – durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes zu sichern. Die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters muss deshalb auch außerhalb der üblichen Dienststunden möglich sein. Problematisch sind insoweit regelmäßig nächtliche Durchsuchungsanordnungen. Hier stellt des BVerfG nun fest:
„Weil nach den heutigen Lebensgewohnheiten zumindest die Zeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen ist, ist es von Verfassungs wegen geboten, dass sich der Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen auch in den Monaten April bis September auf die Zeit von 4 Uhr bis 6 Uhr morgens erstreckt. Dies folgt unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 GG. Dabei kann das Regelungskonzept aus § 104 Abs. 1 und Abs. 2 StPO übertragen werden, so dass Wohnungsdurchsuchungen zur Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug oder zur Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen zulässig bleiben und sich die Durchsuchungsbeschränkungen nicht auf die in § 104 Abs. 2 StPO genannten Räume erstrecken.“
Da in der Nachtzeit allerdings regelmäßig von einem geringeren Bedarf an Anordnungen ausgegangen werden kann, ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst nur unter bestimmten Voraussetzungen geboten. Das Verfassungsgericht entschied, dass Notwendigkeit hierfür nur soweit besteht, wie ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen besteht. Bleibt es beim jeweils zuständigen Gericht jedoch bei Ausnahmefällen, kann entsprechend dem Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG auch ohne einen richterlichen Notdienst vorgegangen werden.
IV. Beurteilungs- und Prognosespielraum der Gerichtspräsidien
Da sich ein abstrakter Verweis auf Zeitpunkte oder Zeiten, in denen eine Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters üblicherweise nicht in Betracht kommt, nicht ausreicht, muss auf das einzelne Gericht abgestellt werden. Maßgeblich ist danach die Frequenz, in der außerhalb der üblichen Zeiten Anordnungen ergehen müssen bzw. Notwendigkeit hierfür besteht. Wann ein erhöhter Bedarf besteht – so nun ausdrücklich das BVerfG – hat das Gerichtspräsidium nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Wie der Bedarf ermittelt wird, können die Präsidien dabei im Rahmen eines Beurteilungs- und Prognosespielraums selbst entscheiden. Hier ist Vorsicht geboten: Das BVerfG spricht den Gerichten keinen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Entscheidung über das „Ob“ der Bedarfsermittlung zu, vielmehr beschränkt sich der Spielraum auf das „Wie“.
Die spezifischen Verhältnisse im jeweiligen Gerichtsbezirk können nach Auffassung des Verfassungsgerichts auf unterschiedliche Art und Weise ermittelt werden. Eine Bedarfsprognose kann dabei etwa durch statistische Erhebungen substantiiert werden. Auch Erfahrungswerte können herangezogen werden, diese müssen allerdings plausibilisiert werden. Zu denken ist etwa an Erfahrungswerte, nach denen in Großstädten bzw. Ballungsgebieten zur Abend- und Nachtzeit regelmäßig mehr eilbedürftige Anträge gestellt werden müssen als in kleineren Ortschaften. Auch die Grenznähe zu anderen Gerichtsbezirken sowie zeitlich begrenzter Mehrbedarf aufgrund von Großveranstaltungen o.ä. können Gesichtspunkte sein, die das Präsidium im Rahmen seiner Prognoseentscheidung miteinbezieht. Entscheidend bleibt jeweils der Bezug zu den individuellen Verhältnissen im zuständigen Gerichtsbezirk.
V. Was man für die Klausur behalten muss
Zwecks effektiver Durchsetzung des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 13 GG muss der Richtervorbehalt streng verstanden werden. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis in Art. 13 Abs. 2 GG gebietet es, hohe Anforderungen an den Begriff der Gefahr im Verzug zu legen. Praktische Wirksamkeit erlangt der Richtervorbehalt jedoch bei erhöhtem Anordnungsbedarf zu Abend- und Nachtzeiten nur, wenn ein richterlicher Eil- bzw. Notdienst vom Gerichtspräsidium eingerichtet wird – aber eben auch nur, sofern der Bedarf über einzelne Ausnahmefälle hinausgeht. Bei der Ermittlung des Bedarfs steht den Präsidien jeweils ein eigener Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Maßgebend sind jeweils die Umstände im jeweiligen Gerichtsbezirk, die sowohl durch Statistiken als auch plausibel begründete allgemeine Erfahrungssätze festgestellt werden können. Summa summarum entwickelt die Entscheidung des BVerfG das zum Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG bereits Bekannte konsequent fort und gibt dabei Aufschluss zur Konkretisierung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses sowie zur praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts. Der Beschluss ist ein Muss für jeden Examenskandidaten!
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Wir freuen uns nachfolgend einen Gastbeitrag von Judith Blohm zu veröffentlichen. Die Autorin hat Ende 2016 das erste Staatsexamen in Hamburg erfolgreich abgelegt und ist ab Januar 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei LUTHER Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. In ihrem Beitrag befasst sie sich mit der Problematik, die Betriebs- und Geschäftsräumen im Rahmen der Prüfung des Art. 13 GG aufwerfen.
I. Schutzbereich des Art. 13 I GG
In sachlicher Hinsicht schützt Art. 13 I GG die Privat- und Intimsphäre im räumlichen Bereich der Wohnung und ist daher besonderer Ausdruck des Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde.
Wohnung ist dabei grundsätzlich jeder Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Ort seines Lebens und Wirkens bestimmt. Umfasst sind also zB auch Keller, Hotelzimmer und Wohnmobil, nicht dagegen das Auto oder die Gefängniszelle (weil der Insasse nicht selbst die Zugänglichkeit bestimmt).
Auch juristische Personen können eine Wohnung iSd. Art. 13 GG haben, sind also gem. Art. 19 III GG vom persönlichen Schutzbereich erfasst.
Problematisch ist jedoch, ob auch Betriebs- und Geschäftsräume vom Schutzbereich erfasst sind:
1. Ansicht:
Historisch wolle Art. 13 GG den Einzelnen im Familienkreis schützen, für Betriebs- und Geschäftsräume sei der Schutzbereich also nicht eröffnet; das Grundrecht sei vielmehr nur auf private Wohnräume sowie Geschäftsräume, die tatsächlich auch zu Wohnzwecken genutzt werden, anwendbar.
2.Ansicht: (Pieroth/Schlink, Kingreen/Poscher: Grundrechte Staatsrecht II, 30. Aufl. 2014, Rn 950; 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG: BVerfG, NJW 2003, 2669, https://www.jurion.de/Urteile/BVerfG/2003-04-28/2-BvR-358_03):
Betriebs- und Geschäftsräume seien grundsätzlich vom Schutzbereich erfasst, dies aber nur soweit, wie sie für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Für auf unkontrollierten Zugang angelegte Geschäftsräume (z.B. Einkaufspassage, Kaufhaus) soll während der Öffnungszeiten also kein Schutz durch Art. 13 I GG bestehen, da der Wohnungsinhaber während der Öffnungszeiten auf diesen verzichtet habe. Zu schützen seien nur dem unkontrollierten öffentlichen Zutritt generell entzogene Räume oder Geschäftsräume außerhalb der regulären Öffnungszeiten.
3. Ansicht (BVerfGE 32, 54, https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv032054.html):
Betriebs- und Geschäftsräume seien immer erfasst, da auch das Wirken und die berufliche Entfaltung geschützt würden; eine Differenzierung der Schutzintensität nach Art der Räume solle erst auf der Eingriffs- sowie ggf. der Rechtfertigungsebene erfolgen.
Streitentscheid:
Für die erstgenannte Ansicht spricht zunächst, dass der Wortlaut des Begriffes „Wohnung“ nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Beschränkung auf private Wohnräume nahe legt. Daneben wird von den Vertretern dieser Ansicht darauf verwiesen, dass die Ausdehnung des Schutzbereiches auf Betriebsstätten und der damit verbundene Schutz juristischer Personen nicht mit dem personalen Gehalt des Art. 13 I GG zu vereinbaren sei.
Bedenkt man allerdings, dass Art. 13 I GG die Wohnung vor allem im Hinblick auf die dort stattfindende Persönlichkeitsentfaltung schützt und persönliche Entfaltung in starkem Maße auch in den dem Beruf gewidmeten Räumen stattfindet, ist zumindest die zuerst genannte Ansicht als zu strikt abzulehnen.
Aus klausurtaktischer Sicht ist es empfehlenswert, der Auffassung des BVerfG, derzufolge Betriebs- und Geschäftsräume immer erfasst sind, zu folgen, um im Rahmen des Eingriffs die folgende Problematik erörtern zu können.
II. Eingriff:
Ein Eingriff in Art. 13 GG liegt vor bei körperlichem und nichtkörperlichem Eindringen in die Wohnung.
Es wird differenziert zwischen „Durchsuchen“ (Art. 13 II GG), dies liegt vor bei zielgerichtetem Suchen und Erforschen und sonstigen Maßnahmen, insbesondere Betreten (Art. 13 VII GG), welches durch Hineingehen und Verweilen und damit verbundene unvermeidliche Kenntnisnahme von Personen und Sachen erfüllt wird.
Auch bei der Prüfung des Eingriffs stellt sich, vorausgesetzt die Eröffnung des Schutzbereichs wurde wie oben bejaht, wieder das Problem der Betriebs- und Geschäftsräume:
Der weite Schutzbereich hat Auswirkungen auf die Qualifikation staatlicher Maßnahmen als Grundrechtseingriff. Geschäfts- und Betriebsräume genießen während der Geschäftsöffnungszeiten nicht dieselbe Schutzbedürftigkeit wie Privaträume. Da bei öffentlich zugänglichen Betriebs- und Geschäftsräumen der Inhaber seine Räume „nach außen“ geöffnet habe, empfinde er ein Betreten und Prüfen iRe behördlichen Nachschau nicht als Eingriff in sein Hausrecht iSv. 13 VII GG.
Voraussetzungen behördlicher Betretungs- und Besichtigungsrechte bei Betriebs- und Geschäftsräumen sind also:
- Es muss eine besondere Rechtsgrundlage für das Betreten vorhanden sein. Dabei muss es sich um ein Gesetz handeln, Satzungen sind keine ausreichende Rechtsgrundlage.
- Dieses Gesetz muss Zweck, Umfang und Gegenstand der behördlichen Besichtigung regeln.
- Das Betreten muss einem erlaubten Zweck dienen und für diesen erforderlich sein.
- Die Maßnahme muss auch insgesamt verhältnismäßig sein.
Nach dem BVerfG (BVerfGE 32, 54, https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv032054.html) stellt ein Betreten während der Öffnungszeiten wenn obengenannte Voraussetzungen erfüllt sind schon gar keinen Eingriff in Art. 13 GG dar.
Es ist jedoch nach den einzelnen Maßnahmen zu differenzieren – ein Durchsuchen stellt immer einen Eingriff dar und kann nur nach Maßgabe von Art. 13 II GG geschehen. Das Betreten außerhalb der normalen Geschäftszeiten stellt ebenfalls einen Eingriff dar und muss die Voraussetzungen des Art. 13 VII GG erfüllen.
Im Folgenden ist dann unter Umständen noch ein Verstoß gegen Art. 2 I GG zu prüfen.
III. Fazit:
In praktisch jeder öffentlich-rechtlichen Klausur spielen die Grundrechte eine wichtige Rolle. Eine intensive Aufbereitung der jeweiligen grundrechtlichen Prüfung ist daher zwingend notwendig.
Speziell Art. 13 GG ist auch aufgrund der Überschneidungen zu anderen Rechtsgebieten sowie der sich immer noch entwickelnden Rechtsprechung ein für Prüfer interessantes Thema. Gerade in eine polizeirechtlich gelagerte Prüfung lassen sich Geschäfts- und Betriebsräume gut integrieren:
Die Voraussetzungen für die präventive Durchsuchung sowie das Betreten von Wohnungen sind (für Hamburg) in den §§ 16, 16a HmbSOG geregelt. Die oben aufgeführte Lösung ist dort insofern kodifiziert, dass der Begriff der „Wohnung“ ausdrücklich auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume erfasst.
§ 16 V HmbSOG gestattet das Betreten zum Zwecke der Gefahrenabwehr während der Arbeits-, Betriebs-, Geschäfts- oder Öffnungszeit, sowie in der Zeit, zu der sich Kunden, Arbeitnehmer oder andere Personen dort aufhalten (§ 16 V 1 HmbSOG), solange die Räume nicht für einen sachlich und personell eng abgegrenzten Personenkreis bestimmt und Vorkehrungen getroffen sind, die andere am Betreten hindern (§ 16 V 2 HmbSOG).
Die Voraussetzungen für eine repressiven Zwecken dienende Durchsuchung sind in den §§ 102 ff. StPO geregelt. In §§ 102, 103 StPO ist zwar nur die Wohnung explizit genannt, „andere Räume“ sollen jedoch auch erfasst sein. § 105 II StPO bezieht ausdrücklich auch die Geschäftsräume ein.
Nach jahrelanger Vorbereitung schuf die Bundeswehr kürzlich eine Abteilung, die zu Angriffen auf fremde Computernetzwerke fähig sein soll (s. dazu hier). Eine Vielzahl an Informatikexperten aus deutschen Universitäten stellten das „Cyber-Heer“ zur Verfügung. Der rechtliche Rahmen derartiger Hack-Attacken ist allerdings noch nicht geklärt.
Das Thema ist nicht nur von politischer Brisanz, sondern auch im höchsten Grade examensrelevant. Computerbezogene Grundrechtseingriffe eignen sich nämlich hervorragend um die Grundrechtssystematik abzuprüfen. Im Zuge der stetig voranschreitenden technischen Entwicklungen muss die Staatsgewalt stets berücksichtigen, welche Grundrechtspositionen bei internetbezogenen Eingriffen überhaupt tangiert sein können. Eine saubere Trennung der einzelnen Schutzbereiche ist nicht nur für den Rechtsanwender, sondern auch für Examenskandidaten in Klausuren von hoher Relevanz, da die infrage kommenden Grundrechte mitunter sehr unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen auf Ebene der Schranken stellen. So bedürfen etwa „Durchsuchungen“ i. S. d. Art. 13 II GG eines Richtervorbehalts, wohingegen Eingriffe in die Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG bereits durch ein einfaches Gesetz gerechtfertigt sein können. Die im Folgenden aufgezeigten Aspekte stellen solche dar, wie sie wohl am häufigsten in Klausuren und mündliche Prüfungen Einzug erhalten. Gleichwohl sei dem Examenskandidat gerade im Kontext computerspezifischer Fallgestaltungen geraten eine genaue Würdigung des konkreten Einzelfalls vorzunehmen. Mit den stetig voranschreitenden technischen Entwicklungen und der technikneutralen Grundrechtsdogmatik geht nämlich einher, dass es keinen numerus clausus an computerspezifischen Eingriffen geben kann.
1. Schutz der räumlichen Privatsphäre durch Art. 13 I GG
Schutzgut des Art. 13 I GG ist die räumliche Privatsphäre. Unter einer Wohnung versteht man jeden Raum, den der Einzelne der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zum Ort seines Lebens und Wirkens bestimmt. Hierzu werden nach h.M. auch Betriebs- und Geschäftsräume gezählt.[1] Sofern ein Computer in einer Wohnung lokalisiert ist, könnte bei einem Hackerangriff durch den Staat der Schutzbereich von Art. 13 I GG tangiert sein. Die staatliche Maßnahme spielt sich allerdings auf virtueller Ebene ab. Sofern kein Beamter die Wohnung betritt, etwa um Schadsoftware einzuspielen, ist die räumliche Privatsphäre der Wohnung also nur durch Bits und Bytes, nicht aber durch ein physisches Eindringen betroffen.
Beim Schutzbereich des Art. 13 I GG ist indes zu beachten, dass er sich nicht in der Abwehr eines körperlichen Eindringens in die Wohnung erschöpft, sondern etwa auch bei einer akustischen oder optischen Wohnraumüberwachung[2] berührt wird.[3] Umfasst ist deshalb ebenso die Infiltration eines informationstechnischen Systems, also etwa eines Computers, der sich in einer Wohnung befindet, um mit dessen Hilfe bestimmte Vorgänge innerhalb der Wohnung zu überwachen. Der Schutz des Art. 13 I GG greift insbesondere dann, wenn die an das System angeschlossenen Peripheriegeräte, wie ein Mikrofon oder eine Kamera, angezapft werden, um den Nutzer zu überwachen.[4] Wenn ein in der Wohnung befindlicher Computer mittels eines Trojaners infiltriert wird, ist die Privatheit in der räumlich abgeschotteten Wohnung somit zumindest dann tangiert, wenn die Geräte quasi als getarnte Überwachungskamera oder Abhörvorrichtung genutzt werden. Aus diesem Grund ist der Schutzbereich des Art. 13 I GG in solch einem Fall eröffnet. Mit dieser Sachverhaltskonstellation vergleichbar ist etwa das Beobachten einer Wohnung mittels Wärmebildkameras. Auch in einem solchen Fall wird nicht physisch eingegriffen. Gleichwohl ist die Privatheit in einem erheblichen Maße betroffen, da der Beobachter in diesem Fall ähnliche Einblicke hat, wie jemand, der die Wohnung tatsächlich physisch betritt.
Zu beachten ist an dieser Stelle zudem, dass die vorgenannten Ausführungen nicht bloß auf Computer in Form von stationären Endgeräten beschränkt sind. Informationstechnische Systeme und entsprechende Peripheriegeräte befinden sich gleichermaßen auf Laptops, Tablets und v.a. auch moderneren Smartphones. Werden solche Geräte gehackt um Vorgänge in der Wohnung auszuspähen, wäre ebenso der Schutzbereich des Art. 13 I GG tangiert.
2. Schutz des Post-, Brief und Fernmeldegeheimnisses, Art. 10 I GG
Für den Schutz der Privatsphäre des Bürgers ist neben Art. 13 I GG vor allem auch Art. 10 I GG relevant, der das Brief- und Postgeheimnis sowie das Fernmeldegeheimnis regelt. Damit gewährleistet Art. 10 GG allgemein die Vertraulichkeit des durch Kommunikationsmittel ermöglichten Informationsaustauschs über gewisse Entfernungen. Der geschützte Kommunikationsvorgang soll gegen unbefugte Kenntniserlangung „durch Dritte“ abgeschirmt werden.[5] Der Schutzbereich des Art. 10 GG wird dabei dynamisch interpretiert, er ist also offen für technische Entwicklungen.[6]
Das Fernmeldegeheimnis ist von den drei Einzelgrundrechten des Art. 10 I GG für den Bereich des Internets am wichtigsten. Es schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe der Telekommunikationstechnik. Die Beteiligten sollen dabei möglichst so gestellt werden, wie sie bei einer Kommunikation unter Anwesenden stünden.[7] Der Schutzbereich ist somit immer dann eröffnet, wenn ein dem Telefonieren vergleichbarer Vorgang überwacht wird. Sofern etwa ein Gespräch, das über Skype oder Google-Talk geführt wird, abgehört wird, liegt es nahe, dass auch der Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 I GG betroffen sein könnte.[8] Sofern eine Behörde ein Chatgespräch mitliest oder ein Skypetelefonat abhört, gestaltet es sich für den Betroffenen deshalb faktisch genauso, als würde die Behörde ein „klassisches“ Telefongespräch überwachen.
Einen Grenzfall stellt in diesem Zusammenhang das Überwachen des E-Mail-Verkehrs dar. Hier gilt es nach der Rechtsprechung des BVerfG zu unterscheiden:[9] Werden E-Mails gelesen, die auf einer Festplatte als Datei – beispielsweise bei einer Nutzung der E-Mail-Software Microsoft Outlook – gespeichert sind, ist Art. 10 I GG nicht einschlägig, denn der Kommunikationsvorgang ist bereits beendet. Sofern sich die E-Mail aber noch auf dem Mailserver befindet und noch nicht auf dem lokalen Datenträger gespeichert ist, wird das „Abfangen“ der Mail hingegen noch vom Telekommunikationsgeheimnis erfasst.[10] Die auf dem Mailserver des Providers vorhandenen E-Mails sind noch nicht in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangt, sodass die spezifischen Gefährdungen, vor denen Art. 10 I GG schützen will, noch weiterhin bestehen.
3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i. V. mit 1 I GG
Sofern ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 13 I GG oder von Art. 10 I GG nicht in Betracht kommt, etwa wenn sich der Staat in cloudbasierte Internetspeicher wie Dropbox oder Google-Drive einhackt, kann zumindest das subsidiär anwendbare allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR) relevant werden. Dieses leitet sich aus Art. 2 I i.V. mit 1 I GG ab. Das ursprünglich durch die zivilrechtliche Rechtsprechung entwickelte APR[11] ist mittlerweile auch im Verfassungsrecht als Grundrecht anerkannt und dient zur Abwehr von diversen Formen der Beeinträchtigung der Privatsphäre oder bestimmter Persönlichkeitsrechte, die sich nicht einem anderen spezifischen Freiheitsrecht zuordnen lassen.[12] Eine abschließende Definition des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gibt es daher nicht.[13] Es ergänzt „als ‚unbenanntes‘ Freiheitsrecht die speziellen (‚benannten‘) Freiheitsrechte“ und schützt allgemein die „engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen […], die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen.“[14] Ebenso wie Art. 10 I GG (s.o.), wird das APR dynamisch interpretiert, sodass das GG offen für neue Gefährdungen und technische Innovationen ist.[15]
Statt einer abschließenden Definition haben sich in Rechtsprechung und Literatur anerkannte Fallgruppen bzw. Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts herausgebildet. Eine für die hiesige Problematik sehr wichtige Ausprägung des APR ist das sog. Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welches dem Einzelnen die Befugnis verleiht, grundsätzlich über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu verfügen.[16] Jeder Bürger darf also prinzipiell selber darüber bestimmen, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit“[17] über ihn weiß. Der Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist insbesondere ab dann beeinträchtigt, sobald Ermittlungsbehörden Daten erheben, wenn sie also ungefragt auf bestimmte Dateien des Nutzers zugreifen.
4. Computergrundrecht
Nicht geschützt ist jedoch die Integrität des informationstechnischen Systems als solches. Die bloße Infiltration, bei der noch keine konkreten Daten erhoben werden, berührt noch nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.[18] Da durch Art. 10, 13 GG und die bisherigen Ausprägungen des APR somit kein allumfassender Schutz im Hinblick auf die Nutzung informationstechnischer Systeme gewährleistet ist, musste im Hinblick auf den technischen Fortschritt und die damit einhergehenden Gefahren eine weitere Ausprägung des APR geschaffen werden. Als zusätzlicher Unterfall von Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG besteht aus diesem Grund das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (kurz: „Computergrundrecht“).[19] Es bewahrt den persönlichen und privaten Lebensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten.[20] Geschützt sind aber nur solche Systeme, die personenbezogene Daten in einem gewissen Umfang enthalten, so dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten.[21] Außerdem muss der Betroffene das fragliche System „als eigenes“ nutzen. Es kommt also nicht darauf an, wer Eigentümer des Geräts ist, sondern es ist vielmehr danach zu fragen, wer über das informationstechnische System selbstbestimmt verfügt.[22]
Sofern im Rahmen einer Klausur Zugriffe auf informationstechnische Systeme zu diskutieren sind, ist es im Hinblick auf den Aufbau wichtig, zunächst die Schutzbereiche der vorgenannten Grundrechte zu diskutieren um anschließend die jeweils bestehenden Lücken im Bereich von computerbezogenen Eingriffen aufzeigen zu können, die dann durch das subsidiär greifende Computergrundrecht geschlossen werden.
5. Berufs-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit
Die vorgenannten Aspekte stellen den Grundstock für jedwede Argumentation im Kontext computerbasierter Grundrechtseingriffe dar. Je nach Ausgestaltung des Sachverhalts können jedoch noch weitere Grundrechte Gegenstand der Diskussion sein. Sofern Ermittlungsbehörden etwa Daten ausspähen, die berufsbezogene Informationen enthalten, ist fraglich, ob hierdurch neben den zuvor diskutierten Grundrechten auch ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) gegeben sein kann. Im Rahmen einer solchen Diskussion muss bei der Frage, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 I GG vorliegt, jedoch beachtet werden, dass nicht jede Maßnahme, die die Berufstätigkeit faktisch oder mittelbar betrifft, einen Grundrechtseingriff in Art. 12 I GG darstellt. Regelungen, die keine „objektiv berufsregelnde Tendenz“ haben, greifen nämlich nicht in die Berufsfreiheit ein.[23] Um einen Eingriff in Art. 12 I GG zu bejahen, muss der Datenüberwachungsvorgang deshalb Tätigkeiten betreffen, die typischerweise beruflich ausgeübt werden und es muss eine nennenswerte Behinderung der beruflichen Tätigkeit eintreten. Eine solche Fallgestaltung wäre in Bezug auf Online-Durchsuchungen etwa bei Fällen von Industriespionage denkbar.
Ähnliche Überlegungen können bei einem Forschungsbezug der überwachten Daten angestellt werden. In solch einem Fall müsste diskutiert werden, ob über die computerspezifischen Grundrechte hinaus auch noch die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 III S. 1 GG tangiert sein könnte. Der Begriff der Wissenschaft wird definiert als jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.[24] Auch Bezüge zur Religionsfreiheit nach Art. 4 GG sind in diesem Kontext denkbar. Damit ein Grundrechtseingriff bejaht werden kann, muss allerdings neben der Berührung religionsspezifischer Inhalte darüber hinaus eine tatsächliche Beeinträchtigung der Glaubensbetätigung vorgebracht werden.[25] Es bleibt demnach bei derartigen Konstellationen primär bei einem Schutz über die jeweils einschlägigen Ausprägungen des APR, Art. 10 I GG und Art. 13 I GG. Die Berufs-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit stellen daher regelmäßig nicht den Schwerpunkt der Diskussion dar.
[1] BVerfGE 32, 54; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 13 Rdnr. 10.
[2] Vgl. Art. 13 III bis V GG.
[3] So das BVerfG in der Entscheidung zum großen Lauschangriff: BVerfGE 109, 279.
[4] BVerfGE 120, 274 (310).
[5] S. nur BVerfGE 115, 166 (182); 106, 28 (37).
[6] S. nur BVerfGE 124, 43 (54); 115, 166 (182): „Das Grundrecht ist entwicklungsoffen und umfasst nicht nur die bei Entstehung des Gesetzes bekannten Arten der Nachrichtenübertragung, sondern auch neuartige Übertragungstechniken. […] Auf die konkrete Übermittlungsart (Kabel oder Funk, analoge oder digitale Vermittlung) und Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) kommt es nicht an.“ Vgl. instruktiv auch Durner, in: Maunz/Dürig, Art. 10 Rdnr. 47.
[7] Vgl. etwa BVerfGE 100, 313 (363).
[8] Zu den technischen Besonderheiten einer Skype-Überwachung s. Stadler, MMR 2012, 18 (20).
[9] S. dazu BVerfGE 124, 43.
[10] BVerfGE 124, 43 (54 f.).
[12] Grundlegend BVerfGE 34, 269; ferner BVerfGE 54, 148; vgl. auch bereits BVerfGE 6, 32 (41), in der jedoch noch nicht ausdrücklich von einem „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“ die Rede ist; s. ausführlich zur Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seinen zahlreichen Unterfällen Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Rn. 127 ff; Brandner, JZ 1983, 689; Seifert, NJW 1999, 1889.
[19] S. allgemein zum Recht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme Wegener/Muth, Jura 2010, 847; Kutscha, NJW 2008, 1042; Britz, DÖV 2008, 411; Hoeren, MMR 2008, 365; Schnabel/Roßnagel, NJW 2008, 3534; Luch, MMR 2011, 75; s. ausführlich Drallé, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, Diss. 2010.
[20] BVerfGE 120, 274 (316).
[23] BVerfGE 13, 181 (186).
[24] BVerfGE 35, 79.
[25] Der Schutzbereich des Art. 4 GG erfasst zum einen das sog. forum internum, also die Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden und zu haben, sowie gleichermaßen das sog. forum externum, also die Freiheit aus religiöser Überzeugung zu handeln, vgl. etwa BVerfGE 108, 282 (296).
Das BVerfG entschied mit Beschluss v. 12.10.2011 (Az. 2 BvR 236/08, 2 BvR 237/08, 2 BvR 422/08), dass die Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung in der StPO mit dem Grundgesetz im Einklang steht. Durch das Gesetz wurde u.a. die Regelungen des § 101a StPO reformiert. Des Weiteren wurde der neue § 160a StPO eingefügt, wonach bestimmte Ermittlungsmaßnahmen unzulässig sind und Beweisverwertungsverbote nach sich ziehen können. Das BVerfG stellte insbesondere fest, dass die letztgenannte Vorschrift des § 160a StPO weder gegen Art. 3 Abs. 1 GG, noch gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung oder Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) verstoße.
Verfassungsmäßigkeit der Eingriffsnormen
Die Ausführungen des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit strafprozessualer Ermächtigungsgrundlagen sind ein alter Hut. Letztlich gilt es lediglich die einschlägigen Schutzbereiche zu definieren und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit einen schonenden Ausgleich zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und der Allgemeinheit einerseits mit den einzelnen Rechtspositionen des Individuums zu erzielen. Da ersteres im Falle besonders schwerer Straftaten besonders hoch ist, sind im Regelfall auch intensivere Maßnahmen zulässig. Da sich im Hinblick auf eine solche Prüfung keine großen Besonderheiten ergeben, eignet sich das Urteil des BVerfG in dieser Hinsicht nicht besonders für Klausuren. Für die mündliche Prüfung erscheint es hingegen ratsam, sich den Volltext des Urteils zumindest kurz zu Gemüte zu führen.
Der neue § 160a StPO
Im Hinblick auf § 160a StPO galt es insbesondere den Gleichheitssatz des Art 3 Abs. 1 GG zu diskutieren. Es konnte im vorliegenden Fall nämlich eine Ungleichbehandlung der in § 160a Abs. 1 StPO und Abs. 2 genannten Personengruppen vorliegen, da nur für erstere besondere Ermittlungsverbote etc. gelten. Im Ergebnis stellte das BVerfG jedoch fest, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, den Anwendungsbereich des absoluten Beweiserhebungs- und Verwendungsverbotes des § 160a Abs. 1 StPO auch auf die in Abs. 2 StPO genannten Personengruppen zu erstrecken. Eine Begrenzung des absoluten Verbots auf eine begrenzte Zahl an Ausnahmefällen trage dem Gebot der effektiven Strafverfolgung ausreichend Rechnung.
Ansonsten sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Vorschrift des § 160a Abs. 1 StPO sich vielleicht nicht zwingend als erste Wahl für verfassungsrechtliche Klausuren aufdrängt. Als Zusatzproblem in einer strafrechtlichen Klausur kann die neue Norm jedoch optimal abgeprüft werden.
Zitiergebot
Für die Klausuren interessanter sind die Ausführungen des BVerfG zum Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Gericht führt aus, dass die infrage stehenden Vorschriften der StPO in Art. 10 GG und Art. 13 GG eingreifen, so dass das Zitiergebot grundsätzlich zu befolgen sei. In diesem Fall war es allerdings so, dass die Neuregelung gegenüber der Vorgängerregelung lediglich eine unerhebliche Gesetzesänderung darstellte. In einem solchen Fall bestehe keine Zitierpflicht.
Derartiges Inselwissen wird oftmals in Klausuren für das erste Staatsexamen eingebaut, um der Klausur noch ein Extraproblem zu bescheren. Da das Zitiergebot mit dieser Entscheidung wieder an Aktualität gewonnen hat, sei euch für einen ausführlicheren Überblick über die Problemkreise zudem unser einschlägiger Beitrag zu diesem Thema ans Herz gelegt.