Wir freuen uns nachfolgend einen Gastbeitrag von Maria Dimartino veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Rechtsanwältin mit den Interessenschwerpunkten Individual- und Kollektivarbeitsrecht. Sie hat Rechtswissenschaften in Heidelberg und Frankfurt a.M. studiert. Ihr Referendariat hat Sie am Landgericht Wiesbaden absolviert. Sie ist als selbstständige Rechtsanwältin und Lehrbeauftrage/Tutorin tätig. Mehr Informationen über die Autorin finden Sie hier.
Dem Beitrag liegt ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu Grunde. Das BAG hat sich in seinem Urteil vom 19. Dezember 2013, 6 AZR 190/12 mit der Frage beschäftigt, ob eine symptomlose HIV-Infektion den Anwendungsbereich des § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) eröffnet und folglich wegen einer Diskriminierung aufgrund diesen Merkmals eine Schadensersatz bzw. eine Entschädigungszahlung gem. § 15 Abs. 1, 2 AGG begründet.
I. Sachverhalt
Der Kläger ist aufgrund eines Arbeitsvertrages vom 1. Dezember 2010 als chemisch- technischer Assistent bei der Beklagten angestellt. Die Beklagte produziert Arzneimittel zur Behandlung von Krebserkrankungen, die intravenös verabreicht werden. Das Arbeitsverhältnis war bis zum 5. Dezember 2011 befristet, wobei die ersten sechs Monate als Probezeit vereinbart waren, innerhalb derer das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt werden konnte. Bei einer Einstellungsuntersuchung am 8. Dezember 2010 teilte der Kläger dem Betriebsarzt mit, dass er HIV-infiziert ist. Der Kläger ist symptomfrei und hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 10. Der Kläger sollte seine Tätigkeit im Reinraum der Beklagten ausführen. Dagegen äußerte der Betriebsarzt Bedenken in dem von ihm auszufüllenden Formular „Standard Operating Procedure“ (SOP). Dieses Formular der Beklagten dient der Umsetzung des sogenannten „Leitfaden der guten Herstellungspraxis“ (Dabei handelt es sich um Leitlinien der EU-Kommission). In Ziffer 2.15 des Leitfaden heißt es:
„Es sollen Vorkehrungen getroffen werden, die, soweit es praktisch möglich ist, sicherstellen, dass in der Arzneimittelherstellung niemand beschäftigt wird, der an einer ansteckenden Krankheit leidet oder offene Verletzungen an unbedeckten Körperstellen aufweist.“
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 04. Januar 2011 zum 24. Januar 2011. Möglichkeiten zur Beschäftigung des Klägers außerhalb des Reinraums bestanden nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichtes nicht. Der Kläger greift diese Kündigung an und macht geltend, dass diese Kündigung diskriminierend sei, weil diese allein wegen seiner symptomlosen HIV-Infektion erfolgt sei. Dies stelle eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung im Sinne des § 1 AGG dar. Aus diesem Grunde stünde ihm auch eine Entschädigung im Sinne des § 15 AGG zu.
II. Ansprüche gem. § 15 Abs. 1, 2 AGG
1. Persönlicher Abwendungsbereich, § 6 Abs. 1 AGG
Der Kläger ist aufgrund eines Arbeitsvertrages beschäftigt und damit Arbeitnehmer im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 AGG.
2. Sachlicher Anwendungsbereich
a) Bereichsausnahme, § 2 Abs. 4 AGG
Gem. § 2 Abs. 4 AGG soll das AGG nicht für Sachverhalte anwendbar sein, die das KSchG betreffen. Bei solchen Kündigungen wird die Wirkung des AGG jedoch im Rahmen der zivilrechtlichen Generalklauseln geprüft. Ob diese Bereichsausnahme Richtlinienkonform ist kann an dieser Stelle dahinstehen, da in diesem Fall das Kündigungsschutzgesetz gar nicht anzuwenden war, da die Wartezeit von sechs Monaten des § 1 KSchG nicht erfüllt war. In solchen Fällen, bei dem das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung findet kann es auch nicht zu einer Konkurrenz zwischen AGG und KSchG kommen. Daher sind Kündigungen, für die nicht der Maßstab der sozialen Rechtfertigung des § 1 Abs. 1, 2 KSchG eröffnet ist unmittelbar am Maßstab des AGG zu messen.
„§ 2 Abs. 4 AGG regelt für Kündigung nur das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und dem Kündigungsschutzgesetz sowie den speziell auf Kündigungen zugeschnittenen Bestimmungen. Die zivilrechtlichen Generalklauseln werden dagegen von § 2 Abs. 4 AGG nicht erfasst. Der Diskriminierungsschutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes geht insoweit diesen Klauseln vor und verdrängt diese. Ordentliche Kündigungen während der Wartezeit und in Kleinbetrieben sind deshalb unmittelbar am Maßstab des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz messen. Dies ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte und dem Zweck des § 2 Abs. 4 AGG […].“
b) Benachteiligungsmerkmal i.S.v. § 1 AGG ?
Das AGG untersagt Diskriminierungen aufgrund der in § 1 AGG genannten Merkmale. Benachteiligungsmerkmale gem. § 1 AGG sind Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, ethnischen Herkunft, Geschlechts, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alters oder sexuellen Identität. Das BAG hat sich sehr ausführlich mit dem Begriff der Behinderung i.S.d. AGG beschäftigt und sich für eine weite Definition unter Berücksichtigung der Teilhabe am Berufsleben und an der Gesellschaft ausgesprochen. Darunter können auch chronische Erkrankungen fallen, soweit eine Beeinträchtigung der Teilhabe vorliegt. Auf einen bestimmten Grad der Behinderung (GdB) kommt es nicht an. Das BAG hat festgestellt, dass eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung im Sinne des § 1 AGG darstellt.
„Eine Behinderung liegt vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder will die Gesundheit eines Menschen langfristig eingeschränkt ist und dadurch – in Wechselwirkung mit verschiedenen sozialen Kontextfaktoren (Barrieren) – seine Teilhabe an der Gesellschaft, wozu auch die Teilhabe am Berufsleben gehört, substantiell beeinträchtigt sein kann […].“
Weiter führt das BAG aus:
„Der Kläger ist aufgrund seiner symptomlosen HIV-Infektion chronisch erkrankt. Diese Beeinträchtigungen wirkt sich auf seine Teilhabe sowohl im Leben in der Gemeinschaft als auch in deinem Berufsfeld aus. Er ist deshalb behindert i.S.d. § 1 AGG. Das gilt so lange, wie das gegenwärtig auf eine solche Infektion zurückführende soziale Vermeidungsverhalten und die darauf beruhende Stigmatisierungen andauern […].“
3. Benachteiligungsverbot i.S.d. § 7 Abs. 1 AGG
Die Begriffe der unmittelbare bzw. mittelbare Benachteiligung sind in. § 3 AGG legal definiert. Eine unmittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 1 S. 1 AGG liegt demnach vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstigen Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Die Kündigung benachteilige hier den Kläger unmittelbar i.S.d. § 3 Abs. 1 AGG, weil sie im untrennbaren Zusammenhang mit seiner symptomlosen HIV-Infektion (Behinderung, i.S.d. § 1 AGG) steht.
4. Vorliegen von Rechtfertigungsgründen
Eine Benachteiligung aufgrund eines in § 1 AGG genannten Merkmale kann ggf. gerechtfertigt sein:
- § 5 AGG (Positive Maßnahmen)
- § 8 AGG (berufliche Anforderungen)
- § 9 AGG (Religion oder Weltanschauung)
- § 10 AGG (Alter)
In dieser Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen, da dieses noch aufklären muss, ob der Arbeitgeber ausreichend angemessene Vorkehrungen getroffen hat um sich überhaupt auf § 8 Abs. 1 AGG berufen zu dürfen. Denn bei einer Behinderung sind angemessene Vorkehrungen zur Nachteilsausgleichung zu Treffen (vgl. § 81 Abs. 1, 2 SGB IX). Wenn der Arbeitgeber dies unterlässt und der Arbeitnehmer deshalb nicht eingesetzt werden kann, ist dieser Umstand nicht der Behinderung sondern der Untätigkeit des Arbeitgebers geschuldet. Eine Kündigung ist dann nicht gerechtfertigt.
III. Rechtfolgen bei rechtswidriger Benachteiligung
- Unwirksamkeit der Vereinbarung, § 7 Abs. 2 AGG
- Leistungsverweigerungsrecht, § 14 AGG
- Schadensersatzanspruch, § 15 Abs. 1 AGG
- Entschädigungsanspruch, § 15 Abs. 2 AGG
- Unterlassungs-s/Beseitigungsanspruch
- Kein Anspruch auf Beschäftigung, 15 Abs. 6 AGG
1. Schadensersatz, § 15 Abs. 1 AGG
a) Ein Verschulden wird vermutet.
b) Materieller Schaden Ein Bewerber müsste darlegen und beweisen, dass er als der am besten geeignete Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl die Stelle erhalten hätte. Hieran ändert auch § 22 AGG nichts. Diese Hürde wird in der Regel nicht zu nehmen sein, da der Bewerber auch keinen Auskunftsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber hat. In diesem Fall ist der K jedoch bereits eingestellt worden und explizit wegen seiner HIV-Infektion gekündigt worden. Wenn nach den Feststellungen des Landgerichtes eine Beschäftigung des K möglich gewesen wäre ohne, dass ein höheres Risiko von ihm ausgegangen wäre, ihm ein Schadensersatzanspruch zustünde (unabhängig von der Frage, ob die Kündigung unwirksam ist). Der Schaden ist zu bemessen nach den allgemeinen Grundsätzen des § 249 BGB. Eine Obergrenze ist hier anders als bei § 15 Abs. 2 S. 2 AGG nicht festgelegt. Hier würde sich der Schaden wohl in der Höhe des Arbeitsentgeltes bis zum nächsten (hypothetischen) Kündigungstermins belaufen. Schwieriger wäre eine materielle Schadensermittlung im Falle der Feststellung, dass die Kündigung nun gar nicht mehr wirksam ist.
2. Immaterieller Schadensersatz, § 15 Abs. 2 AGG
a) Verschuldensunabhängig b) Entschädigung für den Schaden der „nicht Vermögensschaden“ ist
Die Höhe der Entschädigung steht im Ermessen des Gerichts (vgl. § 253 BGB). Sie richtet sich nach der Schwere der Benachteiligung, dem Grad eines eventuellen Verschuldens des Arbeitgebers und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers. Sie sollte zumindest so hoch sein, dass sie geeignet ist, den Arbeitgeber von weiteren Diskriminierungen abzuhalten. Für den Fall einer Einstellungsdiskriminierung bzgl. einer Person, welche auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, setzt § 15 Abs. 2 S. 2 AGG eine Obergrenze von drei Monatsgehältern fest.
3. Beweislastverteilung, § 22 AGG
Hiernach muss der Anspruchssteller die Anwendbarkeit des AGG, sowie das Vorliegen einer objektiven Benachteiligung beweisen. Es reichen hierbei Indizien aus (z.B. Stellenausschreibung nicht geschlechtsneutral). Sodann muss der Arbeitgeber beweisen, dass kein Verstoß gegen das AGG vorliegt. D.h. der Arbeitgeber muss nachweisen, dass die ungleiche Behandlung auf einem zulässigen Auswahlgrund beruht.
4. Form- und Fristgemäße Geltendmachung, § 15 Abs. 4 AGG
Ansprüche aus § 15 Abs. 1, 2 AGG müssen innerhalb von zwei Monaten schriftlich gegenüber dem Arbeitgeber geltend gemacht werden. Bei Ablehnung der Ansprüche durch den Arbeitgeber muss gem. § 61 b Abs. 1 ArbGG eine klageweise Durchsetzung dieser Ansprüche innerhalb von drei Monaten vor dem zuständigen Arbeitsgericht erfolgen.
5. Weitere Ansprüche
Weitere Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeldansprüche können daneben geltend gemacht werden (§§ 280, 253, 823 BGB).
6. Ein Anspruch auf Einstellung besteht nicht, § 15 Abs. 6 AGG
IV.Fazit Ansprüche aus §§ 15 Abs. 1, 2 AGG eignen sich gut, um eine arbeitsrechtliche Klausur mit Grundlagen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes anzureichern und können daher als Zusatzfrage neben der Frage der Wirksamkeit einer Kündigung auftauchen. Der Begriff der Behinderung im Sinne des AGG ist weiter zu verstehen, als der in § 2 SGB IX. Denn zu berücksichtigen ist auch, ob aufgrund eines Merkmals i.S.d. § 1 AGG eine derartige Stigmatisierung erfolgt, dass sich diese benachteiligend auf das Beschäftigungsverhältnis auswirkt. Dem Arbeitgeber obliegt grundsätzlich die Pflicht zu prüfen, ob ein Arbeitnehmer trotz Behinderung bei angemessen Vorkehrungen zu beschäftigen ist.