• Lerntipps
    • Examensvorbereitung
    • Fallbearbeitung und Methodik
    • Für die ersten Semester
    • Mündliche Prüfung
  • Examensreport
    • 2. Staatsexamen
    • Baden-Württemberg
    • Bayern
    • Berlin
    • Brandenburg
    • Bremen
    • Hamburg
    • Hessen
    • Lösungsskizzen
    • Mecklenburg-Vorpommern
    • Niedersachsen
    • Nordrhein-Westfalen
    • Rheinland-Pfalz
    • Saarland
    • Sachsen
    • Sachsen-Anhalt
    • Schleswig-Holstein
    • Thüringen
    • Zusammenfassung Examensreport
  • Interviewreihe
    • Alle Interviews
  • Rechtsgebiete
    • Strafrecht
      • Klassiker des BGHSt und RGSt
      • StPO
      • Strafrecht AT
      • Strafrecht BT
    • Zivilrecht
      • AGB-Recht
      • Arbeitsrecht
      • Arztrecht
      • Bereicherungsrecht
      • BGB AT
      • BGH-Klassiker
      • Deliktsrecht
      • Erbrecht
      • Familienrecht
      • Gesellschaftsrecht
      • Handelsrecht
      • Insolvenzrecht
      • IPR
      • Kaufrecht
      • Kreditsicherung
      • Mietrecht
      • Reiserecht
      • Sachenrecht
      • Schuldrecht
      • Verbraucherschutzrecht
      • Werkvertragsrecht
      • ZPO
    • Öffentliches Recht
      • BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker
      • Baurecht
      • Europarecht
      • Europarecht Klassiker
      • Kommunalrecht
      • Polizei- und Ordnungsrecht
      • Staatshaftung
      • Verfassungsrecht
      • Versammlungsrecht
      • Verwaltungsrecht
      • Völkerrrecht
  • Rechtsprechungsübersicht
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Karteikarten
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Suche
  • Menü Menü
Du bist hier: Startseite1 > AfD

Schlagwortarchiv für: AfD

Dr. Lena Bleckmann

AfD scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht – Kein Anspruch auf Wahl eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestages

Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Mit einer gestern veröffentlichten Entscheidung (Az. 2 BvE 9/20) hat das Bundesverfassungsgericht der Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland (AfD) einen Dämpfer verpasst. Nach Einschätzung des BVerfG hat die Fraktion keinen Anspruch darauf, dass ein von ihr vorgeschlagener Abgeordneter oder eine von ihr vorgeschlagene Abgeordnete zum Stellvertreter oder zur Stellvertreterin des Präsidenten bzw. der Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt wird. Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Aspekte der Entscheidung.

I. Sachverhalt

Der Sachverhalt ist schnell erzählt. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT wählt der Bundestag einen Bundestagspräsidenten und seine Stellvertreter und Stellvertreterinnen (VizepräsidentInnen), wobei jede Fraktion nach § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist.

Nachdem der Bundestag die Zahl der Stellvertreter und Stellvertreterinnen für die 19. Legislaturperiode entsprechend der Zahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen auf sechs festgelegt hatte, wurde die Wahl der Vizepräsidenten und Vizepräsidentinnen gemäß § 2 Abs. 2 GO-BT durchgeführt. Einzig der AfD-Kandidat konnte auch in drei Wahlgängen keine Mehrheit auf sich vereinen. Das Schauspiel wiederholte sich im Laufe der Legislaturperiode: Insgesamt fünf weitere vorgeschlagene Abgeordnete der AfD-Fraktion fielen in jeweils drei Wahlgängen durch. Bis zum Ende der 19. Legislaturperiode gab es keinen Stellvertreter des Bundestagspräsidenten aus der AfD-Fraktion.

Hierdurch sieht die Fraktion ihre Rechte aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und ihr Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung sowie den Grundsatz der Organtreue verletzt. Sie macht geltend, wenn eine Bestellung eines Gremiums von einer Mehrheitswahl abhängig gemacht werde, müsse dafür Sorge getragen werden, dass Kandidaten nicht aus sachwidrigen Gründen abgelehnt würden. Dies habe der Antragsgegner (der Deutsche Bundestag) durch geeignete Vorkehrungen sicherzustellen. Er müsse verfassungswidrigen Blockaden durch eine oder mehrere Fraktionen oder eine Mehrheit der Abgeordneten durch ein formelles oder informelles Verfahren entgegenwirken.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Diese Einschätzung hat das Bundesverfassungsgericht in typischer Art abgelehnt, man möchte fast sagen abgebügelt – der Antrag sei offensichtlich unbegründet. In seiner Untermauerung dieser These geht das BVerfG in drei Schritten vor. Zunächst setzt es sich mit der möglichen Verletzung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auseinander, sodann mit einer solchen des Rechts auf effektive Opposition und schließlich dem Grundsatz der Organtreue.

  1. Prozessuales

Die Zulässigkeit des Antrags lässt das BVerfG demgegenüber offen. Prozessual hatte die Bundestagsfraktion der AfD ein Organstreitverfahren gegen den Deutschen Bundestag als Antragsgegner angestoßen. Die einzelnen Prüfungspunkte sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Sollte sich der Sachverhalt jedoch einmal in einer Klausur wiederfinden, sollten Prüflinge sich jedenfalls kurz mit der Antragsbefugnis der Fraktion auseinandersetzen. Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG muss der Antragsteller geltend machen, dass er oder das Organ, dem er angehört, in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. „Durch das Grundgesetz“ ist hier der entscheidende Satzteil – das verletzte oder gefährdete organschaftliche Recht muss ein solches sein, das durch die Verfassung gewährleistet wird. An Rechtspositionen, die allein aus der Geschäftsordnung des Bundestags folgen, kann ein Organstreitverfahren nicht geknüpft werden.

Achtung: Zwar nennt Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG auch andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Die Nennung der Geschäftsordnungsrechte bezieht sich hier aber allein auf die Beteiligtenfähigkeit im Organstreit, nicht aber auf die Antragsbefugnis (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge/Bethge, § 64 BVerfGG, Rn. 61).

Das schließt nicht aus, dass die GO-BT im Rahmen der Antragsbefugnis relevant werden kann. Die von ihr gewährten Rechte müssen sich aber an ein bereits aus der Verfassung folgendes Statusrecht des antragstellenden Organs ergeben und dieses ausgestalten (vgl. etwa BVerfGE 87, 207, 208 f.). 

Hinweis: Das BVerfG hat die Frage der Zulässigkeit zwar offen gelassen, es erscheint in der Klausur angezeigt, die Antragsbefugnis mit Blick auf die Möglichkeitstheorie zunächst zu bejahen und die relevanten Probleme in der Begründetheit zu erörtern.

  1. Zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG

Erster Anknüpfungspunkt ist Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, der zunächst einmal das freie Mandat der Abgeordneten des Bundestages regelt. Aus dieser Norm leitet das Bundesverfassungsgericht auch die Rechtsstellung der Fraktionen und insbesondere ein Recht auf formale Gleichheit der Abgeordneten und Fraktionen ab:

„Die Antragstellerin ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten ist. Dementsprechend haben die Fraktionen gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 28, Nachweise im Zitat ausgelassen).

Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich dabei nach den Ausführungen des BVerfG auch auf Fragen der Organisation des Bundestages, auch für die Besetzung von Ämtern und damit auf für den Zugang zum Bundestagspräsidium (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 28).

Mag so auch ein Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung der Abgeordneten am und im Präsidium bestehen, so wird dieses doch wiederum begrenzt durch Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG, der die Wahl (!) des Bundestagspräsidenten und der Stellvertreter und Schriftführer vorsieht. Das BVerfG nimmt dies zum Anlass, die Grundsätze und Bedeutung von Wahlen zu erläutern:

„Dabei ist die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG frei. Wahlen zeichnen sich gerade durch die Wahlfreiheit aus, wenngleich die Wählbarkeit von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängen kann. Der mit einer Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Der Wahlakt unterliegt grundsätzlich keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle, weswegen sein Ergebnis auch keiner Begründung oder Rechtfertigung bedarf.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 31, Nachweis im Zitat ausgelassen).

Dies knüpft das Gericht ergänzend an das freie Mandat der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG. An einer späteren Stelle im Urteil heißt es darüber hinaus, „mit einer freien Wahl im Sinne des Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Könnte eine Fraktion – mittels der von der Antragstellerin begehrten „prozeduralen Vorkehrungen“ oder gar durch ein Besetzungsrecht – einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin durchsetzen, wäre die Wahl ihres Sinns entleert.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 35).

Weder könnten daher die Abgeordneten oder Fraktionen verpflichtet werden, die Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen, noch soll das Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch prozedurale Vorkehrungen, welche die Wahl letztlich steuern und einengen, beschränkt werden (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 33, 36). Diese Grundsätze führen das BVerfG zu dem folgenden, eindeutigen Ergebnis:

„Der Anspruch einer Fraktion auf Mitwirkung und Gleichbehandlung mit den anderen Fraktionen bei der Besetzung des Präsidiums aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG steht mit Blick auf Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Vorbehalt der Wahl. Er ist darauf beschränkt, dass eine Fraktion einen Kandidaten für die Wahl vorschlagen kann und dass die freie Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird. Gelingt die Wahl nicht, bleibt die Stellvertreterposition unbesetzt, solange nicht ein von der zu vertretenden Fraktion einzubringender neuer Personalvorschlag die erforderliche Mehrheit erreicht. Das in § 2 Abs. 1 und Abs. 2 GO-BT vorgesehene Vorschlags- und Wahlrecht sichert hinreichend das Mitwirkungsrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und bringt dieses in einen angemessenen Ausgleich zu der verfassungsrechtlichen Vorgabe in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG.“ (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 37).

  1. Zum Recht auf effektive Opposition

Deutlich kürzer fasst sich das Gericht im Hinblick auf das Recht auf effektive Opposition. Ein solches ist zwar in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt (BVerfGE 142, 22, Rn. 85 ff.).  Es begründet aber keine spezifischen Oppositionsrechte, was auch mit der Freiheit des Mandats nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar wäre (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 42).

Hinweis: Das BVerfG spricht hier einen Klausurklassiker an. Wem das Recht auf effektive Opposition nichts sagt, der sollte hier noch einmal im Lehrbuch oder Kommentar nachlesen!

Dass dieses Recht hier nicht betroffen ist, begründet das BVerfG weiterhin damit, dass es  nicht dazu dienen kann, die Minderheit vor Entscheidungen der Mehrheit im Rahmen freier Wahlen zu bewahren, sowie damit, dass das Bundestagspräsidium zu parteipolitischer Zurückhaltung angehalten ist und Oppositionsarbeit im Amt gerade nicht angezeigt ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 43).

  1. Zum Grundsatz der Organtreue

Auch mit dem Grundsatz der Organtreue ließ sich das von der AfD-Fraktion gewünschte Ergebnis nicht begründen. Da die Wahlvorgänge für alle vorgeschlagenen Abgeordneten gleichermaßen durchgeführt wurden und die AfD-Fraktion ihr Vorschlagsrecht (mehrfach) ausüben konnte, sah das BVerfG keine Anhaltspunkte für eine gleichheitswidrige Behandlung oder unfaire oder illoyale Durchführung der Wahlvorgänge (BVerfG, Beschl. v. 22.3.2022, 2 BvE 9/20, Rn. 45).

III. Was bleibt?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liest sich wie ein Grundkurs in Sachen Demokratie. Das ist insbesondere den Ausführungen zu den Grundsätzen der freien Wahl und auch dem freien Mandat der Abgeordneten geschuldet. Das Thema bleibt politisch brisant, zeichnet sich doch für die jetzige Legislaturperiode bereits ein ähnliches Spiel ab. Der Fall bietet viel Argumentationsspielraum und Möglichkeiten, Bezüge verschiedener Normen innerhalb des Grundgesetzes zueinander aufzuzeigen. Es wäre daher nicht überraschend, ihn früher oder später als Gegenstand von Klausuren oder mündlichen Prüfungen wiederzufinden.

23.03.2022/0 Kommentare/von Dr. Lena Bleckmann
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Lena Bleckmann https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Lena Bleckmann2022-03-23 11:38:002022-07-21 09:00:22AfD scheitert vor dem Bundesverfassungsgericht – Kein Anspruch auf Wahl eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin des Bundestages
Carlo Pöschke

BVerfG zur Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern

Examensvorbereitung, Fallbearbeitung und Methodik, Für die ersten Semester, Lerntipps, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Mit Urteil vom gestrigen 09.06.2020 (Az.: 2 BvE 1/19)  hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass die Veröffentlichung eines Interviews des Bundesinnenministers auf der Internetseite des Ministeriums die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in ihren Rechten verletzt hat. Das Urteil fügt sich dabei in eine Reihe aktueller Entscheidungen zur parteipolitischen Neutralitätspflicht von Staatsorganen ein und ist damit ein ganz „heißes Eisen“ nicht für die Examensklausur, sondern insbesondere auch für (Erstsemester-)Klausuren im Staatsorganisationrecht. Im Einzelnen:
 
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)
Am 14.09.2018 veröffentlichte das Bundesinnenministerium ein Interview des Ministers mit der Deutschen Presse-Agentur. In dem Interview äußert sich dieser, angesprochen auf die AfD, wie folgt: „Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln. Das ist staatszersetzend.“ Im weiteren Verlauf des Interviews bekundet er außerdem, dieses Vorgehen sei „einfach schäbig“ gewesen. Sodann bejaht er die Frage, ob die AfD radikaler geworden sei, und fügt hinzu: „Die sind auf der Welle, auf der sie schwimmen, einfach übermütig geworden und haben auch dadurch die Maske fallen lassen. So ist es auch leichter möglich, sie zu stellen, als wenn sie den Biedermann spielt“. Schließlich führt er aus: „[…] Mich erschreckt an der AfD dieses kollektive Ausmaß an Emotionalität, diese Wutausbrüche – selbst bei Geschäftsordnungsdebatten. […] So kann man nicht miteinander umgehen, auch dann nicht, wenn man in der Opposition ist.“ Das Interview kann seit dem 01.10.2018 nicht mehr von der Homepage abgerufen werden.
Die AfD begehrt im Wege des Organstreitverfahrens die Feststellung, durch die Veröffentlichung in ihren Rechten verletzt zu sein.
 
II. Rechtliche Würdigung
Verfassungsprozessual geltend zu machen war die behauptete Rechtsverletzung in einem Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. In der Klausurbearbeitung ist im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung besonderes Augenmerk auf die Diskrepanz zwischen dem Art. 93 I Nr. 1 GG und dem enger gefassten § 63 BVerfGG zu legen. Diese Diskrepanz wirkt sich nicht auf die Beteiligtenfähigkeit des Bundesinnenministers aus, da dieser als Teil der Bundesregierung unter Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG fällt und die Bundesregierung in § 63 BVerfGG explizit als mögliche Antragstellerin oder -gegnerin genannt wird. Anders ist dies bei politischen Parteien: Sie werden in § 63 BVerfGG nicht genannt, werden jedoch beispielsweise durch Art. 21 Abs. 1 GG mit eigenen Rechten ausgestattet. Hier setzt sich die GG-Bestimmung als ranghöhere Norm durch, sodass auch die Partei „AfD“ beteiligungsfähig im Organstreitverfahren ist.
 
Der Antrag ist begründet, wenn die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des Bundesinnenministeriums verfassungswidrig ist und die AfD hierdurch in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt wird. Im vorliegenden Fall kommt eine Verletzung des in Art. 21 Abs. 1 GG niedergelegten Rechts auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Betracht.
 
1. Grundsätzliches zur Neutralitätspflicht von Staatsorganen
Tragendes Prinzip der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ist das Prinzip der Volkssouveränität. Art. 20 Abs. 2 GG formuliert insoweit anschaulich, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von diesem in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Dies beinhaltet auch, dass Willensbildung von „unten nach oben“ erfolgt, d.h. sich der Wille des Volkes im Volk bildet und dann nach oben durchsetzt. Politische Parteien nehmen dabei eine besonders wichtige Rolle im Willensbildungsprozess ein. Ein freier Meinungs- und Willensbildungsprozess setzt dabei voraus, dass die politischen Parteien gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen. Daher wird aus Art. 21 Abs. 1 GG (und in Wahlkampzeiten zusätzlich aus Art. 38 Abs. 1 GG) ein Recht der Parteien auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung abgeleitet, das die Äußerungsbefugnis der Staatsorgane einschränkt.
 
2. Das Neutralitätsgebot schließt Informations- und Öffentlichkeitsarbeit von Ministern nicht aus…
Die Neutralitätspflicht schließt jedoch nicht jegliche (partei-)politischen Äußerungen von Ministern aus. Im Gegenteil: Aus Art. 65 GG folgt die Aufgabe der Bundesregierung zur Staatsleitung und diese schließt die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein. Somit besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit und dem Neutralitätsgebot.
 
3. … setzt ihr aber enge Grenzen
Das BVerfG hat in seiner Judikatur versucht, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, und in inzwischen ständiger Rechtsprechung einen Maßstab der Äußerungsbefugnis für Regierungsmitglieder entwickelt, der auch im vorliegenden Fall wieder zur Anwendung gekommen ist. Allgemein gesagt endet die „Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung […] dort, wo Werbung für oder Einflussnahme gegen einzelne im politischen Wettbewerb stehende Parteien oder Personen beginnt“.
Grds. erlaubt sei – bei Wahrung der gebotenen Sachlichkeit – damit die öffentliche Zurückweisung von gegen ihre Politik gerichteten Angriffen. Regelmäßig zulässig sind zudem (patei-)politische Aussagen, wenn das Regierungsamt nicht in Anspruch genommen wird, beispielsweise bei Auftritten auf Parteitagen.
Im vollen Umfang kommt die Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern jedoch zum Tragen, wenn diese auf

durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten und Mittel zurückgreifen, über welche die politischen Wettbewerber nicht verfügen. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in Ausübung des Ministeramtes stattgefunden hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen. Eine Äußerung erfolgt insbesondere dann in regierungsamtlicher Funktion, wenn der Amtsinhaber sich in Form offizieller Publikationen, Pressemitteilungen sowie auf der Internetseite seines Geschäftsbereichs erklärt oder wenn Staatssymbole und Hoheitszeichen eingesetzt werden.

 
4. Überschreitung der Äußerungsbefugnis im konkreten Fall?
Was bedeuten diese grundsätzlichen Aussagen auf den konkreten Fall bezogen? Durch die im Interview getätigten Äußerungen ergreift der Minister Partei, indem er die AfD deutlich kritisiert. Zur Beantwortung der Frage, ob er dadurch seine Befugnisse überschritten hat, hat das BVerfG – überzeugend – zwischen der Äußerung im Rahmen des Interviews und der Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage des Ministeriums differenziert. Während ersteres nicht zu beanstanden war, sahen die Verfassungsrichter bei letzterem die AfD in ihrem Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt.
Denn: Bei der Abgabe der genannten Äußerungen im Rahmen des Interviews hat der Minister

weder in spezifischer Weise auf die Autorität seines Ministeramtes noch auf die damit verbundenen Ressourcen zurückgegriffen […]. Vielmehr ergibt der Gesamtzusammenhang des Interviews, dass sich die Äußerungen als Teilnahme des Antragsgegners am politischen Meinungskampf in seiner Eigenschaft als Parteipolitiker und nicht als Wahrnehmung des Ministeramtes darstellen. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass der Antragsgegner zu Themen befragt wird, die nicht von seinem Ressort umfasst sind.

Anders zu beurteilen ist die Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage. Damit hat der Bundesinnenminister nämlich

auf Ressourcen zurückgegriffen, die ihm allein aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen. Diese hat er auch zur Beteiligung am politischen Meinungskampf eingesetzt, da die Wiedergabe des Interviews der weiteren Verbreitung der darin enthaltenen Aussagen diente. Da diese Aussagen in einseitiger Weise Partei gegen die Antragstellerin ergreifen, verstößt die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des Ministeriums gegen das Gebot strikter staatlicher Neutralität […].

Auch die Tatsache, dass die getätigten Aussagen keinen konkreten Wahlkampfbezug aufwiesen, führte nicht zu einer abweichenden Bewertung des Falls. Schließlich könne die politische Willensbildung nicht nur durch Wahl- oder Nichtwahlaufrufe beeinflusst werden, „sondern auch durch die negative Qualifizierung des Handelns oder der Ziele einzelner Parteien“. Darüber hinaus sei das Neutralitätsgebot nicht auf Wahlkampzeiten beschränkt, da politische Willensbildung fortlaufend stattfinde.
 
5. Ergebnis
Während die Abgabe der genannten Äußerungen im Rahmen des Interviews die verfassungsrechtlichen Rechte der AfD nicht verletzt, ist die Veröffentlichung des Interviews verfassungswidrig, da sie AfD in ihrem aus Art. 21 Abs. 1 GG folgenden Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung verletzt. Der Antrag der AfD ist damit teilweise begründet.
 
III. Einordnung
Über Organstreitverfahren, in denen es um eine mögliche Verletzung der Neutralitätspflicht von Staatsorganen ging, musste das BVerfG in den letzten Jahren vermehrt entscheiden, sodass es die Gelegenheit hatte, eine kohärente und vorhersehbare Rechtsprechung zu entwickeln.
Das Innenministerium hätte das Obsiegen der AfD in dem vorliegenden Organstreitverfahren verhindern können, hätte es sich nur an der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung orientiert. Erst ein gutes halbes Jahr vor der Veröffentlichung des Interviews auf der Homepage hat das BVerfG geurteilt (Urt. v. 27.02.2018 – Az.: 2 BvE 1/16), dass die Veröffentlichung einer Pressemitteilung der damaligen Bundesbildungsministerin auf der Homepage des Ministeriums, in der sie sich wie folgt äußerte, das Recht der AfD auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt hat:

Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung.

So hat der Innenminister genau das Gegenteil von dem erreicht, was er mit seiner Aussage beabsichtigte zu bezwecken: Das Verhalten des Ministers ermöglicht es der AfD einmal mehr, sich öffentlichkeitswirksam als Opfer der Mächtigen zu stilisieren.
Besser angestellt hat es die damalige Bundesfamilienministerin. Sie hat sich 2014 am Rande der Teilnahme an der Verleihung des Thüringer Demokratiepreises in Weimar bei einem Zeitungsinterview wie folgt geäußert:

Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.

Ihr hat das BVerfG (Urt. v. 16.12.2014 – Az.: 2 BvE 2/14) nämlich attestiert, dass die Äußerung die NPD nicht in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt hat, da die Äußerung dem politischen Meinungskampf zuzuordnen gewesen sei und die Ministerin ihr Amt nicht in Anspruch genommen habe.
Ebenfalls als verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sah das BVerfG (Urt. v. 10.06.2014 – Az.: 2 BvE 4/13) die Bezeichnung von NPD-Anhängern als „Spinner“ durch den damaligen Bundespräsidenten bei einer Gesprächsrunde mit mehreren hundert Berufsschülern, über die im Anschluss in der Presse berichtet wurde, an. Die Verwendung des Wortes „Spinner“ sei zwar zuspitzend, im Kontext der Gesamtaussage betrachtet aber nicht unsachlich gewesen. Im Vergleich zu Regierungsmitgliedern ist das auch vom Bundespräsidenten zu beachtende Neutralitätsgebot zudem weniger streng, da dieser nicht im direkten Wettbewerb um die Erzielung von politischem Einfluss steht und zudem Repräsentations- und Integrationsaufgaben wahrnimmt, sodass ihm für die konkrete Amtsführung ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt wird.
 
IV. Fazit
Angesichts der zahlreichen BVerfG-Urteile zur Neutralitätspflicht der Staatsleitung in den letzten sechs Jahren ist damit zu rechnen, dass dieser Themenkomplex Prüflinge weiter beschäftigen wird. Bei der Frage, ob eine Äußerung eine Partei in ihrem verfassungsrechtlichem Recht auf Gleichbehandlung verletzt, ist maßgeblich darauf abzustellen, ob dabei in spezifischer Weise auf die Autorität und die Ressourcen des Amtes zurückgegriffen wurde. Prüflinge wird es freuen, dass dabei maßgeblich die Umstände des Einzelfalls zu würdigen sind. Für eine erfolgreiche Klausurbearbeitung ist somit für derartige Fallkonstellationen kein Auswendiglernen im größeren Umfang erforderlich. Vielmehr kommt es (wie so oft) auf ein solides Grundlagenverständnis sowie eine überzeugende Argumentation, durch die man zu einem vertretbaren Ergebnis gelangt, an.
Ein Blick auf die neueren Urteile des BVerfG (oder für die eiligen Leser: die Pressemitteilungen) lohnt freilich nichtsdestotrotz, da dieser die Argumentationsfähigkeit schärft:

  • BVerfG, Urt. v. 09.06.2020 – Az.: 2 BvE 1/19 (Interview des Bundesinnenministers):  Pressemitteilung
  • BVerfG, Urt. v. 27.02.2018 – Az.: 2 BvE 1/16 („Rote Karte“ für die AfD): Pressemitteilung; Urteil
  • BVerfG, Urt. v. 10.06.2014 – Az.: 2 BvE 4/13 (NPD-Anhänger als „Spinner“): Pressemitteilung; Urteil
  • BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – Az.: 2 BvE 2/14 (Interview der Bundesfamilienministerin): Pressemitteilung; Urteil

10.06.2020/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2020-06-10 08:28:342020-06-10 08:28:34BVerfG zur Äußerungsbefugnis von Regierungsmitgliedern
Carlo Pöschke

BVerfG: Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt

Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

Ungefähr drei Monate sind vergangen, seit eine nächtliche Sitzung des Deutschen Bundestags für unerwartetes Aufsehen sorgte: Obwohl ein Abgeordneter der Fraktion „Alternative für Deutschland“ (AfD) die Beschlussfähigkeit des Bundestags bezweifelte und Schätzungen zufolge nur noch ca. 100 der 709 Parlamentarier im Sitzungssaal anwesend waren, wurde die Abstimmung u.a. über zwei europarechtliche Datenschutzvorlagen fortgesetzt. Am Tag danach erklärte die AfD-Vize-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch, es werde geprüft, was gegen die Willkür, „mit der ein offenkundig nicht beschlussfähiger Bundestag in tiefer Nacht unter erkennbar offener Missachtung der Geschäftsordnung Gesetze durchdrückt“, unternommen werde könne. Daraufhin reichte die AfD-Bundestagsfraktion beim BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, die es dem Bundespräsidenten untersagen sollte, die durch den Bundestag beschlossenen Gesetze gegenzuzeichnen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Mit Beschluss vom 17.09.2019 – 2 BvQ 59/19, BeckRS 2019, 21913 lehnte der Zweite Senat den Erlass der einstweiligen Anordnung ab. Da der Vorgang auch erhebliche mediale Aufmerksamkeit erfahren hat, liegt die gesteigerte Prüfungsrelevanz auf der Hand. Gleichzeitig bietet die Entscheidung die Gelegenheit, die Grundlagen der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG zu wiederholen, die im Studium im Vergleich zum vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nach §§ 80 Abs. 5, 80a, 123 VwGO häufig nur geringe Aufmerksamkeit erfährt.

A. Sachverhalt (im Wesentlichen den Gründen des Beschlusses entnommen, leicht abgewandelt)

Doch was genau ist geschehen?

Die 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages dauerte vom 27. bis in die frühen Morgenstunden des 28.06.2019. Als Tagesordnungspunkte 22a und 22b rief die Vizepräsidentin des Bundestages zwei Gesetzentwürfe zur Beratung auf. Bevor die Abgeordneten mit den Abstimmungen über die Gesetzentwürfe begannen, bezweifelte am 28.06.2019 gegen 1:27 Uhr ein Abgeordneter der AfD-Fraktion die Beschlussfähigkeit der Versammlung, woraufhin die Bundestagsvizepräsidentin für den Sitzungsvorstand erwiderte, dass nach dessen Meinung die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Schätzungen zufolge waren jedoch nur ca. 100 der 709 Bundestagsabgeordneten im Plenarsaal anwesend. Für den Sitzungsvorstand war es auch eindeutig erkennbar, dass weniger als die Hälfte der Bundestagsabgeordneten im Plenarsaal anwesend waren. Dennoch wurden zunächst die beiden Gesetzentwürfe sowie später noch ein dritter Entwurf zur Abstimmung gestellt. Alle erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Die AfD-Bundestagsfraktion stellte beim BVerfG daraufhin schriftlich einen den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Der Antrag war darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis auf Weiteres zu untersagen, die durch den Bundestag beschlossenen Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden.

Nach Ansicht der AfD-Fraktion verletzte die Nicht-Durchführung des sog. Hammelsprungs nicht nur § 45 Abs. 2 iVm. § 51 GOBT, sondern v.a. auch den Grundsatz der parlamentarischen Demokratie und speziell die Mitwirkungsrechte des gesamten Bundestags bei der Gesetzgebung. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG sei zulässig. Zunächst sei ein Organstreit in der Hauptsache grundsätzlich zulässig, denn eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte des Bundestages infolge des offensichtlich willkürlichen Vorgehens der Sitzungsleitung sei keineswegs ausgeschlossen. Gegen die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung könne ferner nicht eingewendet werden, dass im noch anzustrengenden Organstreitverfahren nicht der Bundespräsident, sondern v.a. der Bundestag selbst als Antragsgegner in Betracht komme. Auch werde es in der späteren Hauptsache nur um die Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte gehen und nicht wie hier um eine vorläufige Unterlassung. Jedoch könnten die verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages anders nicht effektiv geschützt werden. Der Antrag sei schließlich auch begründet. Selbst unter Anlegung strenger Maßstäbe sprächen im Rahmen einer Folgenabwägung die besseren Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung. Für den Fall, dass dem Eilantrag stattgegeben werde, der Hauptsacheantrag aber ohne Erfolg bliebe, entstehe kein nennenswerter Schaden. Die betroffenen Gesetze träten lediglich einige Monate später in Kraft, was durch die Gewissheit ihrer formellen Verfassungskonformität kompensiert werde. Hingegen sei das rasche Inkrafttreten der Gesetze vergleichsweise ohne Wert, denn sie seien mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit bemakelt. Für Rechtsfrieden könnten sie so nicht sorgen. Sollte hingegen der Eilantrag abgelehnt werden, der Organstreit in der Hauptsache aber erfolgreich sein, entstehe eine Art „verfassungsrechtlicher Notstand“. Denn das Bundesverfassungsgericht könne im Organstreitverfahren nur die Verletzung von Organrechten feststellen, nicht aber einen verfassungswidrig zustande gekommenen Rechtsakt für nichtig erklären. Es wären dann formell verfassungswidrige, aber weiterhin fortgeltende Gesetze in der Welt. Nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden. Daher dürften sie jetzt jedenfalls noch nicht ausgefertigt werden.

Hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Aussicht auf Erfolg?

B. Rechtliche Würdigung

Das BVerfG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung „abgelehnt“. Bereits am Tenor wird damit deutlich, dass sich die Entscheidung strukturell in die Rechtsprechung des BVerfG einfügt, die nicht zwischen Zulässigkeit und Begründetheit abgrenzt (vgl. dazu auch MKSB/Graßhof, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 32 Rn. 37 f.). Auch wenn die praktische Bedeutung dieser Abgrenzung gering ist, ist Klausurbearbeitern gleichwohl zu raten, die Prüfung nach den Erfolgsaussichten der Übersichtlichkeit halber wie gewohnt in Zulässigkeit und Begründetheit zu gliedern.

Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung hat also Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Der Antrag müsste zulässig sein.

1. Eröffnung des Rechtswegs zum BVerfG

Dazu müsste zunächst der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet sein, was dann der Fall ist, wenn das mit dem Hauptsacheverfahren verfolgte oder zu verfolgende (sog. isolierter Eilantrag) Anliegen einer der in Art. 93 Abs. 1 GG, § 13 BVerfGG abschließend aufgezählten Verfahrensarten zuzuordnen ist. Im Hauptsacheverfahren wäre ausweislich der Begründung des Antrags zu klären, ob durch das Vorgehen der Sitzungsleitung verfassungsmäßige Rechte des Bundestags verletzt wurden. Einschlägig wäre damit in der Hauptsache ein Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG, sodass auch vorliegend der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet ist.

2. Zuständigkeit des BVerfG

Gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG ist das BVerfG zur Entscheidung über Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zuständig.

3. Antragsberechtigung

Weiterhin müsste die AfD-Fraktion antragsberechtigt sein. Die Antragsberechtigung ergibt sich dabei aus dem betreffenden Hauptsacheverfahren. Antragsberechtigt sind somit die Beteiligten des Hauptsacheverfahrens. Die Beteiligungsfähigkeit im Organstreitverfahren richtet sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG. Nach § 63 BVerfGG sind der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestags und des Bundesrats mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe beteiligungsfähig. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ist hinsichtlich der Beteiligungsfähigkeit weiter gefasst und lässt die Anträge eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das GG oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, zu. Eine Fraktion wird durch §§ 10 ff., 57 Abs. 2, 75 f. GOBT mit eigenen Rechten ausgestattet und ist damit ein Teil des Bundestags iSd. § 63 BVerfGG bzw. ein anderer Beteiligter iSd. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Die AfD-Fraktion ist somit im Organstreitverfahren beteiligungsfähig und damit auch im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung antragsberechtigt.

4. Keine Vorwegnahme der Hauptsache

Außerdem dürfte die einstweilige Anordnung nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, da sie nur der vorläufigen Regelung eines Zustands dient. Vorliegend begehrt die Antragstellerin dem Bundespräsidenten bis auf Weiteres zu untersagen, die durch den Bundestag beschlossenen Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Auch nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens könnte der Bundespräsident die beschlossenen Gesetze noch gegenzeichnen und im Bundesgesetzblatt verkünden. Dadurch würden die Folgen der einstweiligen Anordnung gleichsam rückgängig gemacht. (Salopp formuliert könnte man sagen, Gegenzeichnung und Verkündung werden durch eine einstweilige Anordnung bloß aufgeschoben, nicht aufgehoben.) Die einstweilige Anordnung nimmt daher die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweg.

 5. Form

Die Formvorschriften des § 23 Abs. 1 BVerfGG wurden gewahrt.

Anmerkung: An dieser Stelle wurde der Sachverhalt aus didaktischen Gründen leicht abgewandelt: Das BVerfG hat im zu entscheidenden Fall zusätzlich die Frage aufgeworfen (aber letztendlich dahinstehen lassen), ob der Antrag überhaupt den Anforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG genügt. Dies sei fraglich, da sich aus der bisherigen Begründung womöglich nicht deutlich genug ergebe, welche organschaftliche Rechtsposition die Antragstellerin in einem etwaigen Organstreitverfahren gedenkt geltend zu machen.

6. Zwischenergebnis

Der Antrag ist zulässig.

II. Begründetheit

Fraglich ist, ob der Antrag auch begründet ist.

Im Rahmen der (vom BVerfG nicht explizit als Begründetheitsprüfung bezeichneten) Begründetheitsprüfung arbeitet das BVerfG nach ständiger Rechtsprechung anders als vom verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz bekannt mit einer spezifischen Folgenabwägung, bei der die konkreten Erfolgsaussichten der Hauptsache grds. außer Betracht bleiben. Stattdessen rekurriert das Gericht auf die sog. Doppelhypothese, bei der die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, abgewogen werden mit den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Hauptsacheverfahren aber letztlich der Erfolg zu versagen wäre. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 32 Abs. 1 BVerfGG („Abwehr schwerer Nachteile“, „Verhinderung drohender Gewalt“, „anderer wichtiger Grund“) gehen bei dieser Formel im Begriff des Nachteils auf. Das BVerfG tritt in die Abwägung nach der Doppelhypothese jedoch nur ein, wenn sich das Hauptsacheverfahren weder als offensichtlich unzulässig noch als offensichtlich unbegründet erweist (hierzu m.w.N. BeckOK BVerfGG/Walter, 7. Ed. 01.06.2019, § 32 Rn. 42 f.).

1. Offensichtliche Unzulässigkeit oder Unbegründetheit in der Hauptsache

Die Hauptsache dürfte nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet sein. Dies wäre der Fall, wenn das Gericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung der Auffassung ist, dass kein Gesichtspunkt erkennbar ist, der dem Hauptsacheverfahren zum Erfolg verhelfen könnte.

Das BVerfG schneidet in dem Beschluss jedoch Zulässigkeits- und Begründetheitsfragen des Hauptsacheverfahrens nicht einmal an, sondern löst den Fall über die bereits angesprochene spezifische Folgenabwägung. Dies ist typisch für Entscheidungen des BVerfG über einstweilige Anordnungen, da in der verfassungsgerichtlichen Praxis die Zulässigkeit und Begründetheit des Hauptsacheverfahrens noch nicht abschließend geklärt sein müssen. Um auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Fragen in der gutachterlichen Bearbeitung eingehen zu können, ist Klausurbearbeitern dennoch zu empfehlen, die Zulässigkeit und Begründetheit des Hauptsacheverfahrens inzident zu prüfen.

Als erster problematischer Punkt einer inzidenten Zulässigkeitsprüfung wäre damit die Frage zu beantworten, wer der Antragsgegner ist und ob dieser ebenfalls beteiligungsfähig gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG ist. Die AfD-Fraktion führt in ihrem Antrag bereits selbst aus, dass im noch anzustrengenden Organstreitverfahren nicht der Bundespräsident, sondern v.a. der Bundestag selbst als Antragsgegner in Betracht komme. Da vorliegend jedoch die Stellvertreterin des Bundestagspräsidenten handelte, erscheint es naheliegender, den Bundestagspräsidenten als Antragsgegner zu wählen. Dabei handelt der Stellvertreter des Präsidenten bei der Leitung von Bundestagssitzungen als „amtierender Präsident“ iSd. § 8 Abs. 1 GOBT. Der Bundestagspräsident wird z.B. durch §§ 7 Abs. 1 S. 1, S. 2 a.E., 22 S. 1 GOBT auch mit eigenen Rechten ausgestattet und ist damit sowohl gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG als auch nach § 63 BVerfGG beteiligungsfähig.

Ebenfalls näheren Ausführungen bedarf es bei der Frage, ob die AfD-Fraktion auch antragsbefugt ist, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 64 Abs. 1 BVerfGG. Dazu müsste die Antragstellerin geltend machen, d.h. die Möglichkeit aufzeigen, dass sie oder das Organ, dem sie angehört, durch die Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners (hier: Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines Hammelsprungs durch den Sitzungsvorstand) in ihren ihr durch das GG übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Weil das Organstreitverfahren ein kontradiktorisches Streitverfahren ist, bei dem der Antragsteller eine Verletzung eigener durch das GG übertragener Rechte oder im Rahmen einer Prozessstandschaft die Verletzung von Rechten der Organs, dem er angehört, geltend machen muss, genügt eine Berufung auf eine bloße Missachtung der GOBT oder objektiver Verfassungsprinzipien nicht. Im vorliegenden Fall erscheint eine Verletzung eigener verfassungsrechtlicher Rechte der AfD-Fraktion nicht einmal möglich, da der Sitzungstermin bekannt war und die gesamte Fraktion an der Sitzung des Bundestags hätte teilnehmen können. Gleiches gilt, soweit die AfD-Fraktion prozessstandschaftlich die Rechte des Bundestags geltend machen würde: Der Sitzungstermin wurde rechtzeitig bekanntgemacht und Hinweise zu etwaigen Behinderungen der parlamentarischen Abläufe im Vorfeld lagen nicht vor. Auch das Gesetzgebungsrecht des Bundestags wurde nicht beeinträchtigt, da die Verweigerung des Hammelsprungs gerade dazu führte, dass es zu den Gesetzesbeschlüssen kommen konnte (hierzu s. Deger, Verfassungsblog v. 14.08.2019).

Somit könnte man (jedenfalls in einer Klausurbearbeitung) den Antrag bereits wegen offensichtlicher Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens als unbegründet ansehen.

2. Folgenabwägung

Der Zweite Senat hingegen ist von einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens ausgegangen und hat somit direkt die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegen die Folgen abgewogen, die eintreten würden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.

Nach Ansicht des Gerichts drohte der AfD-Fraktion kein schwerer Nachteil, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde und ein Organstreitverfahren später Erfolg hätte. Das Argument, für diesen Fall sei der Eintritt einer Art „verfassungsrechtlichen Notstands“ zu befürchten, überzeugte das BVerfG nicht. Denn:

„Was […] [die AfD-Fraktion] […] in der Sache rügt, ist das Auseinanderfallen der möglichen Rechtsfolgen von Organstreitverfahren einerseits und Normenkontrollverfahren andererseits. Nach § 67 BVerfGG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über einen Organstreit nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt; Rechtsfolge der abstrakten Normenkontrolle kann hingegen nach § 78 BVerfGG die Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht sein. Eine Rechtsschutzlücke für mögliche Antragsteller des Organstreits folgt hieraus jedoch nicht, sondern dies ist Ausdruck der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GG, dem objektiven Normenbeanstandungsverfahren mit dem Organstreit ein kontradiktorisches Streitverfahren ausschließlich zur Klärung eines bestimmten Verfassungsrechtsverhältnisses zur Seite zu stellen. Für eine sich von diesem gesetzlich gezogenen Rahmen lösende Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ist kein Raum […].“

Auch durch das Inkraftbleiben eines zunächst formell verfassungswidrigen Gesetzes im Falle eines späteren Erfolgs im Organstreitverfahren stelle – so das BVerfG – keinen schweren Nachteil für die AfD-Fraktion dar. An dieser Stelle verweist das Gericht erneut auf eine grundgesetzliche Kompetenzentscheidung: Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz sei grds. nachgelagerter, kassatorischer Rechtsschutz, wobei das BVerfG insb. die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten zu respektieren habe.

Ebenfalls nicht überzeugte das Gericht das Argument, nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die fraglichen Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden. Dazu führt das BVerfG in seiner Entscheidung aus, dass der

„Bundestag […] zu jedem Zeitpunkt erneut über die seitens der Antragstellerin bemängelten Gesetze abstimmen [kann], und zwar unabhängig sowohl von einem Erlass der einstweiligen Anordnung als auch von einer Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin in einem späteren Organstreitverfahren.“

Im Ergebnis gewichtete das BVerfG somit ein späteres Inkrafttreten der verabschiedeten Gesetze für den Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Hauptsacheantrag aber ohne Erfolg bleibt, schwerer als die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte. Dies auch deshalb, weil die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes stets einen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darstellt und daher bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung unter diesen Umständen ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist.

3. Zwischenergebnis

Der Antrag der AfD-Fraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

III. Ergebnis

Der Antrag hat keinen Erfolg.

C. Stellungnahme/Ausblick

Was bleibt?

  • Die Entscheidung des BVerfG ist im Ergebnis richtig, das allgemeine Vorgehen des Verfassungsgerichts bei der Prüfung von einstweiligen Anordnungen erweist sich jedoch als wenig systematisch. Weshalb auf eine Unterteilung zwischen Zulässigkeit und Begründetheit verzichtet wird, ist nicht ersichtlich. Ebenfalls nicht erklären lässt sich, weshalb statt auf eine summarische Prüfung wie beim verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz auf eine Folgenabwägung gesetzt wird: Laut BVerfG müssen „bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung […] die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht […] bleiben“, um im gleichen Atemzug festzustellen, dass dies nicht gelte, wenn sich die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Gerade dadurch wird jedoch der Erlass der einstweiligen Anordnung vom prognostischen Ausgang des Hauptsacheverfahrens abhängig gemacht. Der Unterschied zwischen Folgenabwägung und summarischer Prüfung ist daher höchstens graduell. Prüflingen ist dennoch zu raten, die Terminologie und die Struktur der Prüfung durch das BVerfG mit Ausnahme der bereits geschilderten Abweichungen in die eigene gutachterliche Falllösung zu übernehmen, um dem Prüfer zu zeigen, dass die Unterschiede zwischen verwaltungsgerichtlichem Eilrechtsschutz und einstweiliger Anordnung nach § 32 BVerfGG bekannt sind.
  • Der vorliegende Fall kann nicht nur als Ganzes, sondern auch in vielfältigen anderen Konstellationen in verfassungs- oder verwaltungsgerichtlichen Klausuren Bedeutung erlangen. Insb. kann die Problematik um die Verweigerung eines Hammelsprungs immer dann eingestreut werden, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes geprüft werden soll. Bei der Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 76 ff. GG) iRd. formellen Verfassungsmäßigkeit wäre dann zu prüfen, ob die Geschäftsordnungsvorschriften der §§ 45, 51 GOBT durch die Verweigerung des Hammelsprungs verletzt wurden (zu dieser Frage ausführlicher Deger, Verfassungsblog v. 14.08.2019). Kommt man zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von §§ 45, 51 GOBT vorliegt, wäre weiter zu erörtern, ob ein bloßer Verstoß gegen Geschäftsordnungsvorschriften vorliegt oder ob §§ 45, 51 GOBT zudem Verfassungsrecht konkretisieren. Nur im letztgenannten Fall führt eine Missachtung von §§ 45, 51 GOBT auch zur Verfassungswidrigkeit des betreffenden Gesetzes.

07.10.2019/1 Kommentar/von Carlo Pöschke
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Carlo Pöschke https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Carlo Pöschke2019-10-07 09:17:412019-10-07 09:17:41BVerfG: Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt
Gastautor

Ist die „Abschaffung“ des Europäischen Parlaments unionsrechtlich möglich?

Europarecht, Examensvorbereitung, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Öffentliches Recht, Schon gelesen?, Startseite, Tagesgeschehen, Verfassungsrecht

Wir freuen uns, heute einen Gastbeitrag von Nikolaus Klausmann veröffentlichen zu können. Der Autor ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin (EWeRK Institut).
 

Die „Abschaffung“ des Europäischen Parlaments als Europawahlversprechen der AfD

 

-Eine Anmerkung aus europarechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive-

 
Rechtliche Erläuterungen zu aktuellen politischen Ereignissen sind vor allem im Rahmen des mündlichen Teils der Juristischen Staatsprüfungen regelmäßig gefragt. Für die Vorbereitung auf diese Prüfungen ist es daher unerlässlich, sich mit politischem Tagesgeschehen aus rechtswissenschaftlicher Sicht zu beschäftigen. Die in diesem Beitrag beleuchtete Thematik bietet sich als Prüfungsgegenstand einer mündlichen Prüfung an. Es können europa- und verfassungsrechtliche Kenntnisse sowie die Fähigkeit, diese auf aktuelles Politikgeschehen anzuwenden, geprüft werden. 
 
Vom 23. bis 26. Mai 2019 findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Die AfD möchte unter anderem mit der Forderung der „Abschaffung“ des EU-Parlamentes Stimmen gewinnen. Konkret ist im Europawahlprogramm[1] der AfD zu lesen: „Das undemokratische EU-Parlament mit seinen derzeit (…) 751 Abgeordneten wollen wir abschaffen“ (Seite 12). Zwar wird das Europäische Parlament aus verschiedensten politischen Richtungen als reformbedürftig bezeichnet. Die AfD ist jedoch die einzige in Deutschland zur Wahl antretende, maßgebliche Partei die eine Beseitigung des Organs fordert.[2]
 
Dieser Beitrag geht zunächst kurz auf die These ein, das Organ sei „undemokratisch“ (I.). Anschließend wird dargestellt wie sich das Parlamente tatsächlich „abschaffen“ ließe (II. & III.) und ob es Parallelen zwischen dem europäische Recht und der deutschen Verfassung bezüglich eines solchen Vorgangs gibt (IV.). In einem Fazit werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst (V.).
 
I. Anhaltspunkte für ein Demokratiedefizit?
Das „Demokratiedefizit der Europäischen Union“ ist wissenschaftlicher Forschungsgegenstand und viel bemühte Thematik der Politik. Untersucht wird in diesem Zusammenhang neben einem strukturellen Demokratiedefizit (Die Nichtexistenz einer „europäischen Öffentlichkeit“), auch ein sog. „institutionelles Demokratiedefizit“ (Ausgewogenheiten im institutionellen Gefüge der Europäischen Union).[3] Ein solches soll beispielsweise deshalb vorliegen, weil -gemäß Art. 294 AEUV- weder das Europäische Parlament, noch der Rat der EU -die europäischen Institute der Legislative, vgl. Art 12 I EUV- ein Initiativrecht im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens besitzen.[4] Ebenfalls ist die Anzahl der Abgeordneten eines Mitgliedsstaats im Europäischen Parlament nicht direkt proportional zu seiner Bevölkerungsgröße (sog.  degressiv proportionale Repräsentation), vgl. Art 14 II EUV.[5] Kritik an dieser institutionellen Ausgestaltung wird mit einem Verweis auf die Grundsätze der Effizienz, der Pluralität und der Solidarität begegnet.[6]
 
II. Wie ließe sich das EU Parlament „abschaffen“?
Was meint die AfD mit dem Begriff des „Abschaffens“? Der Duden schlägt als Synonyme die Begriffe „aufheben, außer Kraft setzen, beseitigen“ vor. Es soll eine Situation ohne Existenz des Organs geschaffen werden – so das Versprechen.[7]
Der Grund für das Bestehen des Europäischen Parlaments ist dessen Verankerung in Art. 13 und 14 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und  Handlungskompetenzen des Organs, beispielsweise im Bereich der Rechtssetzung, werden im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) definiert. Beide Verträge sind Teil des sogenannten europäischen Primärrechts. Dabei handelt es sich -im Gegensatz zum europäischen Sekundärrecht- nicht um von der EU erlassene Legislativakte, sondern um von den Mitgliedsstaaten ursprünglich geschlossene völkerrechtliche Verträge.[8] Sie bilden die Basis für das Bestehen der EU und die Handlungsfähigkeit ihrer Institutionen.[9]
Daher ist eine „Abschaffung“ des EU-Parlaments nur mit einer Änderung des europäischen Primärrechts möglich. Doch wie könnte die AfD als Teil des Parlamentes eine Primärrechtsänderung mit entsprechendem Inhalt herbeiführen, bzw. zu einer solchen beitragen?
 
III. Änderung des Europäischen Primärrechts
Art. 48 EUV regelt die Änderung der Verträge, also des EUV und des AEUV.[10] Diese Norm stellt somit lex specialis zu den allgemeinen Vorgaben aus dem Völkervertragsrecht, vgl. Art. 39 WVK ff., dar. Den dort dargelegten, verschiedenartigen Änderungsverfahren ist grundsätzlich gemein, dass sie der mitgliedstaatlichen Zustimmung bedürfen und nicht allein durch Rechtshandlungen der Organe der Europäischen Union bewirkt werden können. Das folgt auch aus deren völkerrechtlichem Ursprung.[11]
Initiiert werden kann ein Änderungsverfahren von der Regierung jedes Mitgliedstaates, dem Europäischen Parlament und der Kommission.[12] Als Teil des Parlamentes könnte die AfD daher grundsätzlich ein Änderungsverfahren anstoßen. Aber schon die Zulassung der Initiative hängt von der einfachen Mehrheit des Europäischen Rates ab. Sollte eine solche nicht zustande kommen, wäre die Initiative aus dem Parlament schon im Keim erstickt.
Nach erfolgreicher Initiative, hat ein Konvent von Vertretern und Vertreterinnen der nationalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission anschließend den Auftrag die Änderungsentwürfe zu prüfen.[13] Das Ergebnis dieser Prüfung wird nun der Regierungskonferenz – ausschließlich als Empfehlung – weitergeleitet.[14] Diese besteht aus Vertretern und Vertreterinnen der Regierungen der Mitgliedstaaten. Bis zu diesem Punkt könnte die AfD als Teil des EU-Parlaments auf die Ausgestaltung dieser Empfehlung, wenn auch nur sehr eingeschränkt, einwirken. In allen folgenden Schritten versiegt jedoch die Einflussnahme aller EU-Institutionen vollständig.
Diese Regelung ist nachvollziehbar: Die EU wurde auf Basis von Verträgen zwischen den Mitgliedsstaaten geschaffen; also auf Basis von Einigungen zwischen diesen. Der Inhalt solcher Verträge kann nur durch eine zeitlich nachgelagerte Einigung eben dieser Vertragspartner verändert werden.
 
IV. Das Parlament auf europäischer und deutscher Ebene
Interessanterweise richtet sich aber nicht das Recht selbst gegen eine entsprechende Gesetzesänderung. An dieser Stelle unterscheidet sich das europäische vom deutschen Recht. Unabhängig von parlamentarischen Mehrheiten und sonstigen politischen Erwägungen stünde einer -jedenfalls ersatzlosen- Abschaffung des deutschen Bundestages die Verfassung selbst entgegen. Für eine entsprechendes Vorhaben müsste Art. 20 GG geändert oder verworfen werden, denn: Gesetzgebung ohne Parlament wäre mit der Gewährleistung eines Kernbestands des demokratischen Prinzips unvereinbar.[15] Eine Verfassungsänderung ist dem Grunde nach möglich, vgl. Art. 76 II & III GG, Art. 79 I GG, bedarf aber jedenfalls einer zweidrittel Mehrheit des Bundestages und des Bundesrates.[16]
Gegen eine entsprechende Änderung, schützt sich die deutsche Rechtsordnung jedoch u.a. in diesem Einzelfall mit der sog. „Ewigkeitsklausel“ selbst. Sie sieht in Art. 79 III GG eine Bestandsgarantie für die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze, namentlich auch den Erhalt der Volksouveränität  vor.[17] Eine solche ist aber nur gewährleistet, wenn das staatliche Handeln demokratisch legitimiert ist. Bei einem ersatzlosen Abschaffen des Bundestages wäre das wohl nicht weiter der Fall. Daher sind gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse für ein entsprechendes Vorhaben nicht ausschlaggebend. Die aus Art. 20 GG ableitbaren staatsorganisatorischen Grundsätze ließen sich auf deutscher-nationalen Ebene nicht abschaffen. Politischer Wille könnte daran nichts ändern.
Auf die europäische Ebene ist diese Argumentation nicht übertragbar. Hier entwickelte sich Demokratie zwar von einer politischen Forderung, ohne Status eines Rechtsprinzips, zur verbindlichen primärrechtlichen Vorgabe (s.o.). Die Ewigkeitsklausel aus der deutschen Verfassung findet auf unionsrechtlicher Ebene jedoch keine Entsprechung. Deshalb ist jede Primärrechtsänderung dem Grunde nach möglich.
 
V. Fazit
Der „Abschaffung“ des Europäischen Parlamentes stellt sich zwar kein, der Ewigkeitsklausel der deutschen Verfassung entsprechender unionsrechtlicher Schutzmechanismus entgegen. Für die Beseitigung des Organs wäre jedoch eine Änderung des Europäischen Vertragswerkes notwendig. Hierzu würde es der Einstimmigkeit der Vertragspartner – der europäischen Mitgliedstaaten – bedürfen. Ausschließlich diese besitzen entsprechende Änderungskompetenzen. Das bedeutet: Die Forderung lässt sich schlicht auf europäischer Ebene nicht umsetzen.
 
 
 
[1] Abrufbar unter: https://www.afd.de/europawahlprogramm/.
[2] Europawahl 2019 – Die wesentlichen Kernforderungen von FDP, CDU, SPD, DIE LINKE, Bündis 90/Die Grünen und AfD, Friedrich Naumann Stiftung, S. 5.
[3] Vgl. z.B: Calliess, Auf der Suche nach dem europäischen Weg: Überlegungen im Lichte des Weißbuchs der Europäischen Kommission zur Zukunft Europas, NVwZ 2018, 1ff.; Christian Kreuder-Sonnen, Europas doppeltes Demokratieproblem – Defizite von EU und Mitgliedsstaaten verstärken sich gegenseitig (2018), WZB Mitteilungen, Heft 160, S. 13 ff; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon (2008), S. 4; Follesdal, Andreas und Hix, Simon (2006): “Why there is a democratic deficit in the EU: A response to Majone and Moravcsik.” Journal of Common Market Studies, 4:3, S. 533ff.; Lord, Christopher und Magnette, Paul (2004): E Pluribus Unum? Creative Disagreement about Legitimacy in the EU”. Journal of Common Market Studies, 42:1, S. 183 ff.
[4] Wissenschaftlicher Dienst des DeutschenBundestages, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon (2008), S. f.
[5] Wissenschaftlicher Dienst des Deutscher Bundestag, Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und der Vertrag von Lissabon (2008), S. 7f.
[6] Vgl. Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 14. EUV, Rn. 23 f.
[7] Diese Interpretation bestätigte Jörg Meuthen ausdrücklich in: „Ich würde nie…“ mit Jörg Meuthen (AfD), Deutschlandfunk Nova, 06.05.2019 -abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=BtIun9CGS84.
[8] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 1 AEUV, Rn. 5.
[9] Vgl. Haratsch/König/Pechstein, Europarecht (2016), S. 32 ff.
[10] Vgl. Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 1 ff; Haratsch/König/Pechstein, Europarecht (2016), S. 88 ff.
[11] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 1; NJW 2013, 9f.
[12] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 4.
[13] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 5.
[14] Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 48 EUV, Rn. 6.
[15] BVerfGE 104, 151 (208); BeckOK Grundgesetz, Eppig/Hillgruber 40. Edition, Art. 20 GG, Rn. 131 ff.
[16] Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, ZRP 2017, 197, 200.
[17] BeckOK Grundgesetz, Eppig/Hillgruber 40. Edition, Art. 79 GG, Rn. 33 ff.

23.05.2019/2 Kommentare/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2019-05-23 09:30:372019-05-23 09:30:37Ist die „Abschaffung“ des Europäischen Parlaments unionsrechtlich möglich?
Dr. Yannik Beden, M.A.

BVerfG: Zur Verletzung des Rechts einer Partei auf Chancengleichheit / Neutralitätspflicht staatlicher Organe

BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker, Öffentliches Recht, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Verfassungsrecht

Das BVerfG hat mit seinem Urteil vom 27.02.2018 – 2 BvE 1/16 eine äußerst examensrelevante – und auch gesellschaftspolitisch aufgeladene – Entscheidung zum Verhältnis staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zum Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG erlassen. Gegenstand des Urteils ist eine kritische Äußerung der Bildungsministerin Johanna Wanka zu einer von der AfD in Berlin angemeldeten Versammlung. Der Fall weist Ähnlichkeiten zum Verfahren gegen die Thüringer Landesministerin Heike Taubert auf, die 2014 auf der Webseite ihres Ministeriums zum Protest gegen einen NPD Parteitag aufrief und vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof unterlag. Die nunmehr gegen die Bundesministerin ergangene Entscheidung behandelt grundlegende staatsrechtliche Fragestellungen und sollte deshalb jedem Studenten und Examenskandidaten bekannt sein:
I. Sachverhalt (der Pressemitteilung entnommen)
Die Antragstellerin, die Partei „Alternative für Deutschland“, war Veranstalterin einer in Berlin für den 7. November 2015 angemeldeten Versammlung unter dem Motto „Rote Karte für Merkel! – Asyl braucht Grenzen!“ Zu dieser Veranstaltung veröffentlichte die Antragsgegnerin, die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung, am 4. November 2015 auf der Homepage des von ihr geführten Ministeriums eine Pressemitteilung, in der sie sich zu der geplanten Demonstration wie folgt äußerte: „Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung.“
II. Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung
Den Ausgangspunkt für die gesellschaftspolitische Betätigung der Bundesministerin bildet das Recht der Bundesregierung, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Das BVerfG stellt zunächst fest, dass der Bundesregierung – als oberstes Organ der vollziehenden Gewalt – mit den anderen dazu berufenen Verfassungsorganen die Aufgabe der Staatsleitung obliegt und diese als integralen Bestandteil die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit einschließt. Es bedarf insofern keiner gesonderten Ermächtigung. Das Gericht betont zum einen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit, gleichzeitig jedoch auch die Notwendigkeit derartiger Arbeiten: Die Darlegung und Erläuterung der Regierungspolitik hinsichtlich getroffener Maßnahmen und künftigen Vorhaben ist unabdingbar, um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen zu erhalten und den Bürger zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu befähigen. Die Öffentlichkeitsarbeit erlaubt insbesondere die sachgerechte, objektiv gehaltene Informierung über gesellschaftliche Vorgänge, ohne dabei auf die eigene gestaltende Politik der Bundesregierung beschränkt zu sein. Für die in Frage stehende Streitigkeit besonders wichtig ist, dass die Bundesregierung auch Empfehlungen und Warnungen aussprechen darf.
III. Das Gebot staatlicher Neutralität
Das Recht zur Befugnis, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit wahrzunehmen, steht in direkten Zusammenhang zum Neutralitätsgebot staatlicher Organe. Diese können aufgrund ihrer Reichweite und den ihnen zugesprochenen Ressourcen nachhaltig und in besonderem Maße auf die politische Willensbildung innerhalb der Gesellschaft einwirken. Das BVerfG stellt fest, dass es insofern zwar hinzunehmen sei, dass das Regierungshandeln sich in erheblichem Umfang auf die Wahlchancen der am Wettbewerb teilnehmenden Parteien auswirke – ein zielgerichteter Eingriff der Bundesregierung sei hiervon jedoch zu unterscheiden. Der Senat macht deutlich, dass es der Bundesregierung untersagt sei, sich mit einzelnen Parteien zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten bzw. Lasten einzusetzen.
Daraus folgt, dass die Bundesregierung grundsätzlich berechtigt ist, gegen ihre Politik gerichtete Angriffe öffentlich zurückzuweisen. Allerdings ist sie dazu verpflichtet, sowohl mit Blick auf die Darstellung als auch der Auseinandersetzung mit der ausgeübten Kritik das Sachlichkeitsgebot zu wahren. Dieses verbiete insbesondere eine einseitige parteiergreifende Stellungnahme für oder gegen einzelne politische Parteien. Im Kern bedeutet dies, dass die Bundesregierung bzw. einzelne Bundesminister geäußerte Kritik nicht zum Anlass nehmen darf, für Regierungsparteien zu werben oder Oppositionsparteien zu bekämpfen. Letztlich läuft diese Feststellung darauf hinaus, dass im Einzelfall zwischen (administrativer) Amtsausübung und eigener, von Staatsgewalt losgelöster parteipolitischer Betätigung des Amtsinhabers unterschieden werden muss.
IV. Recht der Parteien auf Chancengleichheit – Art. 21 Abs. 1 GG
Der aus Art. 21 Abs. 1 GG folgende Grundsatz der Chancengleichheit umfasst auch das Recht der Parteien, durch Demonstrationen und Versammlungen an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Das BVerfG stellt klar, dass hiermit jegliche einseitige Einflussnahme von Staatsorganen auf die Ankündigung oder Durchführung politischer Kundgebungen grundsätzlich unvereinbar ist. Unter Bezugnahme zu seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 140, 225) bestätigt der Senat erneut, dass der Grundsatz der Chancengleichheit die Beachtung der staatlichen Neutralitätspflicht auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert. Veranstaltet eine Partei eine politische Kundgebung, nimmt sie ihren durch Art. 21 Abs. 1 GG zugewiesenen Verfassungsauftrag wahr. In der Konsequenz sind staatliche Organe in Anbetracht ihrer Neutralitätspflicht dazu berufen, Bürger nicht zur Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an derartigen Veranstaltungen aufzufordern bzw. zu veranlassen. Genau das stellte bereits der Thüringer Verfassungsgerichtshof im Verfahren gegen die Landesministerin Taubert klar (Thüringer VerfGH Urteil v. 3.12.2014 – 2/14, juris).
V. Resultat: Pressemitteilung der Bundesministerin verstößt gegen das Recht auf Chancengleichheit
Vor diesem Hintergrund stellt das BVerfG fest, dass die auf der Homepage des Ministeriums veröffentlichte Erklärung gegen das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verstößt. Die Bundesministerin habe die Erklärung durch die Veröffentlichung der amtseigenen Webseite mit der „Autorität des Ministeramts unterlegt“ und missachte dadurch das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb. Der Senat stellt im Rahmen der Missachtung des staatlichen Neutralitätsgebots insbesondere auf zwei Umstände ab: Zum einen handelte die Bundesministerin in amtlicher Funktion:
„Einem Handeln in amtlicher Funktion steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin im Text der Pressemitteilung nicht ausdrücklich auf ihr Ministeramt Bezug genommen, sondern sich nur unter ihrem bürgerlichen Namen geäußert hat. Die Homepage eines Bundesministeriums dient der Verlautbarung von Mitteilungen zu Angelegenheiten in seinem Zuständigkeitsbereich. Daher stellt sich die Pressemitteilung vom 4. November 2015 nach ihrem objektiven Erscheinungsbild als Verlautbarung der Antragsgegnerin in ihrer Eigenschaft als Bundesministerin für Bildung und Forschung dar. Der Verzicht auf die Amtsbezeichnung reicht nicht aus, um ein Handeln in nichtamtlicher Funktion zu dokumentieren. Außerdem erkennt die Antragsgegnerin selbst an, dass sie bei der Veröffentlichung der streitgegenständlichen Pressemitteilung in amtlicher Funktion gehandelt hat, wenn sie darauf verweist, dass sie als Mitglied der Bundesregierung in Ausübung ihres Ministeramts einen Angriff auf die Regierungspolitik unter Einsatz ihrer Amtsressourcen zurückgewiesen habe.“
Zum anderen gibt es im Rahmen der staatlichen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit kein „Recht auf Gegenschlag“:
„Ein „Recht auf Gegenschlag“ dergestalt, dass staatliche Organe auf unsachliche oder diffamierende Angriffe in gleicher Weise reagieren dürfen, besteht nicht. Die Auffassung der Antragsgegnerin, reaktive Äußerungen auf verbale Angriffe seien vom Neutralitätsprinzip gedeckt, soweit und solange sie sich nach Form und Inhalt in dem Rahmen hielten, der durch die kritische Äußerung vorgegeben worden sei, geht fehl. Sie hätte zur Folge, dass die Bundesregierung bei einem auf unwahre Behauptungen gestützten Angriff auf ihre Politik ihrerseits berechtigt wäre, unwahre Tatsachen zu verbreiten. Dem steht die Verpflichtung staatlicher Organe entgegen, in Bezug genommene Tatsachen korrekt wiederzugeben (vgl. BVerfGE 57, 1 (8)). Auch der Hinweis, die gesellschaftliche Entwicklung habe dazu geführt, dass nur das „lautstark“ Gesagte Gehör finde, und dass es nicht sein könne, dass eine politische Partei sich das Recht nehme, diskreditierend in der öffentlichen Debatte zu agieren und gleichzeitig von staatlichen Organen eine zurückhaltende Sprache einzufordern (vgl. VerfGH des Saarlandes, Urteil vom 8. Juli 2014 – Lv 5/14 -, juris, Rn. 42, 45), ändert nichts daran, dass der Grundsatz der Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG der abwertenden Beurteilung einzelner politischer Parteien durch staatliche Organe grundsätzlich entgegensteht. Die Bundesregierung ist darauf beschränkt, im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit über das Regierungshandeln aufzuklären, hiergegen erhobene Vorwürfe in der Sache aufzuarbeiten und diffamierende Angriffe zurückzuweisen. Darüber hinausgehender wertender Einflussnahmen auf den politischen Wettbewerb und die an diesem beteiligten Parteien hat sie sich – auch soweit es sich um bloß reaktive Äußerungen handelt – aufgrund der Gebote der Neutralität und Sachlichkeit zu enthalten.“
VI. Ausblick für die 19. Legislaturperiode
Das BVerfG verdeutlicht mit seiner Entscheidung nochmals Grund und Grenzen staatlicher Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. In Anbetracht der aktuellen politischen Gemengelage schlägt das Gericht mit seinem Urteil grundlegende Eckpfeiler für die Konfliktszenarien der nächsten Jahre ein. Die rechtliche Würdigung der Kritik der Bundesministerin ist freilich nicht unumstritten. Gerade aufgrund der Tatsache, dass die Erklärung außerhalb der Wahlkampfzeit erfolgte, besteht Argumentationsspielraum. Denkbar ist insoweit ein gelockertes Verständnis des Sachlichkeitsgebots. In der Klausur muss bei der Prüfung des Art. 21 Abs. 1 GG vor allem die Rechtsnatur der Erklärung herausgearbeitet werden: Handelt das Regierungsmitglied in Wahrnehmung seines Ministeramts oder nimmt es außerhalb seiner amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teil? Punkten wird, wer mit Blick auf das Neutralitätsgebot umfassend argumentiert und den Rahmen der staatlichen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit überzeugend absteckt.

05.03.2018/1 Kommentar/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-03-05 10:00:482018-03-05 10:00:48BVerfG: Zur Verletzung des Rechts einer Partei auf Chancengleichheit / Neutralitätspflicht staatlicher Organe
Tom Stiebert

BVerfG: Nicht alles, was schlecht ist, ist Schmähkritik

Öffentliches Recht, Öffentliches Recht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Schon gelesen?, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT, Verfassungsrecht

Spätestens seit dem juristischen Proseminar Jan Böhmermanns (wir haben ausführlich darüber berichtet) ist nicht nur Juristen das Schlagwort „Schmähkritik“ ein Begriff. Eine solche kann sich bekanntlich nicht auf den grundrechtlichen Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit berufen. Dies hat entscheidende Auswirkungen für die Strafbarkeit einer Äußerung.
Aus diesem Grund hatte sich das BVerfG in einem aktuellen Beschluss vom 8. Februar 2017 (veröffentlicht am 5. April 2017 – 1 BvR 2973/14) mit der Reichweite der Schmähkritik zu befassen.
1. Sachverhalt
Zugrunde lag folgender Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war Versammlungsleiter einer ordnungsgemäß angemeldeten Demonstration aus dem rechten Spektrum in Köln. Die Demonstration stieß auf zahlreiche Gegendemonstranten. Unter diesen war auch ein Bundestagsabgeordneter der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor Ort, um die Durchführung des Aufzuges aktiv zu verhindern. Er bezeichnete die Teilnehmer der Demonstration mehrfach wörtlich und sinngemäß als „braune Truppe“ und „rechtsextreme Idioten“. Der Beschwerdeführer äußerte sich über den Bundestagsabgeordneten wörtlich wie folgt:
„Ich sehe hier einen aufgeregten grünen Bundestagsabgeordneten, der Kommandos gibt, der sich hier als Obergauleiter der SA-Horden, die er hier auffordert. Das sind die Kinder von Adolf Hitler. Das ist dieselbe Ideologie, die haben genauso angefangen.“
Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung in Form einer Schmähkritik zu einer Geldstrafe. Auf die Berufung des Beschwerdeführers verwarnte das Landgericht den Beschwerdeführer und behielt sich die Verurteilung zu einer Geldstrafe vor. Die Revision zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die gerichtlichen Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung seiner Meinungsfreiheit. Er berief sich insbesondere darauf, die Eingruppierung als Schmähkritik sei hier zu Unrecht erfolgt. Es handle sich um eine grundrechtlich geschützte Äußerung.
2. Wann beginnt Schmähkritik
Zunächst muss aber erst geklärt werden, wann grundsätzlich Schmähkritik vorliegt: Das BVerfG legt dazu dar (Beschluss v. 26.6.1990):

Eine herabsetzende Äußerung nimmt vielmehr erst dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person bestehen.

Die Äußerung ist damit auszulegen und zu werten. Es ist zu prüfen, ob sie allein der Schmähung dient oder auch einen sachlichen Kern beinhaltet.
3. Wie ist das im konkreten Fall?
Hier ist man zunächst geneigt eine Strafbarkeit anzunehmen, scheint der Beschwerdeführer doch ob seiner wenig sachlichen Äußerung wenig schutzwürdig. Betrachtet man dies aber einmal juristisch genauer, stellt sich dies, wie auch das BVerfG bestätigt, abweichend dar: Das BVerfG prüft hier zurecht eine Verletzung der Meinungsfreiheit und zurecht nicht unmittelbar die Klassifizierung der Äußerung.

Das Bundesverfassungsgericht ist auf eine Nachprüfung begrenzt, ob die Fachgerichte die Grundrechte ausreichend beachtet haben (vgl. BVerfGE 93, 266 <296 f.>; 101, 361 <388>). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind auch dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird.

Inhaltlich legt es dar:

Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Werturteile und Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen (vgl. BVerfGE 85, 1 <15>). Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt. Es findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen.

Es weist dabei explizit darauf hin, dass der Schutz recht weit reicht und erst bei der Schmähung endet:

Zu beachten ist hierbei indes, dass Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen schützt, sondern gerade Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen darf; insoweit liegt die Grenze zulässiger Meinungsäußerungen nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>). Einen Sonderfall bilden hingegen herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter dem Ehrenschutz zurücktreten wird (vgl. BVerfGE 82, 43 <51>; 90, 241 <248>; 93, 266 <294>).

Da somit der grundrechtliche Schutz entfällt, muss hier restriktiv vorgegangen werden:

Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden (vgl. BVerfGE 93, 266 <294>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 2016 – 1 BvR 2646/15 -, juris). Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Eine Äußerung nimmt diesen Charakter erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik – die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>; 93, 266 <294>).

Diese Maßstäbe hatten die Strafgerichte hier verkannt, indem sie die Äußerung als Schmähkritik ansahen, nicht aber ihren Kontext würdigten:

Die angegriffenen Entscheidungen verkennen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Äußerung auch das Handeln des Geschädigten kommentierte, der sich maßgeblich an der Blockade der vom Beschwerdeführer als Versammlungsleiter angemeldeten Versammlung beteiligte und die Teilnehmenden auch seinerseits – wie die Gerichte als wahr unterstellt haben – als „braune Truppe“ und „rechtsextreme Idioten“ beschimpft hatte. Es ging dem Beschwerdeführer nicht ausschließlich um die persönliche Herabsetzung des Geschädigten. Bereits die unzutreffende Einordnung verkennt Bedeutung und Tragweite der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Meinungsfreiheit.

Darauf hingewiesen wird dabei auch, dass die Äußerung als Reaktion auf eine vergleichbare Provokation erfolgte. Auch dies ist zu beachten (vgl. hierzu unseren Beitrag zu einer ähnlichen Thematik).
4. Was lernen wir daraus?
Lernen kann man aus diesem Fall zweierlei: Zum einen erkennen wir juristisch die Reichweite der Meinungsfreiheit, die immer wieder Bestandteil von Entscheidungen des BVerfG und damit fast notwendig auch von Examensklausuren ist.
Zum anderen macht der Beschluss aber auch deutlich, dass auch unangenehme Äußerungen im Sinne des toleranten Rechtsstaats hinzunehmen sind, sofern eine hohe Schwelle nicht überschritten ist. Man denke sich den Fall anders herum – hier hätte vielleicht intuitiv das Ergebnis anders ausgesehen. Bei Justitia, die nicht zu Unrecht blind ist, kann dies aber keine Rolle spielen. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, sodass Meinungen von allen Seiten – schön oder unschön, appetitlich oder unappetitlich – hinzunehmen sind.

07.04.2017/0 Kommentare/von Tom Stiebert
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tom Stiebert https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tom Stiebert2017-04-07 09:35:252017-04-07 09:35:25BVerfG: Nicht alles, was schlecht ist, ist Schmähkritik

Über Juraexamen.info

Deine Zeitschrift für Jurastudium, Staatsexamen und Referendariat. Als gemeinnütziges Projekt aus Bonn sind wir auf eure Untersützung angewiesen, sei es als Mitglied oder durch eure Gastbeiträge. Über Zusendungen und eure Nachrichten freuen wir uns daher sehr!

Werbung

Anzeige

Neueste Beiträge

  • Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
  • Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“
  • Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“

Weitere Artikel

Auch diese Artikel könnten für dich interessant sein.

Gastautor

Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf. Ist das Betäubungsmittelstrafrecht – zumindest als Lehrmaterie – im […]

Weiterlesen
01.02.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-01 10:00:002023-01-25 11:49:57Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
Gastautor

Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. Ein nach §§ 823 […]

Weiterlesen
16.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-16 15:42:082023-01-25 11:42:19Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“
Gastautor

Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“

Alle Interviews, Für die ersten Semester, Interviewreihe, Lerntipps, Rezensionen, Startseite, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Maximilian Drews veröffentlichen zu können. Der Autor studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und berichtet über sein absolviertes Pflichtpraktikum in einer Bonner Großkanzlei. […]

Weiterlesen
03.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-03 07:26:222023-01-04 10:57:01Praktikum in einer Großkanzlei – Einblicke in das FGS „Intern-Programm“

Support

Unterstütze uns und spende mit PayPal

Jetzt spenden
  • Über JE
  • Das Team
  • Spendenprojekt
  • Gastautor werden
  • Mitglied werden
  • Alumni
  • Häufige Fragen
  • Impressum
  • Kontakt
  • Datenschutz

© 2022 juraexamen.info

Nach oben scrollen