Wir freuen uns heute einen Beitrag von Dr. Sascha Böttner zur actio libera in causa veröffentlichen zu können. Er ist promovierter Fachanwalt für Strafrecht und sowohl als Strafverteidiger und Nebenklagevertreter in einer Hamburger Strafrechtskanzlei tätig . Herr Dr. Böttner hat sich auf die Bereiche Strafrecht/ Wirtschaftsstrafrecht spezialisiert und sich zusätzlich mit Gesellschaftsrecht und den dort auftretenden strafrechtlichen Fragen der Wirtschaft sowie mit Schadensersatzansprüchen aus unerlaubter Handlung auseinandergesetzt. Heute vertritt er sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen in Strafprozessen vor dem Amtsgericht bis hin zum Bundesverfassungsgericht.
a.l.i.c. – actio libera in causa
Unter dem Schlagwort „a.l.i.c.“ wird ein einheitliches Grundproblem in unterschiedlichen Fallkonstellationen des Strafrechts diskutiert. Stets geht es um mehraktige Geschehensabläufe, bei denen der Täter im zurechenbaren und verantwortlichen Zustand auf vorwerfbare Art und Weise die Voraussetzungen dafür schafft, dass zum späteren Zeitpunkt des phänomenologisch eigentlichen deliktischen Tatgeschehens ihn begünstigende Regelungen des Strafrechts Anwendung finden.
Durch den ersten zeitlich vorausgehenden Akt führt der Täter so meist seine (verminderte) Schuld(un)fähigkeit (§§ 20, 21 StGB) – häufig mittels Vollrausch – herbei. Durch eine zweite zeitlich nachfolgende Handlung begeht der Täter dann im schuldunfähigen Zustand eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat. Die beiden Bestandteile werden als actio praecedens oder Defektherbeiführungshandlung und actio subsequens oder Defekthandlung bezeichnet.
I. Fallkonstellationen der a.l.i.c.
Hinsichtlich solcher Fallkonstellationen besteht ein breiter Konsens darüber, dass die an sich konsequente Lösung entsprechender Fälle – also die Straflosigkeit des Täters im Hinblick auf die im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene Tat – das allgemeine Rechtsgefühl nicht zu befriedigen vermag. Zwar steht im Allgemeinen der Rückgriff auf § 323a StGB („Vollrauschparagraph“) offen.
Allerdings bleibt das Höchststrafmaß für im Vollrausch begangene rechtswidrige Taten von fünf Jahren Freiheitsstrafe oft deutlich hinter dem regulären Strafmaß für die begangene Tat zurück.
Zwar ist man versucht, die beiden Geschehensabschnitte schlicht in strafbarkeitsbegründender Weise zu verknüpfen. Entgegen steht aber das Koinzidenz- oder Simultaneitätsprinzip. Dieses verlangt, dass Unrecht (Tat) und Schuld zeitlich zusammenfallen1. Gerade dies ist bei Fallkonstellationen der a.l.i.c. nicht gegeben. Insbesondere dann, wenn sich der Täter bewusst und gezielt in einen Defektzustand versetzt, um dann etwa ein Kapitalverbrechen zu begehen, wird versucht eine anderweitige konstruktive Lösung zu finden.2
Im Folgenden sollen kurz die verschiedenen Erscheinungsformen der actio libera in causa dargestellt werden. Anschließend soll eine eingehende Auseinandersetzung mit den dogmatisch-konstruktiven Lösungsansätzen für die geschilderte Problematik erfolgen.
1. Vorsätzliche a.l.i.c.
Von vorsätzlicher actio libera in causa spricht man dann, wenn sich der Vorsatz sowohl auf die Versetzung in einen Defektzustand genauso wie auf die Ausführung der späteren Rauschtat bezieht. Dieser sogenannte Doppelvorsatz muss sich dabei nicht nur auf die Tatbestandsmerkmale der Straftat beziehen, sondern auch auf die kausale Beziehung zwischen Defektherbeiführung und späterer Tathandlung oder Erfolgseintritt bei Erfolgsdelikten.3
2. Fahrlässige a.l.i.c.
Demgegenüber bestehen verschiedene Kombinationsformen fahrlässiger a.l.i.c. Je nach subjektiver Beziehung des Täters zur actio praecedens und actio subsequens ist die fahrlässige a.l.i.c. in dreifacher Weise denkbar.4
Führt der schuldfähige Täter den unfreien Zustand vorsätzlich herbei und bedenkt dabei entweder sorgfaltswidrig nicht, dass er in diesem Zustand eine bestimmte Tat begehen werde (unbewusste Fahrlässigkeit), oder setzt sich im Vertrauen darauf, dass es schon gut gehen werde, über die erkannte Möglichkeit einer Straftatbegehung hinweg (bewusste Fahrlässigkeit), so handelt es sich um eine a.l.i.c. in einer Vorsatz-/Fahrlässigkeitskombination.
Eine Fahrlässigkeits-/Fahrlässigkeitskombination liegt dann vor, wenn der Täter fahrlässig in einen Defektzustand gerät und dabei bewusst oder unbewusst fahrlässig nicht bedenkt, dass er infolgedessen eine Straftat begeht.
Zuletzt ist denkbar, dass der Täter sich sorgfaltswidrig in den unfreien Zustand versetzt und darin vorsätzlich eine geplante Tat ausführt. Dann handelt es sich um eine Fahrlässigkeits-/Vorsatzkombination.5
Allen Varianten fahrlässiger a.l.i.c. ist eine Voraussetzung gemeinsam. Vielfach verkannt wird nämlich, dass die fahrlässig begangene rechtswidrige Tat vom Gesetz überhaupt mir Strafe bedroht sein muss (vgl. nur § 15 StGB). Diebstahl, begangen in fahrlässiger a.l.i.c., kann es also beispielsweise niemals geben. In der Praxis stellen Trunkenheitsfahrten in aller Regel den Hauptanwendungsbereich fahrlässiger a.l.i.c. dar.
3. Strafrechtliche Haftung nach § 323a StGB (Vollrausch)
Liegt darüber hinaus beim fahrlässigen oder vorsätzlichen Versetzen in einen Defektzustand im Hinblick auf die spätere Rauschtat weder ein Vorsatz- noch ein Fahrlässigkeitsbezug vor – dem Täter war also im Zeitpunkt der Schuldunfähigkeit die spätere Rauschtat nicht einmal vorhersehbar – so kommt untergeordnet eine Strafbarkeit nach § 323a StGB in Betracht. Dabei wird die von § 323a StGB geforderte rechtswidrige Tat wegen der der Täter „nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war“ ist nach herrschender Ansicht als unrechts- und schuldgelöste objektive Bedingung der Strafbarkeit verstanden.6 Prinzipiell straflos bleibt, wer unvorwerfbar in einen Defektzustand gerät und dann weder fahrlässig noch vorsätzlich eine Straftat begeht.
II. Lösungsmodelle zur a.l.i.c.
Obwohl also Einigkeit dahingehend besteht, dass die Durchführung der Defekttat strafwürdig ist und die Rechtsfolge des § 20 StGB aus diesem Grund nicht zum Tragen kommen darf, wird intensiv diskutiert, welche Konstruktion es de lege lata ermöglicht, die Strafbarkeit des Täters unter Rückgriff auf die haftungserweiternde Rechtsfigur der a.l.i.c. zu begründen. Insbesondere werden hinsichtlich der vorsätzlichen a.l.i.c. aufgrund der besonders einschneidenden Wirkungen, die die konsequente Anwendung des § 20 StGB hätte, zwei Basismodelle diskutiert.7
1. Tatbestandsmodell
a) Darstellung
Die Vertreter des sogenannten Tatbestandsmodells verlegen die tatbestandsmäßige Handlung, also einen Teil des Handlungsunrechts des Unrechtstatbestandes auf den Zeitpunkt der actio praecedens vor. Somit würde der Täter schon bei der Defektherbeiführungshandlung mit der Tatbestandsverwirklichung der tatsächlichen Straftat beginnen. Jedenfalls bei Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung sei somit die Schuldfähigkeit des Täters gegeben. Einen Bruch mit dem dargelegten Koinzidenzprinzip würde man damit gerade nicht erfahren.8
Begründet wird dieses Vorgehen einerseits durch ein weites Verständnis vom Begriff der tatbestandsmäßigen Handlung. Der Täter wird also als unmittelbarer Täter eingestuft, weil er scheinbar mit der Herbeiführung des Defektzustandes schon das Versuchsstadium zur Defekttat erreicht.9
Andererseits wird teilweise auch auf eine Konstruktion der mittelbaren Täterschaft zurückgegriffen. Danach bediene sich der Täter zur Ausführung der Tat seiner eigenen Person als schuldunfähiges Werkzeug.10
Letztlich wird also versucht, ein auf Schuldebene angesiedeltes Problem gleichsam auf der Unrechtsebene zu umgehen.
Das Tatbestandsmodell sieht sich dementsprechend großer Kritik ausgesetzt, wobei im Kern geltend gemacht wird, dass der geschilderte Umgehungsversuch zu Brüchen und Verwerfungen an anderen Stellen des dogmatischen Systems führt.
b) Kritik
Besondere Schwächen zeigt das Tatbestandsmodell zunächst bei eigenhändigen oder Tätigkeitsdelikten. Es drängt sich förmlich auf, dass die Qualifizierung des „Sich-Betrinkens“ als Teil einer tatbestandsmäßigen Handlung mit dem Wortlautprinzip nicht zu vereinen ist. Die alleinige Herbeiführung des Defektzustandes kann beispielsweise nicht als „Fahren in fahruntüchtigem Zustand“ (§ 316 StGB) oder „falsches Schwören“ (§ 154 StGB) aufgefasst werden.11
Stützt man das Tatbestandsmodell darauf, die Defektherbeiführungshandlung als Handlung im Versuchsstadium zu qualifizieren, so stößt man auf unüberbrückbare Widersprüche zur Versuchsdogmatik. Denn wie umstritten die Bestimmung des Versuchsbeginns auch sein mag, so würde außerhalb der a.l.i.c.-Konstruktion niemand behaupten, dass ein Sich-Betrinken das „unmittelbare Ansetzen“ (§ 22 StGB) zu einer späteren Tatbestandsverwirklichung darstellt.
Bei einer Gleichsetzung des a.l.i.c.-Täters mit einem mittelbaren Täter sticht hingegen der Umstand ins Auge, dass damit deutlich gegen § 25 I Var. 2 StGB gewertet wird. Denn der handelnde Täter kann sprachlich sowie logisch und auch phänomenologisch nicht zugleich er selbst und eine andere Person sein. Die Gleichsetzung des a.l.i.c.-Täters mit einem mittelbaren Täter käme also einer verbotenen Analogie zu Lasten des Täters gleich.12
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der kriminalpolitisch sinnvolle Versuch der herrschenden Meinung, dem Koinzidenzprinzip durch eine Vorverlegung der tatbestandsmäßigen Handlung Genüge zu tun, auf dem Boden des positiven Rechts erhebliche Defizite hinsichtlich der Tatbestands- und Versuchslehre aufweist.
2. Ausnahmemodell
a) Darstellung
Aufgrund der dargestellten Spannungen zwischen der Tatbestands- und Vorverlegungsdoktrin und den Prinzipien der herkömmlichen Unrechtsdogmatik wird zunehmend vertreten, dass der a.l.i.c.-Problematik nicht auf der Tatbestands- und Unrechtsebene, sondern ausschließlich auf Ebene der Schuld zu begegnen sei.13
So wird unter Anwendung des Ausnahmemodells davon ausgegangen, dass in den exzeptionellen a.l.i.c.-Konstellationen ausnahmsweise Schuld und Tat nicht gleichzeitig vorliegen müssen. Somit würde das aus dem Schuldprinzip (§ 20 StGB) abgeleitete Koinzidenzprinzip eine echte Ausnahme erfahren.
Die tatbestandsmäßige Handlung wird somit nicht ausgedehnt (Tatbestandsmodell), sondern auf die Defekttat beschränkt. Es erfolgt also kein Eingriff in die Reichweite des Unrechtstatbestandes. Die Schuldfähigkeit bei Herbeiführung des Defektzustandes wird einfach in die Ausführung der Defekttat inferiert.
Anfänglich wurde zur Begründung des Ausnahmemodells auf eine teleologische Reduktion des § 20 StGB zurückgegriffen.14 Dabei sollte die a.l.i.c. eine außerordentliche Zurechnungsregel sein, die die Zurechnung der Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der Tatbestandsverwirklichung erlaubt. Die Herbeiführung des Defektzustandes stellt nach dem Ausnahmemodell die Verletzung einer Obliegenheit durch den Täter dar, die es rechtfertigt den Täter für seine tatbestandsmäßige Handlung im Defektzustand ausnahmsweise verantwortlich zu machen, obwohl er sie als Schuldfähiger begangen hat.15
b) Kritik
Noch stärker als das Tatbestandsmodell steht das Ausnahmemodell unter erheblicher Kritik aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken.16
Aus systematischer Sicht lässt sich geltend machen, das Ausnahmemodell sei schon deshalb nicht mit Art. 103 II GG vereinbar, weil bei bestimmten schuldrelevanten Rechtssätzen (§§ 17 S.2, 35 II StGB) für den Fall des qualifizierten Vorverhaltens Ausnahmeregelungen bestehen, § 20 StGB eine solche aber gerade nicht vorsieht. Speziell bei der a.l.i.c. muss von Gesetzes wegen also die Schuldvoraussetzung nach wie vor „bei Begehung der Tat“ vorliegen. Das Ausnahmemodell verstößt mithin gegen das grundlegende Prinzip nulla poena sine lege scripta („keine Strafe ohne geschriebenes Gesetz“).17
Weitere Bedenken ergeben sich aus einem möglichen Verstoß gegen das verfassungsrechtlich verankerte Schuldprinzip.18 Denn die Vertreter des Ausnahmemodells heben das Erfordernis zeitlicher Koinzidenz von Unrecht und Schuld auf und ersetzen es gleichsam durch das Postulat eines bloß funktionalen Zusammenhangs. Versteht man den Schuldbegriff richtigerweise normativ als zeitlich fixierte Eigenschaft des Täters, so muss schon logisch ein Rückgriff auf das vorwerfbare Vorverhalten in a.l.i.c.-Fallkonstellationen ausscheiden.
III. Résumé
Im Ergebnis gilt also nichts anderes als für das Tatbestandsmodell. Erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel machen eine Anwendung zweifelhaft.
Letztlich bleibt – lehnt man die Anwendung der dogmatisch-konstruktiven Lösungsmodelle ab – der Rückgriff auf eine Strafbarkeit nach § 323a StGB.19 Gleichzeitig wird der Gesetzgeber angesichts der Strafwürdigkeit des Täterverhaltens und den aufgezeigten Schwierigkeiten im Umgang mit a.l.i.c.-Fallkonstellationen kontinuierlich dazu aufgefordert, eine Regelung zu schaffen, die eine effiziente Bestrafung der Defekttat ermöglicht.20