• Lerntipps
    • Examensvorbereitung
    • Fallbearbeitung und Methodik
    • Für die ersten Semester
    • Mündliche Prüfung
  • Examensreport
    • 2. Staatsexamen
    • Baden-Württemberg
    • Bayern
    • Berlin
    • Brandenburg
    • Bremen
    • Hamburg
    • Hessen
    • Lösungsskizzen
    • Mecklenburg-Vorpommern
    • Niedersachsen
    • Nordrhein-Westfalen
    • Rheinland-Pfalz
    • Saarland
    • Sachsen
    • Sachsen-Anhalt
    • Schleswig-Holstein
    • Thüringen
    • Zusammenfassung Examensreport
  • Interviewreihe
    • Alle Interviews
  • Rechtsgebiete
    • Strafrecht
      • Klassiker des BGHSt und RGSt
      • StPO
      • Strafrecht AT
      • Strafrecht BT
    • Zivilrecht
      • AGB-Recht
      • Arbeitsrecht
      • Arztrecht
      • Bereicherungsrecht
      • BGB AT
      • BGH-Klassiker
      • Deliktsrecht
      • Erbrecht
      • Familienrecht
      • Gesellschaftsrecht
      • Handelsrecht
      • Insolvenzrecht
      • IPR
      • Kaufrecht
      • Kreditsicherung
      • Mietrecht
      • Reiserecht
      • Sachenrecht
      • Schuldrecht
      • Verbraucherschutzrecht
      • Werkvertragsrecht
      • ZPO
    • Öffentliches Recht
      • BVerfG Leitentscheidungen & Klassiker
      • Baurecht
      • Europarecht
      • Europarecht Klassiker
      • Kommunalrecht
      • Polizei- und Ordnungsrecht
      • Staatshaftung
      • Verfassungsrecht
      • Versammlungsrecht
      • Verwaltungsrecht
      • Völkerrrecht
  • Rechtsprechungsübersicht
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Karteikarten
    • Strafrecht
    • Zivilrecht
    • Öffentliches Recht
  • Suche
  • Menü Menü
Du bist hier: Startseite1 > Abgasskandal

Schlagwortarchiv für: Abgasskandal

Gastautor

BGH: Schadensersatz bei Kauf eines gebrauchten VW-Diesels nach Bekanntwerden der Abgasmanipulation

Deliktsrecht, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Ansgar Kalle veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Lehrstuhl Prof. Dr. Stefan Greiner.
 
Die hier zu besprechende Entscheidung des BGH (Urt. v. 30. Juli 2020 – Az. VI ZR 5/20 = NJW 2020, 2798) stellt die bislang jüngste Entscheidung des BGH zum Abgasskandal dar. Rechtsfragen des Abgasskandals werden seit Jahren intensiv erörtert und berühren mit dem Kauf- und dem Deliktsrecht Kernthemen des Zivilrechts. Dies macht das gesamte Thema äußerst examensrelevant.
Die hier zu erörternde Entscheidung rückt mit § 823 Abs. 2 BGB und § 826 BGB zwei examensrelevante Normen in den Vordergrund, die wegen ihrer Wertungsoffenheit viel Streit- und Argumentationspotential bergen. Sie enthält viel Lehrreiches zur Prüfung dieser Paragraphen.
 
1. Sachverhalt (verkürzt und vereinfacht)
Der Kläger erwarb im August 2016 einen gebrauchten VW Touran von der S-GmbH, die ein Autohaus betrieb. Der Dieselmotor des Fahrzeugs, Typ EA189, war von der beklagten VW-AG mit einer illegalen technischen Vorrichtung ausgestattet worden, die den Motor speziell für Messungen auf dem Prüfstand in einen besonders schadstoffarmen Modus schaltete. Nur in diesem Modus, also nicht im alltäglichen Fahrbetrieb, hielt das Fahrzeug die Grenzwerte der Euro 5-Norm ein.
Bereits im September 2015 hatte die Beklagte Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie eingestand, dass der Motor des Typs EA189 mit der beschriebenen Vorrichtung ausgestattet war und dass man sich bemüht, den Vorfall in Kooperation mit den Behörden rasch aufzuklären. Im Oktober 2015 hatte das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Beklagte dazu aufgefordert, bei den Fahrzeugen, die mit dem betroffenen Motor ausgestattet waren, in Zukunft einen rechtmäßigen Betrieb zu gewährleisten. Zu diesem Zweck entwickelte die VW-AG ein Software-Update, das die Vorrichtung deaktivierte. Dieses spielte sie u.a. beim Touran des Klägers auf.
Der Kläger begehrt nun von der VW-AG Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises zzgl. Zinszahlung Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs.
 
2. Anspruch auf Schadensersatz iHd. Kaufpreises aus § 823 Abs. 2 BGB wegen Schutzgesetzverletzung
Der erste Schwerpunkt des Falls liegt auf einem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB. Diese Vorschrift knüpft an den Verstoß gegen ein Schutzgesetz an. Der BGH zog drei Schutzgesetze in Betracht.
 
a. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV
Zunächst stellte das Gericht auf zwei Normen aus der Kraftfahrzeuggenehmigungsverordnung ab: §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV.
 
aa. Vorwort
In einer Klausur wird keinesfalls erwartet, dass diese exotischen Vorschriften bekannt sind. Sie wären abgedruckt, damit sie in der Klausur (erstmals) gelesen und ausgelegt werden (Beispiel bei Pohlmann/Scholz JA 2020, 574).
Zusammengefasst ordnen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV an, dass ein Fahrzeug nur dann veräußert werden darf, wenn bescheinigt ist, dass es mit allen einschlägigen Vorschriften übereinstimmt. Zu den einschlägigen Vorschriften zählt insbesondere Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007, wonach Kraftfahrzeuge nicht mit Abschalteinrichtungen ausgestattet werden dürfen, die Emissionskontrollsysteme täuschen.
Die Prüfung des § 823 Abs. 2 BGB wirft regelmäßig drei Fragen auf, die in einer Klausur in aller Regel nacheinander gutachterlich beantwortet werden sollten.

  1. Liegt eine Schutznorm vor?
  2. Wurde die Schutznorm verletzt?
  3. Hat der Anspruchssteller einen Schaden erlitten, der kausal auf die Schutzgesetzverletzung zurückzuführen ist?

 
bb. Kausaler Schaden
Der BGH ging nicht auf die Fragen Nr. 1 und 2 ein, sondern wandte sich in seiner Entscheidung direkt der Frage Nr. 3 zu.
 
(1) Schaden
Um diese zu beantworten, ist zunächst zu prüfen, ob ein Schaden vorliegt. Der Kläger macht als Schaden den Abschluss des Kaufvertrags geltend. Er rügt also die Verletzung seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in ihrer speziellen Ausprägung als wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht.
Als Schaden kommt jede unfreiwillige Einbuße an schadensersatzrechtlich geschützten Rechten, Gütern und Interessen in Frage. Ob eine Einbuße vorliegt, ist im Ausgangspunkt nach der Differenzhypothese zu ermitteln. Es ist also die gegenwärtige Vermögenslage mit der zu vergleichen, die ohne das schädigende Ereignis bestünde. Der Kläger müsste also darlegen, dass er den Kaufvertrag über den Touran nicht abgeschlossen hätte, wenn es nicht zur Schutzgesetzverletzung gekommen wäre.
Ob dies gelang, ließ der BGH offen, weil es aus seiner Sicht hierauf nicht ankam.
 
(2) Kausalität, insb. Schutzzweck der Norm
Stattdessen befasste sich das Gericht ausführlich mit dem Schutzzweck der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV. Beim Schutzzweck der Norm liegt häufig der Schwerpunkt von Klausuren zu § 823 Abs. 2 BGB. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB kommt nur dann in Frage, wenn das verletzte Schutzgesetz genau vor der Art von Schaden schützen will, die der Anspruchssteller geltend macht. Um dies zu klären, ist der Zweck der Schutznorm durch Auslegung präzise herauszuarbeiten.
Der BGH ging davon aus, dass §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV keinen Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts bezweckten. Hierfür fehlte es an Anhaltspunkten im Gesetz. Dementsprechend hielt das Gericht den geltend gemachten Schaden für nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst. Dieses Ergebnis hielt das Gericht für so eindeutig, dass es nach der Acte-claire-Doktrin auf eine Vorlage an den EuGH verzichtete. Zur Begründung verwies das Gericht auf seine vorangegangene Diesel-Entscheidung aus Mai 2020. Bereits dort hatte es den Anspruch am Schutzzweck §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV scheitern lassen (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – Az. VI ZR 252/19 Rn. 76; s. auch unsere Urteilsbesprechung hier ). Leider hatte der BGH auch dort seine Sichtweise nicht näher erläutert.
Dies enttäuscht ein wenig, da in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum Gegenteiliges ausführlich begründet vertreten wird: Zum einen solle die von §§ 6, 27 Abs. 1 EG-FGV geforderte Übereinstimmungsbescheinigung dem Käufer versichern, dass das Fahrzeug betrieben werden darf. Sie habe den Charakter einer Garantieerklärung. Daher schütze das Verbot des Handelns mit Fahrzeugen, denen diese Bescheinigung fehlt, Käufer davor, ein Fahrzeug zu erwerben, das nicht betrieben werden darf (LG Ingolstadt, Urt. v. 15. Mai 2018 – Az. 42 O 1199/17 = BeckRS 2018, 33798 Rn. 25-37; Artz/Harke NJW 2017, 3409, 3412 f.). Zum anderen sei wegen des Effektivitätsgebots (effet utile) und der großen Bedeutung der Übereinstimmungsbescheinigung für das europarechtlich geprägte Typgenehmigungsverfahren ein Individualschutz durch § 27 Abs. 1 EG-FGV gar nicht erforderlich. Nach den Grundsätzen der EuGH-Entscheidung in der Rs. Muñoz (EuGH, Urt. v. 17. September 2002 – Rs. C-253/00 = Slg. I 2002, 7289) müsse es für den Anspruch genügen, dass das Unionsrecht eine privatrechtliche Sanktion gebietet (Harke VuR 2017, 83, 84 f.).
Für die Sichtweise des BGH lässt sich jedoch anführen, dass es in der Tat schwer ist, dem § 27 Abs. 1 EG-FGV konkrete Anhaltspunkte für einen Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Käufers zu entnehmen. Das EG-FGV regelt das öffentlich-rechtliche Typengenehmigungsverfahren, in das der Käufer nicht eingebunden ist. Auch hätte die beschriebene Deutung der Rs. Muñoz einen beachtlichen Eingriff in die Dogmatik des § 823 Abs. 2 BGB zur Folge, dessen Notwendigkeit fraglich ist (ablehnend auch Armbrüster ZIP 2019, 837, 839 f.; Lorenz NJW 2020, 1924; Riehm DAR 2019, 247, 248 f.; skeptisch ebenfalls Gutzeit JuS 2019, 649, 656).
Folgt man an dieser Stelle dem BGH, scheiden §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV als Schutzgesetze aus.
 
b. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007
Im Anschluss wandte sich der BGH der Frage zu, ob Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 als Schutzgesetz dem Kläger zu einem Anspruch verhelfen konnte.
Auch dies verneinte er, was angesichts der Bewertung der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV konsequent ist. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass sie das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht des Käufers schützen will. Ausweislich ihrer Erwägungsgründe diene die Richtlinie dem Umwelt- und Gesundheitsschutz. Das Effektivitätsgebot ändere hieran nichts. Laut der Rs. Muñoz könne dieses zwar gebieten, dass die Verletzung von Unionsrecht in einem Zivilprozess geltend gemacht werden kann, allerdings müsse der Betroffene hierfür durch die Norm geschützt werden. Die Rs Muñoz zwinge also nicht dazu, auf den Individualschutz des Schutzgesetzes zu verzichten. Da die VO keinen Individualschutz bezwecke, könne deren Verletzung daher keinen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen.
Schließt man sich dem an, eröffnet auch Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 dem Kläger keinen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB.
 
c. Zu § 263 Abs. 1 StGB, § 31 BGB
aa. Schwerpunkt: Verletzung des Schutzgesetzes
Im Anschluss stellte der BGH auf § 263 StGB als Schutzgesetz ab. Für § 263 Abs. 1 StGB ist anerkannt, dass es sich um ein Schutzgesetz handelt. Auch war der geltend gemachte Schaden zweifellos vom Schutzzweck der Norm umfasst. Daher kam es hier entscheidend darauf an, ob der Betrugstatbestand erfüllt war.
An dieser Stelle wäre in einer Klausur eine vollständige, gutachterliche Inzidentprüfung des § 263 Abs. 1 StGB geboten.
 
bb. Objektiver Tatbestand
Zu Täuschung und Irrtum gibt der Sachverhalt keine Informationen. Es sei an dieser Stelle unterstellt, dass beide Merkmale vorliegen. In einer Klausur sollte man bei diesen Merkmalen insbesondere an die Problembereiche Täuschung durch Unterlassen, Aufklärungspflichten und sachgedankliches Mitbewusstsein denken (eingehend Berg Jura 2020, 239, 240 f.; Isfen JA 2016, 1, 2 f.).
Die notwendige Vermögensverfügung nahm der Kläger dadurch vor, dass er mit der S-GmbH einen Kaufvertrag abschloss und sich dadurch zur Kaufpreiszahlung verpflichtete (Eingehungsbetrug).
Fraglich ist der Vermögensschaden. Ein solcher liegt vor, wenn die Verfügung nicht durch eine Gegenleistung kompensiert wird. Dies ist im Ausgangspunkt durch eine Saldierung der wechselseitigen Leistungen zu beurteilen. Als Kompensation kommt der Anspruch des Käufers auf Verschaffung des Fahrzeugs (§ 433 I 1 BGB) in Frage. Dieser Anspruch glich die Vermögensverfügung aus, wenn die Kaufsache ihr Geld wert war. Ein Vermögensschaden kann also nicht bereits darin erblickt werden, dass der Käufer einen Vertrag abgeschlossen hat, den er ohne Täuschung nicht abgeschlossen hätte. Das Merkmal „Vermögensschaden“ ist wegen des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots enger auszulegen als der zivilrechtliche Schadensbegriff. An dieser Stelle wäre etwa zu klären, ob das Update zu einer Wertminderung führte oder ob ein Fall des subjektiven Schadenseinschlags vorlag. Der BGH ließ offen, ob ein Schaden vorlag, da er jedenfalls den subjektiven Tatbestand nicht für erfüllt hielt.
 
cc. Subjektiver Tatbestand
Im subjektiven Tatbestand ist das Merkmal der Bereicherungsabsicht problematisch. Diese liegt vor, wenn der Täter für sich selbst oder einen Dritten nach einem Vermögensvorteil strebt, auf den er keinen Anspruch hat und der mit dem Vermögensschaden stoffgleich ist. Da die Beklagte keinen Bezug zum Kaufvertrag zwischen dem Kläger und der S-GmbH hatte, kommt nur eine Drittbereicherungsabsicht zugunsten der S-GmbH in Frage.
Zweifelhaft ist, ob die Beklagte nach einem stoffgleichen Vorteil der S-GmbH strebte. Stoffgleichheit liegt vor, wenn der Vermögensschaden des Opfers die unmittelbare Kehrseite des angestrebten Vermögensvorteils ist.
Aus Sicht des BGH fehlte es hieran: Die Beklagte wollte durch ihre Manipulation ihre Fahrzeuge günstiger produzieren und dadurch ihren Umsatz steigern. Dieses Ziel wurde bereits durch den Verkauf als Neuwagen erreicht. Ein späterer Weiterverkauf der Wagen als Gebrauchtfahrzeuge war der Beklagten daher egal. Deshalb lag keine Bereicherungsabsicht vor.
 
dd. Ergebnis
Gegen § 263 Abs. 1 StGB wurde nicht verstoßen. Daher fehlt es bereits an einer Schutzgesetzverletzung.
 
d. Ergebnis
Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB bestehen nicht.
 
3. § 826 BGB
Schließlich setzte sich der BGH mit einem Anspruch aus § 826 BGB auseinander. § 826 BGB erfordert eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt meistens beim Merkmal der Sittenwidrigkeit. So verhält es sich auch im Fall: Der BGH befasste sich im Wesentlichen damit, ob das oben beschriebene Verhalten der beklagten Herstellerin sittenwidrig war.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, das sich also durch eine besondere Verwerflichkeit auszeichnet. Um dies zu beurteilen, ist das gesamte Verhalten des Schädigers zwischen der ersten Schädigungshandlung und dem Schadenseintritt in den Blick zu nehmen.
 
a. Sittenwidrigkeit bei Kauf vor Bekanntwerden der Manipulation
Der BGH hatte bereits im Mai entschieden (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – Az. VI ZR 252/19 = NJW 2020, 1962 Rn. 13-28), dass das Inverkehrbringen der Fahrzeuge mit einer illegalen Abschalteinrichtung zur Manipulation von Abgastests sittenwidrig ist. Der Hersteller habe zum Zweck der Gewinnerzielung seine arglosen Kunden in großem Umfang vorsätzlich, systematisch und langjährig darüber getäuscht, dass die Fahrzeuge die gesetzlichen Vorgaben einhielten. Dabei habe er die Gefahr in Kauf genommen, dass den Kunden der Betrieb der Fahrzeuge untersagt wird.
 
b. Keine Sittenwidrigkeit bei Kauf nach Bekanntwerden der Manipulation
Diese Bewertung beschränkte der BGH nun im Juli jedoch auf Kunden, die ihre Fahrzeuge vor Bekanntwerden der Manipulationen gekauft haben. Bei Kunden, die ihre Wagen erst später erworben haben, sei eine abweichende Beurteilung geboten, weil bei diesen ein größerer Zeitraum in den Blick genommen werden könne.
Durch die Offenlegung des Vorfalls habe die Beklagte zum einen das Vertrauen der Kunden in die Vorschriftsmäßigkeit der Fahrzeuge zerstört, also deren Arglosigkeit beseitigt. Zum anderen habe sie es aufgegeben, die Manipulation zu verschleiern. Stattdessen habe sie sich – wenn auch nur begrenzt freiwillig – um deren Aufklärung bemüht. Zudem habe sie eine Lösung entwickelt, um in Zukunft einen rechtmäßigen Betrieb der Fahrzeuge zu ermöglichen, um also die Folgen der Manipulation zu minimieren.
Wegen dieser Umstände sei das Verhalten der Beklagten insgesamt als nicht mehr sittenwidrig zu bewerten.
 
c. Zusammenfassung
Kunden, die ihr manipuliertes Fahrzeug vor Bekanntwerden der Manipulation erworben haben, wurden hierzu durch arglistige Täuschung, also durch ein sittenwidriges Verhalten der Herstellerin bewegt. Sittenwidrigkeit liegt vor, weil die Aufklärungs- und Verbesserungsbemühungen der Herstellerin für diese Kunden erst nach Schadenseintritt (Vertragsschluss) kamen, also zu spät, um im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung berücksichtigt zu werden. Deshalb können diese Kunden über § 826 BGB die Rückabwicklung ihrer Verträge erwirken.
Kunden, die ihr Fahrzeug demgegenüber erst nach Bekanntwerden der Manipulation erworben haben, haben keine Ansprüche aus § 826 BGB, weil hier auch die Aufklärungs- und Reparaturbemühungen der Herstellerin zu berücksichtigen sind, die den Sittenwidrigkeitsvorwurf insgesamt entfallen lassen.
 
d. Kritik und Alternativlösung
Es ist gut nachvollziehbar, dass der BGH nach dem Erwerbszeitpunkt unterscheidet. Jedoch tut er dies an einer fragwürdigen Stelle. Aus seiner Sicht hängt es vom Zeitpunkt des Kaufs ab, ob ein und dasselbe Verhalten, das Täuschen über die Manipulation, sittenwidrig ist oder nicht. Dies ist widersprüchlich und überspannt die bei § 826 BGB vorzunehmende Gesamtbetrachtung aller Fallumstände.
Treffender wäre eine Lösung über die Kausalität: Kauft jemand in Kenntnis der Manipulationsfälle ein Fahrzeug, kann er keinen Anspruch auf § 826 BGB darauf stützen, dass er das Fahrzeug gekauft hat, weil er auf das Nichtvorliegen einer Manipulation vertraut hat. Es fehlt also nicht an der Sittenwidrigkeit, sondern an der Kausalität zwischen Täuschung und Schaden (zutr. Arnold JuS 2020, 1076; Heese NJW 2019, 257, 262; Petzold NJW 2020, 1326, 1327).
 
4. Zusammenfassung
Wer einen Gebrauchtwagen nach Bekanntwerden der Dieselmanipulation kauft, kann hieraus keine Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB ableiten.
Bei § 823 Abs. 2 sieht der BGH das Problem bei den Schutzgesetzen: Weder §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV noch Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 schützen das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht. § 263 Abs. 1 StGB scheitere an der Stoffgleichheit. Bei § 826 BGB fehle es an der Sittenwidrigkeit, weil beim Kauf erst nach Bekanntwerden der Manipulation die Aufklärungs- und Reparaturbemühungen zugunsten der Herstellerin zu würdigen seien.

25.01.2021/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2021-01-25 09:00:382021-01-25 09:00:38BGH: Schadensersatz bei Kauf eines gebrauchten VW-Diesels nach Bekanntwerden der Abgasmanipulation
Tobias Vogt

Erstes BGH-Urteil im Abgas-Skandal

Deliktsrecht, Examensvorbereitung, Rechtsprechung, Zivilrecht

Ein Urteil, das von der Juristenwelt lange herbeigesehnt wurde: Durch das erste Urteil des BGH im Abgasskandal (Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19) ist nun höchstgerichtlich geklärt, dass die betroffenen Käufer einen Anspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung gegen den Hersteller haben. Ebenso ist nun höchstgerichtlich geklärt, dass sich die Geschädigten dabei jedoch die gezogenen Nutzungen aufgrund der gefahrenen Kilometer anrechnen lassen müssen. Die Examensrelevanz eines derart praxisrelevanten Urteils dürfte auf der Hand liegen. Die Entscheidung sollte daher jeder Examenskandidat eingehend studieren.
I. Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf
Der Kläger erwarb am 10. Januar 2014 zu einem Preis von 31.490,- € brutto von einem Autohändler einen Gebrauchtwagen VW Sharan 2.0 TDl match, der mit einem 2,0-Liter Dieselmotor des Typs EA189, Schadstoffnorm Euro 5 ausgestattet ist. Die Beklagte ist die Herstellerin des Wagens. Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt.
Die im Zusammenhang mit dem Motor verwendete Software erkennt, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wird und schaltet in diesem Fall in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxid (NOx)-optimierten Modus. In diesem Modus findet eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltet der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist.
Mit seiner Klage verlangt der Kläger im Wesentlichen die Zahlung des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises in Höhe von 31.490 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Denn er habe geglaubt, umweltbewusst zu handeln und hätte den Kauf nicht getätigt, hätte er Kenntnis von den wahren Abgaswerten gehabt.
Nachdem in erster Instanz das Landgericht Bad Kreuznach – Urteil vom 5. Oktober 2018 – 2 O 250/17 die Klage noch abwies, bejahte das OLG Koblenz mit Urteil vom 12.6.2019 – 5 U 1318/18 einen Anspruch auf Rückerstattung des Kaufpreises, Zug um Zug gegen Rückgabe des Wagens – jedoch unter Anrechnung des Nutzungsvorteils des Klägers anhand der gefahrenen Kilometer. Die Beklagte begehrte mit der Revision die vor dem BGH die Klageabweisung während sich die Revision des Klägers gegen die Anrechnung der gefahrenen Kilometer richtet.
II. Auch BGH bejaht Anspruch aus § 826 BGB
Der BGH schließt sich der Ansicht des OLG Koblenz an. Der Hersteller haftet nach §§ 826, 31 BGB.
1. Systematisches Verschleiern der tatsächlichen Abgaswerte ist sittenwidrig
Das Verhalten der Beklagten im Verhältnis zum Kläger sei objektiv als sittenwidrig zu qualifizieren. Dieser hat auf der Grundlage einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des Kraftfahrbundesamts systematisch, langjährig und in siebenstelligen Stückzahlen in Deutschland Fahrzeuge in Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging einerseits eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden und andererseits die Gefahr einher, dass bei einer Aufdeckung dieses Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte. Ein solches Verhalten sei im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren, so der BGH.
2. Zurechnung über § 31 BGB analog
Der BGH beanstandete auch nicht, dass das OLG Koblenz aufgrund des nicht ausreichenden Vortrags der Beklagten annahm, dass die systematische Abgasmanipulation jedenfalls mit Kenntnis und Billigung der im Hause der Beklagten für die Motorenentwicklung verantwortlichen Personen, namentlich dem vormaligen Leiter der Entwicklungsabteilung und den für die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Beklagten verantwortlichen vormaligen Vorständen, geschah. Das Verhalten dieser Repräsentanten der Beklagten wird über § 31 BGB, der analog auch für sämtliche sonstige Gesellschaftsformen außer dem Verein Anwendung findet, zugerechnet.
3. Ungewollte Verbindlichkeit als Schaden
Ebenso wie das Berufungsgericht sah der BGH den Schaden bereits in der Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit. Der Kläger, dem es gerade darauf ankam ein umweltfreundliches Fahrzeug zu erwerben und zu fahren, ist durch die sittenwidrige Täuschung der Beklagten über die Abgaswerte des Wagens dazu veranlasst worden, eine ungewollte Verbindlichkeit einzugehen. Denn ein Wagen mit den tatsächlich deutlich höheren Abgaswerten eignet sich nicht für die von ihm mit dem Vertrag bezweckte Verwendung. Auf die objektive Eignung des Wagens für den Fahrgebrauch oder eine Wertminderung kommt es nicht an.
4. Abzug der Nutzungsvorteile – schadensrechtliches Bereicherungsverbot
Grundsätzlich sind nach § 249 Abs. 1 BGB die Folgen der ungewollt eingegangenen Verbindlichkeit vom beklagten Hersteller rückgängig zu machen. Der Hersteller hat somit den vom Kläger gezahlten Kaufpreis zu erstatten, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Wagens. Wie die Vorinstanz schon gewährt auch der BGH dem Kläger jedoch nicht die volle Rückerstattung des Kaufpreises. Er muss sich die Vorteile anrechnen lassen, die ihm aus der bisherigen Nutzung des Wagens zugeflossen sind. Bemessungsgrundlage hierfür sind die vom Kläger gefahrenen Kilometer. Dies ist Ausdruck des Bereicherungsverbots als allgemeinen Grundsatz des deutschen Schadensrechts. Der BGH sah sich auch nicht veranlasst, von diesem allgemeinen Grundsatz aufgrund des sittenwidrigen und insoweit nicht schützenswerten Verhaltens des Schädigers eine Ausnahme zu machen, wie es der Kläger forderte. Denn das deutsche Schadensrecht dient gerade nicht der Bestrafung des Schädigers oder einer Schadensbemessung anhand von Billigkeitserwägungen. Dem Geschädigten soll nur sein entstandener Schaden ausgeglichen werden, er soll jedoch nicht am Ende besser dastehen, als er ohne Eintritt des schädigenden Ereignisses stünde. Dies wäre jedoch der Fall, wenn er den vollen Kaufpreis zurückerstattet bekommen würde, ihm jedoch der geldwerte Vorteil einer jahrelangen Pkw-Nutzung erhalten bliebe.
III. Fazit und Ausblick
Der Hersteller eines mit unzulässiger Abschaltvorrichtung ausgestatteten Wagens haftet den Käufern nach §§ 826, 13 BGB.
Die systematische Täuschung über die tatsächlichen Abgaswerte stuft auch der BGH als sittenwidrig ein. Dieses Verhalten der verantwortlichen Mitarbeiter wird über § 31 BGB analog zugerechnet.
Das Eingehen einer ungewollten Verbindlichkeit ist als Schaden im Sinne des § 826 BGB anzusehen. Daher sind die Folgen dieses Vertrags in Form der Erstattung des Kaufpreises, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Wagens, rückgängig zu machen.
Der Anspruchsteller hat sich jedoch seine Nutzungsvorteile in Form der von ihm gefahrenen Kilometer anspruchsmindernd anrechnen zu lassen. Auch im Rahmen des § 826 BGB gilt das schadensrechtliche Bereicherungsverbot.
Die Entscheidung wird aufgrund ihrer Tragweite und medialen Aufmerksamkeit mit Sicherheit Eingang in juristische Prüfungen finden. Zur weiteren Vertiefung der Problematik empfehlen wir unsere Beiträge zur Vorinstanz OLG Koblenz  (hier) sowie zur Entscheidung des OLG Hamm (hier).
Da sich der Abgasskandal gut dazu eignet, um neben den Ansprüchen gegen der Hersteller zunächst die Ansprüche gegen den Händler aus Mängelgewährleistung abzuprüfen, sind Examenskandidaten gut damit beraten, sich auch mit der Einordnung der Abgasmanipulationssoftware als Mangel zu beschäftigen. Auch mit dieser Frage war der BGH schon befasst, aufgrund eines Vergleichs erging jedoch kein Urteil. Zu den hierzu dennoch bedeutsamen Aussagen des BGH siehe unser Artikel (hier).
 

26.05.2020/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2020-05-26 08:24:252020-05-26 08:24:25Erstes BGH-Urteil im Abgas-Skandal
Tobias Vogt

OLG Hamm: § 826 BGB gegen den Hersteller auch bei Kauf erst nach Bekanntwerden des Abgasskandals

Deliktsrecht, Examensvorbereitung, Für die ersten Semester, Lerntipps, Mündliche Prüfung, Rechtsprechung, Startseite, Zivilrecht

Schon allein aufgrund der Vielzahl an Gerichtsentscheidungen zu dieser Frage liegt die Examensrelevanz von Ansprüchen gegen den Hersteller im Rahmen des Abgasskandals auf der Hand. Nachdem am 12.06.2019 (Az.: 5 U 1318/18) das OLG Koblenz als erstes OLG einen Anspruch gegen den Hersteller wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung bejahte, zog nun das OLG Hamm nach (Urt. v. 10.09.2019, Az.: 13 U 149/18). Neu an dieser Entscheidung ist, dass der Kauf erst erfolgte, nachdem der Abgasskandal bereits aufgedeckt und darüber in den Medien berichtet wurde. Dies hinderte das OLG Hamm jedoch nicht daran, eine vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung anzunehmen.
I. § 826 BGB gegen der Hersteller
Das OLG Hamm schloss sich der Rechtsansicht des OLG Koblenz an und wertete das vorsätzliche und systematische Verschweigen der Abschalteinrichtung im sogenannten Abgasskandal als vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung. Hierzu wird auf unseren Beitrag zum Urteil des OLG Koblenz verwiesen (hier).
II. Täuschung trotz vorheriger Berichterstattung über Abgasskandal
Naturgemäß scheidet die für einen Anspruch aus § 826 BGB erforderliche Täuschung aus, wenn der Anspruchsteller Kenntnis von den Umständen hatte. Dann wäre bei ihm kein Irrtum erzeugt worden. Daher wies die Vorinstanz (LG Bochum, Urt. V. 27.06.2018, Az.: I-2 O 85/18) die Klage noch ab, da der Kaufvertrag erst geschlossen wurde, nachdem der Abgasskandal bekannt geworden war. Aufgrund der umfassenden Berichterstattung seien die Umstände des Vorgehens der Volkswagen AG im Rahmen des Abgasskandals allgemein bekannt gewesen. Dies hätte niemanden, der sich im Jahr 2016 für den Erwerb eines VW-Diesels interessiert habe, verborgen bleiben können.
Dem schloss sich das OLG Hamm nicht an. Die Klägerin habe glaubhaft dargelegt, dass sie keine Kenntnis davon hatte, dass der von ihr erworbene Wagen ebenfalls von dem Abgasskandal betroffen ist. Richtigerweise differenziert hier das OLG Hamm: Die Kenntnis vom Abgasskandal im Allgemeinen bedeutet nicht zwingend auch Kenntnis darüber, dass der konkret gekaufte Wagen vom Abgasskandal betroffen ist. Die Käuferin durfte also davon ausgehen, dass ihr VW-Diesel entsprechend dem Verwendungszweck uneingeschränkt zulässig sei. Darüber aber wurde sie getäuscht. Denn aufgrund der unzulässigen Abschalteinrichtung drohte die Entziehung der Typengenehmigung und damit die Betriebsstillegung.
III. Schadensersatz: Auch Befreiung von Verbindlichkeiten aus Darlehensvertrag
Als Schaden erachtete das OLG Hamm die Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit aus dem Kaufvertrag. Der Klägerin wurde Schadensersatz in Form der Kaufpreisrückzahlung Zug um Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des Wagens zugesprochen. Da die Käuferin zur Finanzierung des Erwerbs eine Darlehensverbindlichkeit eingegangen war, sind auch die bisher aufgewendeten sowie noch ausstehenden Darlehenszinsen als Schadensposten auszugleichen. Davon abzuziehen ist eine Nutzungsentschädigung für die bisherige Nutzung des Wagens.
IV. Ausblick
Schadensersatzansprüche wegen des Abgasskandals gegen den Hersteller nach § 826 BGB bleiben aufgrund der in jüngster Vergangenheit ergangenen Urteile äußerst Prüfungsrelevant. Da das OLG Hamm zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Revision zum BGH zugelassen hat, bleibt diese Problematik weiterhin spannend.

18.09.2019/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2019-09-18 10:13:352019-09-18 10:13:35OLG Hamm: § 826 BGB gegen den Hersteller auch bei Kauf erst nach Bekanntwerden des Abgasskandals
Tobias Vogt

Abgasskandal: 1. OLG-Urteil gegen Hersteller – § 826 BGB

Deliktsrecht, Examensvorbereitung, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Startseite, Zivilrecht

Auch mehr als drei Jahre nach Aufdeckung des Abgasskandals beschäftigt dieser sowohl Öffentlichkeit als auch Judikatur und ist daher weiterhin von enormer Prüfungsrelevanz. Bislang standen vor allem vertragliche Ansprüche gegen Händler im Fokus (siehe unsere Artikel hier und hier). In der Frage, ob auch deliktische Ansprüche gegen den Hersteller bestehen, waren die verschiedenen Landgerichte uneins (bejahend etwa LG Stuttgart v. 17.1.2019 – 23 O 180/18; LG Frankfurt v. 29.4.2019 – 2-07 O 350/18; ablehnend LG Braunschweig v. 29.12.2016 – 1 O 2084/15). Nachdem die Vorinstanz die Klage noch abwies, bejahte nun das OLG Koblenz in seinem Urteil vom 12.6.2019 (Az.: 5 U 1318/18) einen Anspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung gegen den Hersteller. Es handelt sich um die erste OLG-Entscheidung gegen einen Hersteller im Abgasskandal. Diese Entscheidung dürfte juristischen Prüfern nicht entgangen sein und sollte daher jedem Examenskandidat bekannt sein.
I) Sachverhalt
Der Kläger kaufte einen PKW als Gebrauchtfahrzeug. Der Wagen enthielt einen Dieselmotor mit unzulässiger Abschaltvorrichtung, die dazu führte, dass bei Abgastest stets bessere Ergebnisse erzielt würden, als dies im alltäglichen Fahrbetrieb möglich gewesen wäre. Daher verlangte er vom Hersteller des PKW und Motors die Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Denn er habe geglaubt umweltbewusst zu handeln und hätte den Kauf nicht getätigt, hätte er Kenntnis von den wahren Abgaswerten gehabt.
II) Vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung, § 826 BGB
Entgegen der Vorinstanz bejahte das OLG Koblenz einen Anspruch aus § 826 BGB gegen den Hersteller. Dazu bedarf es einer sittenwidrigen Schädigungshandlung, eines Schadens, der kausal auf dieser Handlung beruht und Vorsatz hinsichtlich des Schadens sowie den die Sittenwidrigkeit begründenden Umständen.
1) Sittenwidrige Schädigungshandlung
Die Schädigungshandlung besteht in dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs unter bewusstem Verschweigen der gesetzwidrigen Softwareprogrammierung, was mit einer konkludenten Täuschung über die uneingeschränkte Zulässigkeit des Fahrzeugs im Straßenverkehr einhergeht. Die Sittenwidrigkeit begründet sich daraus, dass der Hersteller allein zum Zweck der Kostensenkung und möglicherweise der Umgehung von technischen Problemen bei der Entwicklung eines rechtlich und technisch einwandfreien Motors systematisch sowohl Aufsichtsbehörden als auch Verbraucher über die zulassungsrelevanten Abgaswerte getäuscht  und so die Ahnungslosigkeit der unzähligen Verbraucher bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt hat. Dabei wurde das Bestreben Einzelner, durch den Kauf eines umweltschonenden Produkts einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten, durch eine gezielte Täuschung unterlaufen. Die Verwerflichkeit werde durch das systematische Vorgehen und den großen betroffenen Personenkreis vertieft, so das OLG Koblenz. Dass es sich um einen Gebrauchtwagenkauf handelt, mache keinen Unterschied, da die Täuschung auch beim Gebrauchtwagenkauf fortwirkte. Denn auch bei diesem seien unter anderem die Herstellerangaben Grundlage der Kaufentscheidung.
2) Belastung mit ungewollter Verbindlichkeit und Gefahr der Betriebsuntersagung als Schaden
Durch diese Handlung ist dem Kläger auch ein Schaden entstanden. Der oft vom Hersteller im Prozess angeführte Einwand, das Fahrzeug sei trotz der Abschalteinrichtung werthaltig, kann letztlich einen Schaden nicht entfallen lassen. Denn auch, wenn nach strikter Anwendung der Differenzhypothese kein Schaden bestünde, ist unter Anwendung einer normativen Korrektur Schaden i.S.d. § 826 BGB nicht nur jede nachteilige Einwirkung auf die Vermögenslage, sondern darüber hinaus jede Beeinträchtigung eines rechtlich anerkannten Interesses und jede Belastung mit einer ungewollten Verpflichtung. Insofern kommt es nicht darauf an, ob die erhaltene Leistung wirtschaftlich hinter der Gegenleistung zurückbleibt. Ausreichend ist, dass der Geschädigte durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht worden ist, den er sonst nicht geschlossen hätte und dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist (BGH v. 28.10.2014 – Az. VI ZR 15/14). Es komme auch nicht darauf an, ob eine spätere Nachbesserung etwaige vermögensmäßigen Einbußen ausgleichen könnte. Der Kläger wurde hier durch die Täuschung über die Abgaswerte zu einem Vertragsschluss bewegt, den er sonst nicht getätigt hätte, und ist in seinen berechtigten Erwartungen an einen umweltfreundlichen geringen Abgasausstoß enttäuscht worden.
Zudem entspricht das Fahrzeug auch nicht den gesetzlichen Anforderungen. Aufgrund der Unzulässigkeit der Abschaltvorrichtung besteht die Gefahr einer Stilllegung, wodurch die uneingeschränkte Nutzung in Frage gestellt werde.
Beide Aspekte – zum einen die Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit und zum anderen die Gefahr der Betriebsuntersagung – können laut OLG Koblenz für sich alleine als Schaden angesehen werden.
3) Vorsatz – Zurechnung über § 31 BGB analog oder Haftung nach § 831 BGB
Da der Hersteller eine juristische Person ist, bedarf es der Zurechnung der Kenntnis einer natürlichen Person. Angesichts der großen Zahl der manipulierten Fahrzeuge sah das OLG Koblenz es als ausgeschlossen an, dass Mitarbeiter in leitender Stellung (zumindest der Leiter der Entwicklungsabteilung) keine Kenntnis von den Manipulationen hatten. Die Kenntnis des Vorstands oder sonstiger Repräsentanten wird dabei nach § 31 BGB analog zugerechnet. Eine Zurechnung erfolgt nicht nur für den Vorstand, sondern auch für alle sonstigen Personen, denen durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie die juristische Person im Rechtsverkehr repräsentieren.
Für den Fall, dass keine Kenntnis von Mitarbeitern in leitender Stellung angenommen werden kann, ergibt sich eine Haftung aus § 831 BGB. Denn sonstige Mitarbeiter des Herstellers, die die Manipulation tätigten, sind jedenfalls Verrichtungsgehilfen. In einer Prüfung ist an dieser Stelle darauf zu achten, dass § 831 eine eigene Anspruchsgrundlage für eigenes Organisationsverschulden ist, also nicht im Rahmen der Vorsatzzurechnung herangezogen werden kann. Die Gerichte helfen sich hier mit einer Wahlfeststellung (so etwa LG Stuttgart v. 17.1.2019 – 23 O 180/18; LG Frankfurt v. 29.4.2019 – 2-07 O 350/18), in einer Klausur sollte jedoch eine „saubere“ getrennte Prüfung erfolgen.
4) Rechtsfolge
Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB (oder ggf. § 831 BGB) ist auf Naturalrestitution gerichtet, § 249 BGB. Diese besteht in der Rückgängigmachung der Folgen des „ungewollten“ Kaufs. Der Kläger hat demnach einen Anspruch auf Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Nicht übersehen werden darf, dass sich der Gläubiger die tatsächlichen Nutzungen des Fahrzeugs als geldwerten Vorteil anrechnen lassen muss (Stichwort Bereicherungsverbot im deutschen Schadensrecht). Der zu erstattende Kaufpreis ist daher um diesen Betrag zu kürzen.
III) Fazit
Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs können also gemäß § 826 BGB gegen den Hersteller vorgehen. Der Schaden liegt dabei sowohl in der Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit als auch in der Gefahr einer Betriebsuntersagung. Neben der Problematik von vertraglichen Ansprüchen gegen den Verkäufer sollten Prüflinge also auch diese Konstellation vor Augen haben.

19.06.2019/1 Kommentar/von Tobias Vogt
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Tobias Vogt https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Tobias Vogt2019-06-19 08:36:472019-06-19 08:36:47Abgasskandal: 1. OLG-Urteil gegen Hersteller – § 826 BGB
Dr. Sebastian Rombey

VW-Abgasskandal: BGH äußert sich zu Mangel und Ersatzlieferung

Examensvorbereitung, Lerntipps, Rechtsgebiete, Rechtsprechung, Schon gelesen?, Schuldrecht, Startseite, Zivilrecht

Der BGH hat sich – wie in der vergangenen Woche bekanntgeworden ist – zu einem vom VW-Abgasskandal betroffenen Fahrzeug geäußert (VIII ZR 225/17). Vorläufiges Fazit: betroffene Fahrzeuge weisen wohl einen Sachmangel auf. Da es sich jedoch um einen bloßen Hinweisbeschluss handelt (der Kläger hatte nach einem Vergleich seine Revision zurückgenommen), der am 27.02.2019 auf der Seite des BGH im Volltext veröffentlicht werden soll, wird in der Sache kein Urteil mehr ergehen und der BGH sich nicht mehr zu etwaigen Gewährleistungsansprüchen äußern können; die Rechtsansicht des BGH bleibt damit vorerst eine rein vorläufige. Dennoch lohnt es sich, die knappen Hinweise des BGH näher zu betrachten, auch, da zu erwarten ist, dass untere Instanzen sie ihren Entscheidungen zu Grunde legen werden. Für die gegen VW eingelegte Musterfeststellungsklage hat dies jedoch keine wirkliche Ausstrahlungskraft. Warum sich der BGH zu diesem nicht zwingend notwendigen, überdies öffentlich gemachten Hinweis hinreißen ließ, liegt indes auf der Hand: Der VW-Konzern verfolgt die durchaus nachvollziehbare Strategie, ein Grundsatz-Urteil im Abgasskandal unbedingt zu vermeiden. Der VIII. Zivilsenat hat diese Taktik nun zumindest teilweise durchkreuzt.
I. Sachmangel wohl zu bejahen
In der Sache ging es um die Rechtsfrage, ob dem Käufer eines von VW mit einer bei Übergabe mit einer Abschalteinrichtung versehenen Neuwagens zur Verdeckung erhöhter Stickoxidwerte ein Anspruch auf Ersatzlieferung bei einem Modellwechsel gegen den selbständigen VW-Vertragshändler zusteht. Im Zentrum stand damit die Frage nach dem Vorliegen eines Sachmangels. In Betracht kam ein solcher aus § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB, also die fehlende Eignung für die gewöhnliche Verwendung, die bei Kaufsachen der gleichen Art und Güte üblich ist und die der Käufer nach der Art der Kaufsache erwarten kann. Die in Rede stehende Software reduziert auf dem Prüfstand den Stickoxidaustoß gegenüber dem Fahrbetrieb deutlich. Darin sah der BGH einen Sachmangel, „weil die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde besteht und es damit an der Eignung der Sache für die gewöhnliche Verwendung (Nutzung im Straßenverkehr) fehlen dürfte.“ (PM Nr. 022/2019 v. 22.02.2019). Zum Hintergrund: Das Kraftfahrtbundesamt hatte zuvor verlauten lassen, dass es die Abschalteinrichtung für unzulässig hält. Grund zum Jubeln haben betroffene Käufer dennoch nicht unbedingt, sind doch die meisten Fälle mittlerweile verjährt. Allein bei arglistiger Täuschung wäre dies anders; zu dieser aber wurde höchstrichterlich noch nicht Stellung bezogen.
II. Keine Unmöglichkeit der Ersatzlieferung
Des Weiteren weist der BGH noch auf eine weitere, vorläufige Rechtsauffassung hin: Der Umstand, dass es mittlerweile ein Nachfolgemodell zu dem ursprünglich gekauften Neuwagen gebe, führe nicht zur Unmöglichkeit der Ersatzlieferung im Sinne von § 275 Abs. 1 BGB. Zwar werde das ursprünglich erworbene Modell (VW Tiguan 2.0 TDI) nicht mehr produziert, eine Beschaffung sei deshalb ausgeschlossen. Entscheidendes Kriterium sei aber vielmehr die Höhe des Beschaffungsaufwandes für den Verkäufer. Dieser könne einfach das Nachfolgemodell liefern. Denn: Ein „mit einem nachträglichen Modellwechsel einhergehender mehr oder weniger großer Änderungsumfang [sei] für die Interessenlage des Verkäufers in der Regel ohne Belang […].“ (PM Nr. 022/2019 v. 22.02.2019). Seien die Beschaffungskosten für den Verkäufer zu hoch, könne dieser sich ggf. auf § 439 Abs. 4 BGB berufen (unverhältnismäßige Kosten), nicht aber die Ersatzlieferung über § 275 Abs. 1 BGB generell verweigern. Bei genauerer Betrachtung wir dem Leser jedoch klar, dass diese Möglichkeit gegenüber einem Verbraucher (§ 13 BGB) faktisch wie rechtlich nicht besteht, da die andere Art der Nacherfüllung (Nachbesserung) oftmals unmöglich ist.
Es bleibt also weiterhin spannend.
S. zu weiteren examensrelevanten Problemen des VW-Abgasskandals auch unseren früheren Beitrag (hier abrufbar).

26.02.2019/1 Kommentar/von Dr. Sebastian Rombey
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Sebastian Rombey https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Sebastian Rombey2019-02-26 09:11:032019-02-26 09:11:03VW-Abgasskandal: BGH äußert sich zu Mangel und Ersatzlieferung
Dr. Yannik Beden, M.A.

Audi-Vorstand Stadler in Untersuchungshaft: Überblick zur U-Haft und Verdunkelungsgefahr

Rechtsgebiete, Schon gelesen?, Startseite, StPO, Strafrecht, Tagesgeschehen

Der Vorstandsvorsitzende der Audi-AG Rupert Stadler wurde gestern an seinem Wohnsitz festgenommen und sitzt aktuell in Untersuchungshaft. Seit Beginn der Dieselaffäre im Jahr 2015 soll der Chef der VW-Tochtergesellschaft aus den eigenen Reihen Hinweise erhalten haben, denen zufolge auch bei Fahrzeugen der Marke Audi manipulierte Abgassysteme verarbeitet und verkauft worden sind. Die Münchener Staatsanwaltschaft hatte bereits diverse Telefonate Stadlers abgehört und stellte diverse Unterlagen im Rahmen einer Razzia sicher. Aufgrund konkreter Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr erging letztlich ein Haftbefehl gegen den Vorstandsvorsitzenden. Die Staatsanwaltschaft befürchtete, dass Stadler Zeugen und/oder Beschuldigte im Abgasskandal möglicherweise beeinflussen werde. Sowohl für die schriftliche, als auch mündliche Examensprüfung müssen Kandidaten Grundkenntnisse zum Strafprozessrecht vorweisen können. Die Untersuchungshaft gem. §§ 112 ff. StPO muss von Prüflingen in ihren Grundzügen beherrscht werden. Aus aktuellem Anlass soll deshalb ein kurzer Überblick hierzu gegeben werden:
I. Arten der strafprozessualen Haft nach der StPO
Das Strafprozessrecht kennt verschiedene Arten der Haft, die unterschiedliche Zwecke verfolgen. Die Untersuchungshaft ist in §§ 112 ff. StPO geregelt und dient vornehmlich der effektiven Strafrechtspflege. Daneben besteht die Möglichkeit einer Ordnungs-bzw. Beugehaft gegenüber Zeugen nach §§ 51, 70 StPO. Ebenso kann eine Ordnungshaft entsprechend § 177 GVG angeordnet werden, wenn Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen den zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen des Gerichts nicht Folge leisten. Ein Haftbefehl kann auch gegen den Angeklagten ergehen, wenn sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung nicht genügend entschuldigt ist, § 230 Abs. 2 StPO. Im beschleunigten Verfahren kann zudem ein Haftbefehl gegen den Verdächtigen nach § 127b StPO erlassen werden. Darüber hinaus regelt die StPO in §§ 453c, 457 StPO die Vollstreckungshaft sowie die Strafhaft nach den §§ 449 ff. StPO.
II. Zweck der U-Haft: Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs
Die Untersuchungshaft dient der effektiven Durchführung des staatlichen Strafverfahrens und soll neben der Gewährleistung eines geordneten Verfahrens auch die spätere Strafvollstreckung sicherstellen (vgl. BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71; MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 2.). Da die Untersuchungshaft einen erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) bedeutet, darf sie nur unter strengen Voraussetzungen angeordnet werden. Die staatliche Gemeinschaft hat einen legitimen Anspruch auf eine vollständige Aufklärung der Tat sowie einer zeitnahen Bestrafung des Täters, welcher durch die Untersuchungshaft gesichert werden darf, wenn und soweit die Sicherung nur durch eine Inhaftierung des Verdächtigten möglich ist (vgl. BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71). Die Untersuchungshaft bedeutet letztlich also immer eine (verfassungsrechtliche) Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer effektiven, wirksamen Strafverfolgung (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 1).
III. Voraussetzungen der Untersuchungshaft
Die Prüfungspunkte der Untersuchungshaft ergeben sich unmittelbar aus §§ 112 – 113 StPO: Es bedarf eines dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten (1) und eines Haftgrundes (2). Zusätzlich muss die Untersuchungshaft dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (3). Wichtig: Der Prüfungspunkt des dringenden Tatverdachts dient oftmals als Einstieg in den materiellen Teil strafrechtlicher Klausuren / mündlichen Prüfungen!    
1. Dringender Tatverdacht
Der Beschuldigte muss der Tat „dringend verdächtig“ sein, § 112 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein dringender Tatverdacht liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine „hohe“ bzw. „große“ Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (jüngst BGH Beschluss v. 11.1.2018 – AK 75/17, BeckRS 2018, 1024; BVerfG Beschluss v. 13.10.1971 – 2 BvR 233/71). Zum einen muss also die Täterwahrscheinlichkeit umfassend auf Grundlage der bestehenden Tatsachenbasis geprüft werden. Ebenso ist eine Prognose über die Verurteilungswahrscheinlichkeit zu erstellen (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 21). Bloße Vermutungen reichen also für eine Untersuchungshaft nicht aus (BGH Beschluss v. 18.10.2007 – 3 Sa 214/07, BeckRS 2007, 16872).
2. Haftgrund
Neben dem dringenden Tatverdacht bedarf es für die Anordnung von Untersuchungshaft eines Haftgrundes. Die von der StPO anerkannten Haftgründe sind in § 112 Abs. 2 Nr. 1 – 3 normiert.
a) Fluchtgefahr
112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO regelt den Haftgrund der Fluchtgefahr: Untersuchungshaft kann angeordnet werden, wenn festgestellt wird, dass „der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält“ bzw. „bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde“. Flüchtig ist, wer sich von seinem Lebensmittelpunkt (ggf. ins Ausland) absetzt, um für Ermittlungsbehörden und Gerichte unerreichbar zu sein und sich ihrem Zugriff zu entziehen. Verborgen hält sich der Beschuldigte, wenn er etwa unangemeldet, unter falschem Namen oder an einem unbekannten Ort lebt, um sich dem Verfahren zu entziehen (vgl. OLG Karlsruhe Beschluss v. 1.3.2004 – 3 Ws 44/04, BeckRS 2004, 04171). Die Fluchtgefahr stellt statistisch betrachtet den häufigsten Haftgrund dar. Allgemein gilt wieder, dass es einer hohen Wahrscheinlichkeit bedarf, auch wenn insoweit keine volle Überzeugung der Tatsachen notwendig ist (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 41).
b) Verdunkelungsgefahr
112 Abs. 2 Nr. 3 lit. a bis c regelt den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr. Die Vorschrift ist letztlich selbsterklärend. Das Verfahren wird durch den Beschuldigten verdunkelt, wenn er etwa Beweismittel vernichtet, auf Zeugen und/oder Mitbeschuldigte in unlauterer Weise einwirkt oder Dritte zu einem solchen Verhalten veranlasst. Notwendig ist allerdings, dass gerade das Verhalten des Beschuldigten die Gefahr eines erschwerten Verfahrens, also die Verdunkelung begründet. Ein Einwirken auf Beweispersonen setzt bei der Verdunkelungsgefahr eine unmittelbare oder mittelbare psychische Beeinflussung voraus, durch die die Beweislage zuungunsten der Wahrheit geändert werden soll. Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Zeuge durch Bedrohung zur Falschaussage veranlasst wird (OLG Köln Beschluss v. 1.6.2017 – 2 Ws 341/17, BeckRS 2017, 141453).
c) Ausnahme vom Erfordernis eines Haftgrundes bei Schwerkriminalität 
Nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO soll dann, wenn der Beschuldigte einer der in diesem Absatz genannten Straftaten verdächtig ist, Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen eines Haftgrundes nach § 112 Abs. 3 StPO angeordnet werden können. Die aufgelisteten Katalogtaten beinhalten Straftaten der Schwerkriminalität. Da auf den ersten Blick die Anordnung von Untersuchungshaft bereits bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts ohne jegliche Anhaltspunkte für eine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr möglich ist, hat sich das Bundesverfassungsgericht früh für eine restriktivere Auslegung der Vorschrift ausgesprochen: In Anbetracht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Norm in Zusammenhang mit § 112 Abs. 2 StPO gelesen werden. Es müssen also Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne eine Inhaftierung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Straftat verhindert werden (BVerfG Beschluss v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243). Daraus folgt, dass es im Regelfall genügt, wenn eine Flucht oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen ist, wovon bei den genannten Katalogtaten üblicherweise auszugehen sein wird (MüKo/Böhm/Werner, StPO, 1. Auflage 2014, § 112 Rn. 93).  
3. Kein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn sie unverhältnismäßig ist, § 112 Abs. 1 S. 2 StPO. § 113 Abs. 1, 2 StPO kann insoweit als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verstanden werden. Das Gesetz sieht die Unverhältnismäßigkeit als Haftausschließungsgrund vor, sodass sie positiv festgestellt werden muss (BeckOK/Krauß, StPO, 29. Ed. 2018, § 112 Rn. 42 m.w.N.). Mildere Mittel können etwa sein, dass der Beschuldigte Personalpapiere abliefert (BeckOK/Krauß, StPO, 29. Ed. 2018, § 112 Rn. 46). Insgesamt muss stets geprüft werden, ob der Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen in Anbetracht des staatlichen Bedürfnisses nach einer effektiven Strafverfolgung unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls nicht außer Verhältnis steht.
IV. Formalia
Die Untersuchungshaft wird von der Staatsanwaltschaft beim Richter beantragt. Zuständig ist bis zur Erhebung der öffentlichen Klage der Ermittlungsrichter, vgl. § 125 Abs. 1 StPO. Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht, welches mit der Sache befasst ist, zuständig (§ 125 Abs. 2 StPO). Wird der Beschuldigte ergriffen, ist er unverzüglich dem Richter vorzuführen, § 115 Abs. 1 StPO. Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft sehen die §§ 304 ff. StPO (Haftbeschwerde) sowie die §§ 117 ff. StPO (Antrag auf Haftprüfung) vor. Auch besteht die Möglichkeit, den Vollzug des Haftbefehls auszusetzen, § 116 StPO. Die Norm ist ebenfalls als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu verstehen („weniger einschneidende Maßnahmen“).
V. Summa
Die Untersuchungshaft ist nicht nur Theoriestoff der juristischen Ausbildung, sondern vielmehr Gegenstand alltäglicher Strafverfolgungsarbeit. Das jüngste Beispiel aus dem Hause Audi macht dies erneut deutlich. Examenskandidaten sollten die Grundzüge der Untersuchungshaft für Klausuren und die mündlichen Prüfung unbedingt beherrschen. Nicht zuletzt greifen Prüfer gerne auf die Untersuchungshaft zurück, um die materielle Strafrechtsprüfung prozessual einzukleiden.

19.06.2018/0 Kommentare/von Dr. Yannik Beden, M.A.
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Dr. Yannik Beden, M.A. https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Dr. Yannik Beden, M.A.2018-06-19 14:56:012018-06-19 14:56:01Audi-Vorstand Stadler in Untersuchungshaft: Überblick zur U-Haft und Verdunkelungsgefahr

Über Juraexamen.info

Deine Zeitschrift für Jurastudium, Staatsexamen und Referendariat. Als gemeinnütziges Projekt aus Bonn sind wir auf eure Untersützung angewiesen, sei es als Mitglied oder durch eure Gastbeiträge. Über Zusendungen und eure Nachrichten freuen wir uns daher sehr!

Werbung

Anzeige

Neueste Beiträge

  • BGH zu Urheberrechtsstreit zwischen Grafikdesigner und FC Bayern
  • Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
  • Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Weitere Artikel

Auch diese Artikel könnten für dich interessant sein.

Gastautor

BGH zu Urheberrechtsstreit zwischen Grafikdesigner und FC Bayern

Rechtsgebiete, Startseite, Tagesgeschehen, Zivilrecht, ZPO

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. Darf der FC Bayern […]

Weiterlesen
06.02.2023/1 Kommentar/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-06 14:08:362023-02-06 14:09:39BGH zu Urheberrechtsstreit zwischen Grafikdesigner und FC Bayern
Gastautor

Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände

Rechtsgebiete, Startseite, Strafrecht, Strafrecht BT, Verschiedenes

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Sabrina Prem veröffentlichen zu können. Die Autorin ist Volljuristin. Ihr Studium und Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf. Ist das Betäubungsmittelstrafrecht – zumindest als Lehrmaterie – im […]

Weiterlesen
01.02.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-02-01 10:00:002023-01-25 11:49:57Das Betäubungsmittelstrafrecht – Ein Überblick über Begriff, Menge und Straftatbestände
Gastautor

Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Rechtsprechung, Rechtsprechungsübersicht, Startseite, Zivilrecht

Wir freuen uns, nachfolgenden Gastbeitrag von Simon Mantsch veröffentlichen zu können. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und ist als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Flick Gocke Schaumburg tätig. Ein nach §§ 823 […]

Weiterlesen
16.01.2023/von Gastautor
https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg 0 0 Gastautor https://www.juraexamen.info/wp-content/uploads/2022/05/je_logo.svg Gastautor2023-01-16 15:42:082023-01-25 11:42:19Neue Rechtsprechung des BGH zur Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“

Support

Unterstütze uns und spende mit PayPal

Jetzt spenden
  • Über JE
  • Das Team
  • Spendenprojekt
  • Gastautor werden
  • Mitglied werden
  • Alumni
  • Häufige Fragen
  • Impressum
  • Kontakt
  • Datenschutz

© 2022 juraexamen.info

Nach oben scrollen