Der EGMR hatte am 8.11.2012 einen Fall zu entscheiden (Az. 43481/09), der auch die deutschen Gerichte bewegt hat. Es geht um die peta-Kampagne „Der Holocaust auf dem Teller“. „Dabei sollte u. a. auf Plakatwänden jeweils ein Foto der Massentierhaltung einem Foto von lebenden oder toten Häftlingen von Konzentrationslagern aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 gegenüber gestellt werden. Die Plakatwände trugen zusätzlich jeweils eine kurze Beschriftung, so die Beschreibung des LG Berlin in seinem Urteil aus 2004 (27 O 207/04).
Vom aktuellen Urteil des EuGH zu dieser Frage findet sich bisher nur die Pressemitteilung auf deutsch; das Urteil selbst ist nur auf englisch verfügbar. Vor der Anrufung des EGMR hatte sich bereits das BVerfG 2009 mit der Plakataktion auseinaderzusetzen (1 BvR 2266/04; 1 BvR 2620/05). Alle Vorinstanzen haben die Aktion für unzulässig erklärt. Nunmehr hat auch der EGMR diese Sichtweise bestätigt. Es lohnt sich aber ein Blick auf die jeweiligen Urteilsgründe. Sehr gut könnte dieser Fall auch in einer Klausur abgeprüft werden.
I. Entscheidung des LG Berlin
Im erstinstanzlichen Urteil ging es zunächst um die Frage, ob ein Unterlassungsanspruch gegen die Werbung bejaht werden kann. Geklagt hatten drei Holocaustüberlebende. Kern der Prüfung war die Frage, ob die Werbung von der Meinungsfreiheit des Art. 5 GG geschützt ist oder ob diese hier nicht greifen kann. Zu prüfen war diese Norm bei einem Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB.
An erster Stelle ermittelte das Gericht, ob es sich hier um eine Meinungskundgabe oder um eine Tatsachenbehauptung handelt.
Es handelt sich bei den angegriffenen Darstellungen um Meinungsäußerungen und nicht etwa um Tatsachenbehauptungen, wie auch die Antragsteller nicht in Abrede stellen. Soweit die Darstellungen auch einen Kern von Tatsachen enthalten sollten, wie z. B. die Art der Bedingungen der abgebildeten Massentierhaltungen, tritt dieser hinter dem auf eine Gegenüberstellung von tierischem und menschlichem Leid zielenden Werturteil zurück. Der sprachliche und bildliche Vergleich von Konzentrationslagern und den Bedingungen der Massentierhaltung ist entscheidend und ganz überwiegend durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens, d. h. durch die subjektive Einstellung des Antragsgegners zu diesem Sujet geprägt.
Der Schutzbereich ist damit eröffnet. Fraglich ist aber, ob nicht die Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG greift. Auf die Meinungsfreiheit kann sich auch dann nicht gestützt werden, wenn hiermit die Menschenwürde Dritter verletzt wird. Maßgebend, ob eine solche Verletzung vorliegt, ist der objektive Inhalt der Äußerung. Worin dieser hier liegt, stellt das LG ausführlich dar:
Vorliegend enthalten die angegriffenen Darstellungen eine Gegenüberstellung und damit auch eine Gleichsetzung der Bedingungen, unter denen KZ-Insassen lebten und denen von Legehennen, Mastschweinen und ähnlichen in Massentierhaltung gezüchteten und gehaltenen Tieren. Die Darstellungen sind gerade deshalb so aufwühlend und fanden ein so breites Echo in der Medienlandschaft, weil die nebeneinander montierten Fotos scheinbar ähnliche Situationen zeigen, die sich lediglich dadurch unterscheiden, dass auf der einen Seite Tiere in Farbe abgebildet werden und auf der anderen Seite in schwarz/weiß (lebende oder tote) Menschen, z.B. auf der einen Seite ein Berg toter Schweine und auf der anderen ein Haufen aufeinander geworfener menschlicher Leichen. Der durchschnittliche verständige Betrachter entnimmt diesen Darstellungen, dass das Schicksal der abgebildeten Tiere und das der abgebildeten Menschen auf eine Stufe gestellt werden soll, dass beides grausam ist, das eine so verwerflich wie das andere. Dass mit den Darstellungen eine Parallele zwischen dem abgebildeten tierischen und menschlichen Schicksal gezogen wird, wird über die jeweils abgebildeten Situationen noch durch die grafische Anordnung verstärkt, nämlich dadurch, dass die Fotos jeweils ohne Trennung nebeneinander gesetzt wurden und sich so gewissermaßen zu einem Ganzen fügen und durch die jeweils beigefügten Textzeilen.
Fraglich ist damit, ob hierin eine Verletzung der Menschenwürde erkannt wird. Maßgeblich ist hierfür die sog. Objektsformel. Dazu legt das Gericht dar:
Vorliegend wäre insoweit zu berücksichtigen, dass eine Gleichsetzung von KZ-Häftlingen und Holocaust-Opfern mit Tieren erfolgt, dass dieser Vergleich trotz etwaiger ähnlicher Leidensfähigkeit von Tieren mit zentralem Nervensystem und Menschen vor dem Hintergrund des Menschenbildes des Grundgesetzes willkürlich erscheint, weil dieses den Menschen und seine Würde ins Zentrum stellt […].
Vorliegend wird zwar nicht das Menschsein an sich der Holocaustopfer in Frage gestellt, es wird aber auf eine Stufe mit dem Leid von Tieren gestellt, und zwar durch eine bildhafte Gegenüberstellung. Wenn sich der Antragsgegner auch darauf beruft, es gehe ihm nicht um eine Abwertung der Leiden der dargestellten Menschen, sondern darum, auf die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden von Tieren aufmerksam zu machen, also um eine „Aufwertung“ der Tiere in der öffentlichen Meinung, so ändert dies nichts daran, dass eine Gleichsetzung der Leiden stattfindet.
Darin liegt auch eine Herabsetzung sämtlicher Opfer des Holocaust. Es gibt keinerlei nachvollziehbaren Anknüpfungspunkt, der eine Vergleichbarkeit der dargestellten menschlichen Leiden mit denen von Tieren rechtfertigt. Insbesondere enthält das Grundgesetz insofern eine eindeutige Wertentscheidung, indem es nämlich die Menschenwürde in das Zentrum sämtlichen staatlichen Wirkens stellt.
Die Gleichstellung des Leids von Mensch und Tieren ist damit unzulässig und verletzt die Menschenwürde. Zu beachten ist dabei aber, dass explizit auf die Menschenwürde der Antragsteller als Überlebende des Holocaust und nicht auf die Menschenwürde der Dargestellten (deren Menschenwürde auch über den Tod hinweg fortdauert) abgestellt wird. Dies hat zur Folge, dass nach dem Tod aller Holocaustüberlebenden ein entsprechendes Plakat zulässig wäre.
II. Urteilsverfassungsbeschwerde beim BVerfG
Das BVerfG urteilte im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses ähnlich. In das Zentrum der Prüfung wurde aber gerade die Aussage gerückt, dass ein Berühren der Menschenwürde nicht ausreiche; vielmehr sei eine Verletzung nötig. Dies beruht darauf, dass jedem Grundrecht ein Menschenwürdekern innewohnt.
Sodann schließt sich eine Menschenwürdeprüfung der Dargestellten und der Antragsteller an. Auch hier wird wieder auf die Objektsformel abgestellt. Im Ergebnis wird ein Menschenwürdeverstoß hier offen gelassen. Der Argumentation des LG hinsichtlich der Gleichstellung mit Tieren wird nicht gefolgt:
Insbesondere wird den dargestellten Holocaustopfern durch die Kampagne des Beschwerdeführers nicht der personale Wert abgesprochen, indem sie wie Tiere bewertet oder gar behandelt werden. Mag auch der Beschwerdeführer generell von der Gleichwertigkeit menschlichen und tierischen Lebens überzeugt sein, so liegt in der geplanten Bildkampagne nach der von den Fachgerichten zugrunde gelegten Deutung keine verächtlich machende Tendenz. Als gleich gewichtig wird nämlich allein das Leiden dargestellt, das den abgebildeten Menschen und Tieren zugefügt wird.
Allerdings wird zumindest ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Antragsteller bejaht. Entscheidend sei, dass eine Leugnung des Holocaust auch eine Persönlichkeitsrechtsverletzung der heute Lebenden darstellt ( BVerfGE 90, 241). Eine parallele Wertung ist auch hier möglich:
Die zugrunde liegende Erwägung, dass es zum personalen Selbstverständnis der heute in Deutschland lebenden Juden gehöre, als zugehörig zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller anderen bestehe, und dass dieses Teil ihrer Würde sei (vgl. BGHZ 75, 160 <162 f.>; BVerfGE 90, 241 <252>), lässt sich auf den vorliegenden Sachverhalt übertragen.
Der Eingriff in die Meinungsfreiheit wird damit durch das Persönlichkeitsrecht der lebenden Juden gerechtfertigt. Im Unterschied zum Urteil des LG ist es hier nicht notwendig, dass der Verletzte selbst Überlebender des Holocaust ist. Vielmehr resultiert die Verletzung bereits aus der Zugehörigkeit zum jüdischen Kulturkreis. Eine zeitliche Beschränkung auf die vor 1945 Geborenene entfällt damit.
III. Urteil des EGMR
Im Ergebnis entspricht auch das Urteil des EGMR der deutschen Rechtsprechung. Auch hier wird festgestellt, dass die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) im konkreten Fall begrenzt sein muss. Gestützt ist dieses Ergebnis nach der Pressemitteilung auf zwei zentrale Argumente:
Nach Auffassung des EGMR ist die Entscheidung im spezifischen Kontext der deutschen Vergangenheit zu sehen. Die deutschen Gerichte hatten relevante und hinreichende Gründe für die Gewährung der Unterlassungsverfügungen.
Die deutschen Gerichte hatten argumentiert, dass diejenigen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden und ihr Leben als Opfer dieser Gewaltherrschaft verloren oder die Verfolgung überlebt haben und Teil der inländischen Bevölkerung sind, in ihrer Menschenwürde betroffen sind, sofern solche Personen im Zusammenhang mit dem Holocaust beleidigt werden. Sofern die Menschenwürde eines anderen angetastet werde, habe das gegebenenfalls kollidierende Rechtsgut der Meinungsfreiheit stets zurückzutreten. Durch die bildhafte Gegenüberstellung von Holocaustopfern mit zusammengepferchten und nicht artgerecht gehaltenen Tieren werde die Menschenwürde von Holocaustopfern auch dann verletzt, wenn der Verbreiter solcher Bilder den Holocaust nicht bestreitet und durch die Gegenüberstellung lediglich auf das Leid der Tiere aufmerksam machen will.
Deutet das zweite Argument darauf hin, dass der EGMR der Ansicht des LG hinsichtlich der personellen Reichweite des Schutzes der Menschenwürde/des Persönlichkeitsrechts folgt, so überrascht das erste Argument umso mehr: Die Rechtfertigung soll sich insbesondere aus der deutschen Geschichte ergeben. Mit anderen Worten: Eine entsprechende Werbung wäre in anderen europäischen Ländern wohl zulässig. Sie ist auch dann zulässig, wenn alle unmittelbar vom Holocaust Betroffenen verstorben sind. Fraglich ist, ob diese Argumentation auch Rückhalt im Urteil selbst findet oder nur der Pressemitteilung geschuldet ist.
Der EGMR legt dar:
It was this “instrumentalisation” of the plaintiffs’ suffering that violated their personality rights in their capacity as Jews living in Germany and as survivors of the Holocaust.
Dies macht gerade nicht deutlich, ob die Stellung als Jude in Deutschland oder als Überlebender des Holocaust von entscheidender Bedeutung ist. An anderer Stelle wird hingegen nur auf die Stellung als Jude in Deutschland Bezug genommen. Eindeutig ist der EGMR hier freilich nicht. Dies resultiert auch daraus, dass er eine allgemeine Abwägung vornimmt und fragt, ob das nationale Urteil im konkreten Fall angemessen war. Mit den Feinheiten der deutschen Rechtsprechung befasst er sich nicht.
In diesem Zusammenhang wird auch der Bezug auf die deutsche Historie klarer:
The Court considers that the facts of this case cannot be detached from the historical and social context in which the expression of opinion takes place (compare Hoffer and Annen, cited above, § 48 and Rekvényi v. Hungary [GC], no. 25390/94, §§ 46 et seq., ECHR 1999-III). It observes that a reference to the Holocaust must also be seen in the specific context of the German past (see Hoffer and Annen, ibid.) and respects the Government’s stance that they deem themselves under a special obligation towards the Jews living in Germany (compare paragraph 36, above). In the light of this, the Court considers that the domestic courts gave relevant and sufficient reasons for granting the civil injunction against the publication of the posters. This is not called into question by the fact that courts in other jurisdictions might address similar issues in a different way.
Überprüft wird gerade die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des deutschen Gerichts im konkreten Fall. Hier wird dem Gericht dann eben zugestanden, dass es eine besondere historische Verpflichtung hat. Daraus eine Relativierung des Holocaust abzuleiten, überzeugt freilich nicht. Ebensowenig kann hieraus die Aussage abgeleitet werden, in anderen Ländern sei eine entsprechende Werbung stets zulässig. Auch hier kann die Abwägung ein Überwiegen der Interessen für ein Verbot ergeben. Die harsche Kritik der Richter Spielmann und Zupancic erscheint damit übertrieben:
Apart from that, the real question here is the relativisation of an unacceptable use of the freedom of expression. This relativisation is only a shade removed, if one considers mere appearances, from a Nazi kind of discriminatory pronouncement. One need only imagine that the poster was made from the opposite point of view; then one easily arrives at a converse impression that the inmates shown behind the barbed wire are to be compared with the pigs behind the bars. If such is the kind of statement covered by freedom of expression, one then finds it difficult to understand, what is not covered by freedom of expression.
The above relativisation is deeply problematic from a seemingly “democratic” point of view, where everything goes because everything is relative and everything is, to put it metaphorically, for sale. People only have opinions, but they lack convictions, let alone the courage of their convictions. The difference between good and evil, between what is right and what is clearly wrong is thus a matter of opinion, as if reasonable men could reasonably differ on a particular subject matter.
Here we may pause and ask, whether reasonable men could indeed or could not differ on the utterly distasteful and unacceptable comparison between pigs on the one hand and the inmates of Auschwitz or some other concentration camp, on the other hand. A few decades ago this kind of Denkexperiment, even in the American context, would only yield a result unfavourable to the applicants, because a few decades ago, reasonable persons could not possibly differ on the question we have before us in this case.
Apparently, things have changed to the extent that indeed both the Federal Constitutional Court in Germany, as well as our Court, are still able to say that such comparison is unacceptable, but only in the context of a country carrying a historical stigma concerning the concentration camps.
Zugespitzt wird die Frage formuliert:
In simple legalistic language, the question is therefore, where do we draw the line? Would these pictures be acceptable in Azerbaijan or Iceland, or in Austria, or would they not be acceptable?
Wenn das Urteil tatsächlich so gemeint ist, dass nur in Deutschland eine entsprechende Werbung unzulässig sei, dann vermag die Kritik tatsächlich teilweise zu überzeugen. Auch in anderen Ländern kann aber ein Verbot möglich sein, notwendig ist dann nur eine entsprechende Begründung. Besser wäre es hier, nicht allein auf die deutsche Geschichte abzustellen, sondern eben auf die Unvergleichbarkeit des Holocaust in seiner schieren Dimension und Ausführung. Gerade unter diesem Gesichtspunkt kann ein Verbot auch in anderen Staaten ausgesprochen werden. Dies hätte natürlich vom Gericht noch klarer und deutlicher gemacht werden müssen.
Im Ergebnis überzeugt das Urteil auch hier – in der Begründung bleibt es ungenau. Jedenfalls ist es aber sowohl hinsichtlich der personellen als auch hinsichtlich der territorialen Reichweite nicht so streng zu lesen, wie es die Pressemitteilung verheißt.
IV. Fazit/Examensrelevanz
Das Urteil ist ein absolutes Muss, auch weil damit das vorhergehende Urteil des BVerfG „wiederaufgewärmt“ werden kann. Das Urteil sollte in den Grundzügen bekannt sein. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Holocaustüberlebenden und allgemein Juden in Deutschland lässt eine Notendifferenzierung im oberen Bereich zu. Wichtig ist, zu wissen, dass bei einem Verstoß gegen die Menschenwürde nie ein Berufen auf die Meinungsfreiheit möglich ist. In der Klausur ist dann eine genaue Prüfung der Menschenwürde zu fordern, bei der insbesondere die Objektsformel maßgeblich ist. Zudem muss auch der Bedeutungsgehalt der Meinungskundgabe ermittelt werden.
Zusätzlich könnte auch die Frage nach der Bedeutung einer EGMR-Entscheidung für das nationale Recht gestellt werden. Dieses Problem haben wir in unserem Beitrag zur Jagdgenossenschaft ausführlich behandelt.