Im Folgenden erhaltet ihr ein Gedächtnisprotokoll der im November 2013 gelaufenen zweiten Staatsexamensklausur im öffentlichen Recht in Berlin und Brandenburg. Vielen Dank hierfür an Paulina. Ergänzungen und Korrekturanmerkungen sind wie immer gerne gesehen.
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Sachverhalt
Im Rat der EU steht die abschließende Beschlussfassung über eine Richtlinie (Art. 288 III AEUV) zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Wasserressourcen und zum Schutz des Wassers vor Schadstoffen, die von industriellen Anlagen ausgehen, an. Die Annahme der Richtlinie setzt eine einstimmige Entscheidung im Rat der EU voraus (vgl. Art. 192 II b) 2. Spiegelstrich AEUV). Der Richtlinienentwurf enthält inhaltlich materielle Zielvorgaben, aber keine Regelungen für das Verwaltungsverfahren. Die Bundesregierung, die der Richtlinie zustimmen will, hat den Bundestag und den Bundesrat gemäß Art. 23 GG und den dazu erlassenen Zusammenarbeitsgesetzen über die Vorhaben und den jeweils aktuellen Stand der Verhandlungen in den europäischen Organen unterrichtet.
Während sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme mit zwei Dritteln seiner Stimmen gegen eine Annahme der Richtlinie ausspricht, votiert der aus 600 Abgeordneten zusammengesetzte Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition und gegen die Stimmen der Opposition für eine entsprechende Zustimmung.
In der entscheidenden Abstimmung im Rat der EU über die Richtlinie enthält sich der zuständige Bundesumweltminister A der Stimme. Da alle anderen Mitgliedstaaten der Richtlinie zustimmen und Stimmenthaltung nach Art. 238 IV AEUV dem Zustandekommen von Beschlüssen, zu denen Einstimmigkeit erforderlich ist, nicht entgegensteht, ist die Richtlinie damit verabschiedet.
Die Bundesregierung lässt dazu verlautbaren, sie habe der Richtlinie zwar nicht zugestimmt, wäre aber in der EU in eine sehr schwierige Situation geraten, wenn sie die Richtlinie, die alle anderen Mitgliedstaaten wünschten und die sie selber mit angeregt habe, am Ende durch Ablehnung verhindert hätte. Außerdem sei nach den Zusammenarbeitsgesetzen die Stellungnahme des Bundestages den Verhandlungen der Bundesregierung „zugrunde zu legen“, während die Stellungnahme des Bundesrates nur zu „berücksichtigen sei“. Die Stellungnahme des Bundesrates habe insofern „Vorrang“. Insofern sei ausreichend, dass die Stellungnahme des Bundesrates kritisch gewürdigt worden sei. An der Geltung der Richtlinie sei nun auch nichts mehr zu ändern.
Fragen:
1. War die Stimmenthaltung des Bundesumweltministers A im Rat der EU rechtmäßig?
2. Wie kann der Bundesrat seine Behauptung, die Bundesregierung habe mit ihrer Enthaltung gegen Art. 23 GG verstoßen, prozessual geltend machen? Wäre ein entsprechender Antrag zum Bundesverfassungsgericht zulässig?
3. Welche Bedeutung hat das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union bei einer gerichtlichen Entscheidung nach Frage 2?
Abwandlung 1:
Die im Ausgangsfall beschriebene Richtlinie enthält keine Regelungen zur Bewirtschaftung der Wasserressourcen, so dass sie im Rat der EU zur Annahme keiner Einstimmigkeit sondern nur einer qualifizierten Mehrheit bedarf (vgl. Art. 192 II 2b) 2. Spiegelstrich AEUV). Der Richtlinienentwurf sieht inhaltlich detaillierte Vorschriften für das Genehmigungsverfahren von industriellen Anlagen im Hinblick auf Schadstoffeinleitungen in Gewässern vor. Diese Regelungen umfassen über konkrete Grenzwerte hinaus auch Vorgaben für das mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren.
Der Bundestag spricht sich mehrheitlich für eine Annahme aus. Der Bundesrat lehnt die Annahme der Richtlinie ab. Auch nach erneuter Beratung der Bundesregierung mit Vertretern der Länder beharrt eine knappe Mehrheit im Bundesrat auf die Ablehnung. Zur Begründung wird angeführt, dass die Richtlinie detaillierte Vorschriften für das Verwaltungsverfahren der Länder enthalte und insoweit massiv in deren Rechte eingreife.
Frage:
Steht dem Bundesrat eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung, wenn die Abstimmung im Rat der EU unmittelbar bevorsteht, und hätte ein entsprechender Antrag Aussicht auf Erfolg?
Abwandlung 2:
Der Bundesrat und die in der Opposition befindliche Fraktion der X-Partei, die 151 Abgeordnetenmandate im Bundestag innehat, gelangen zu der Auffassung, dass die in Fallvariante 1 genannte Richtlinie, die inzwischen beschlossen ist, dem europarechtlichen Subsidiaritätsprinzip (vgl. Art. 5 und 12 EUV) widerspricht und möchten deshalb vor dem EuGH Klage erheben.
Bundesumweltminister A ist erstaunt: Über Klagen zum EuGH entscheide im Rahmen der sog. Auswärtigen Gewalt doch allein die Bundesregierung, nicht aber Bundesrat oder Bundestag und schon gar nicht die Opposition. Im Übrigen müsste sich die Bundesregierung in Widerspruch zu ihrem Stimmverhalten im Rat setzen. Das könne aber der Regierung doch nicht zugemutet werden.
Frage:
Können der Bundesrat und die Oppositionsfraktion der X-Partei im Bundestag gegen den Willen der Bundesregierung Klage vor dem EuGH erheben?
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