Der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute (Urteil vom 17. Juni 2014 – VI ZR 281/13) in einer viel beachteten Entscheidung erstmals höchstrichterlich zu der Frage des Mitverschuldens wegen Nichttragens eines Fahrradhelms Stellung genommen.
Im Vorfeld hatten sich Instanzgerichte unterschiedlich zu der Frage geäußert. Besonders hervorzuheben sind zwei aktuelle Entscheidungen aus diesem bzw. dem vergangenen Jahr. Dabei handelt es sich einmal um die Entscheidungen der Vorinstanz, die heute Gegenstand der Revision vor dem Bundesgerichtshof war. Das OLG Schleswig (Urteil v. 5.6.2013 – 7 U 11/12) hatte hier eine Obliegenheitsverletzung des in einen Unfall verwickelten Radfahrers bejaht und eine Anspruchsminderung nach § 254 Abs. 2 BGB angenommen. Die gegenteilige Ansicht (kein Mitverschulden) vertrat jüngst mit ausführlicher Begründung das OLG Celle (Urteil v. 12.02.2014, 14 U 113/13) (wir hatten berichtet).
Während die Entscheidung des OLG Celle auf der Linie der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung liegt, die ein Mitverschulden wegen Nichttragens eines Fahrradhelms mangels einer entsprechenden gesetzlichen Verpflichtung in der Regel ablehnt, ein solches vielmehr lediglich ausnahmsweise unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls bei einer besonders risikobehafteten Fahrweise des Radfahrers in Betracht ziehen will, vertrat das OLG Schleswig mit folgenden wesentlichen Argumenten eine abweichende Ansicht.
- Radfahrer sind heutzutage auch im täglichen Straßenverkehr wegen der Zunahme der Verkehrsdichte vielfältigen Gefahren ausgesetzt.
- Die von der bisherigen Rechtsprechung vorgenommene Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Radfahrern – nämlich denjenigen das Fahrrad lediglich als Fortbewegungsmittel nutzenden einerseits sowie den sportlich ambitionierten Fahrern andererseits – bereitet Abgrenzungsschwierigkeiten.
- Das Tragen von Sturzhelmen bei Fahrradfahrern ist heutzutage bereits mehr verbreitet als noch vor einigen Jahren.
- Es besteht eine Parallele zu sportlichen Betätigungen wie Reiten oder Skifahren, bei denen eine Helmpflicht besteht.
Der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in seiner heutigen Entscheidung die Argumente des OLG Schleswig verworfen und sich der Auffassung des OLG Celle angeschlossen. Damit kann höchstrichterlich als geklärt gelten, dass Radfahrer grds. kein Mitverschulden trifft, wenn sie ohne Schutzhelm in einen Verkehrsunfall verwickelt und dabei geschädigt werden.
In der Pressemitteilung des BGH vom heutigen Tage heisst es:
Das Nichttragen eines Fahrradhelms führt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens. Für Radfahrer ist das Tragen eines Schutzhelms nicht vorgeschrieben. Zwar kann einem Geschädigten auch ohne einen Verstoß gegen Vorschriften haftungsrechtlich ein Mitverschulden anzulasten sein, wenn er diejenige Sorgfalt außer acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Dies wäre hier zu bejahen, wenn das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich und zumutbar gewesen wäre. Ein solches Verkehrsbewusstsein hat es jedoch zum Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin noch nicht gegeben. So trugen nach repräsentativen Verkehrsbeobachtungen der Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 2011 innerorts nur elf Prozent der Fahrradfahrer einen Schutzhelm.
Offen bleibt aber jedenfalls eine Frage:
Inwieweit in Fällen sportlicher Betätigung des Radfahrers das Nichttragen eines Schutzhelms ein Mitverschulden begründen kann, war nicht zu entscheiden.
Fazit
Wie sich schon der Pressemitteilung entnehmen lässt, stellt der BGH (neben der in Puncto Helmpflicht weiterhin fehlenden gesetzlichen Regelung) im Wesentlichen auf das vorherrschende Verkehrsbewusstsein ab. Im Jahr 2011 trugen innerorts nur etwa elf Prozent der Fahrradfahrer einen Schutzhelm. Von einem allgemeinen Verkehrsbewusstsein dahingehend, dass das Tragen eines Schutzhelms zur Vermeidung eines Schadens erforderlich ist, kann danach wohl (noch) nicht die Rede sein. Offen bleibt die Behandlung von Sportradfahrern, die aber augenscheinlich auch einem anderen Risikoprofil ausgesetzt sein dürften. Die Kenntnis der Problematik und der sichere Umgang mit den Argumenten ist jedem Examenskandidaten zu empfehlen. Bis zur Veröffentlichung der Urteilsgründe empfiehlt sich dringend die Lektüre der aktuellen Entscheidung des OLG Celle (hier), die sich mit den Argumenten des OLG Schleswig sehr detailliert auseinandersetzt.