Wir freuen uns, folgenden Gastbeitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Ich selber fahre einen Touran und bin sehr zufrieden. Andere waren es nicht. Der BGH hatte mit Urteil vom 20. Juli 2021 – VI ZR 575/20 über die Klage einer ehemaligen Touran-Eigentümerin zu entscheiden, die ihren Wagen im Juni 2014 erworben hatte. Es war wie bei jedem Diesel-Skandal-Fall: Der Motor hatte eine Steuerungssoftware, die erkannte, ob sich das Fahrzeug auf einem Prüfstand oder im normalen Straßenverkehr befand. Im Prüfstandsbetrieb stieß das Fahrzeug weniger Stickoxid aus als im Betrieb auf der Straße. Während des laufenden Rechtsstreits veräußerte die Klägerin das Fahrzeug zu einem marktgerechten Preis. Nun war zwischen den Parteien streitig, ob der Klägerin trotz des Weiterverkaufs des VW Touran ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte in Höhe des gezahlten Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung für die Fahrzeugnutzung und abzüglich des erzielten Verkaufserlöses zusteht.
Der BGH bejahte dies und hat angenommen, dass – insoweit nichts Neues – die Beklagte die Klägerin durch das Inverkehrbringen eines Fahrzeugs mit Abschalteinrichtung (Prüfstanderkennungssoftware) vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat und ihr insoweit grundsätzlich nach § 826 BGB ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe des gezahlten Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs zusteht. Neu aber war die Feststellung, dass der Weiterverkauf des Fahrzeugs diesen Schadensersatzanspruch nicht entfallen ließ. Durch den Weiterverkauf trat der marktgerechte Verkaufserlös an die Stelle des im Wege der Vorteilsausgleichung herauszugebenden und zu übereignenden Fahrzeugs und war vom Schadensersatzanspruch abzuziehen.
Die Entscheidung ist nachvollziehbar (die Vorinstanzen hatten ebenso entschieden). Die Grundsätze des Vorteilsausgleichs gelten auch für einen Anspruch aus § 826 BGB. Andernfalls würde der Ersatzanspruch in die Nähe eines dem deutschen Recht fremden Strafschadensersatzes gerückt. Dem steht auch das unionsrechtliche Effizienzgebot nicht entgegen (ausführlich BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Tz. 66 ff und Tz. 76; BGH, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 397/19, NJW 2020, 2806 Tz. 16). Ein Vorteilsausgleich ist vorzunehmen, wenn zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Vorteil ein adäquater Kausalzusammenhang besteht und die Anrechnung des Vorteils dem Zweck des Schadensersatzes entspricht, d.h. den Geschädigten nicht unzumutbar belastet und den Schädiger nicht unbillig begünstigt (BGH, Urt. v. 18.10.2018 – III ZR 497/16, NJW 2019, 215 Tz. 17; Urt. v. 15.07.2017 – III ZR 336/08, NZG 2010, 1029 Tz. 35). Vorliegend besteht die sittenwidrige Schädigung der Klägerin im Abschluss des so nicht gewollten Kaufvertrags über ein mangelhaftes Fahrzeug. Eigentum und Besitz an dem Fahrzeug hatte die Klägerin infolge dieses Vertragsschlusses erhalten. Nach bestätigter Rechtsprechung hat der Kläger, wenn er als Schadenersatz die Erstattung des Kaufpreises fordert, den adäquat kausal erlangten Vorteil, Eigentum und Besitz des Fahrzeugs, an die Beklagte herauszugeben (s. z.B. BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Tz. 12). Denn die durch das Prinzip der Gewinnabwehr gebotene Vorteilsausgleichung verbietet, dass der Geschädigte durch den Schadensersatz besser steht als durch die Totalreparation oder -kompensation. Dies droht aber auch dann nicht, wenn nun statt des Wagens das commodum ex negatione cum re herausgegeben wird. Auch andere Gerichte hatten schon so entschieden (OLG München, Urt v. 15.10.2020 – 23 U 4248/19, BeckRS 2020, 27196) und hier insbesondere auf Kausalität abgestellt. Der erlangte Verkaufspreis steht noch immer in adäquat kausalem Zusammenhang zur sittenwidrigen Schädigung. Dass ein Käufer, der mit einem für ihn nachteiligen Vertrag belastet wird, das Fahrzeug weiterverkauft und mithin anstelle des Fahrzeugs nunmehr den Verkaufspreis als Vorteil hat, erscheint weder fernliegend noch außerhalb eines adäquaten Kausalzusammenhangs. Die Anrechnung des erzielten Verkaufspreises ist weder die eine noch die andere Seite dadurch unbillig begünstigt. Der BGH hat nach falsche Anlageberatung zwischenzeitlich verkauften Wertpapieren schon entsprechend entscheiden: „Zwar entfällt ein bei der Schadensberechnung zu berücksichtigender Vorteil nicht dadurch, dass der Geschädigte auf Grund eines vom Schädiger nicht herausgeforderten Willensentschlusses den Vorteil ganz oder teilweise zunichtemacht (BGH, Urt. v. 10.10.1996 – IX ZR 294/95, NJW 1997, 250). Die Kl. hat jedoch mit dem Verkauf der Wertpapiere den Vorteil aus deren Erwerb nicht aufgegeben. Vielmehr hat sich dieser in dem Erlös aus dem Verkauf der Wertpapiere fortgesetzt und ist nunmehr statt durch Herausgabe der Papiere durch Verrechnung des Erlöses auszugleichen“ (BGH, Urt. v. 13.11.2012 – XI ZR 334/11, NJW 2013, 450). Die Entscheidung konnte also nicht wirklich überraschen.
Vorteilsausgleichung ist ein spannendes Thema. Wer da ausführlich nachlesen will, der mag MüKo-Oetker, § 249 BGB Rn. 228 ff. anschauen oder gar in meiner Habilitationsschrift schmökern: Thüsing, Wertende Schadensberechnung, 2001, dort insb. S. 441. Spannend wäre die Frage gewesen (vielleicht kann Sie ihnen im Examen gestellt werden), wenn die Klägerin im Weiterverkauf des Wagens ein besonders gutes oder besonders schlechtes Geschäft gemacht hätte, also nicht den Markpreis, sondern entsprechend mehr oder weniger realisiert hätte. Ginge dies zu Gunsten oder Lasten der Klägerin oder der Beklagten?
Schlagwortarchiv für: § 826 BGB
Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Ansgar Kalle veröffentlichen zu können. Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Lehrstuhl Prof. Dr. Stefan Greiner.
Die hier zu besprechende Entscheidung des BGH (Urt. v. 30. Juli 2020 – Az. VI ZR 5/20 = NJW 2020, 2798) stellt die bislang jüngste Entscheidung des BGH zum Abgasskandal dar. Rechtsfragen des Abgasskandals werden seit Jahren intensiv erörtert und berühren mit dem Kauf- und dem Deliktsrecht Kernthemen des Zivilrechts. Dies macht das gesamte Thema äußerst examensrelevant.
Die hier zu erörternde Entscheidung rückt mit § 823 Abs. 2 BGB und § 826 BGB zwei examensrelevante Normen in den Vordergrund, die wegen ihrer Wertungsoffenheit viel Streit- und Argumentationspotential bergen. Sie enthält viel Lehrreiches zur Prüfung dieser Paragraphen.
1. Sachverhalt (verkürzt und vereinfacht)
Der Kläger erwarb im August 2016 einen gebrauchten VW Touran von der S-GmbH, die ein Autohaus betrieb. Der Dieselmotor des Fahrzeugs, Typ EA189, war von der beklagten VW-AG mit einer illegalen technischen Vorrichtung ausgestattet worden, die den Motor speziell für Messungen auf dem Prüfstand in einen besonders schadstoffarmen Modus schaltete. Nur in diesem Modus, also nicht im alltäglichen Fahrbetrieb, hielt das Fahrzeug die Grenzwerte der Euro 5-Norm ein.
Bereits im September 2015 hatte die Beklagte Mitteilungen veröffentlicht, in denen sie eingestand, dass der Motor des Typs EA189 mit der beschriebenen Vorrichtung ausgestattet war und dass man sich bemüht, den Vorfall in Kooperation mit den Behörden rasch aufzuklären. Im Oktober 2015 hatte das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Beklagte dazu aufgefordert, bei den Fahrzeugen, die mit dem betroffenen Motor ausgestattet waren, in Zukunft einen rechtmäßigen Betrieb zu gewährleisten. Zu diesem Zweck entwickelte die VW-AG ein Software-Update, das die Vorrichtung deaktivierte. Dieses spielte sie u.a. beim Touran des Klägers auf.
Der Kläger begehrt nun von der VW-AG Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises zzgl. Zinszahlung Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs.
2. Anspruch auf Schadensersatz iHd. Kaufpreises aus § 823 Abs. 2 BGB wegen Schutzgesetzverletzung
Der erste Schwerpunkt des Falls liegt auf einem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB. Diese Vorschrift knüpft an den Verstoß gegen ein Schutzgesetz an. Der BGH zog drei Schutzgesetze in Betracht.
a. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV
Zunächst stellte das Gericht auf zwei Normen aus der Kraftfahrzeuggenehmigungsverordnung ab: §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV.
aa. Vorwort
In einer Klausur wird keinesfalls erwartet, dass diese exotischen Vorschriften bekannt sind. Sie wären abgedruckt, damit sie in der Klausur (erstmals) gelesen und ausgelegt werden (Beispiel bei Pohlmann/Scholz JA 2020, 574).
Zusammengefasst ordnen §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV an, dass ein Fahrzeug nur dann veräußert werden darf, wenn bescheinigt ist, dass es mit allen einschlägigen Vorschriften übereinstimmt. Zu den einschlägigen Vorschriften zählt insbesondere Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007, wonach Kraftfahrzeuge nicht mit Abschalteinrichtungen ausgestattet werden dürfen, die Emissionskontrollsysteme täuschen.
Die Prüfung des § 823 Abs. 2 BGB wirft regelmäßig drei Fragen auf, die in einer Klausur in aller Regel nacheinander gutachterlich beantwortet werden sollten.
- Liegt eine Schutznorm vor?
- Wurde die Schutznorm verletzt?
- Hat der Anspruchssteller einen Schaden erlitten, der kausal auf die Schutzgesetzverletzung zurückzuführen ist?
bb. Kausaler Schaden
Der BGH ging nicht auf die Fragen Nr. 1 und 2 ein, sondern wandte sich in seiner Entscheidung direkt der Frage Nr. 3 zu.
(1) Schaden
Um diese zu beantworten, ist zunächst zu prüfen, ob ein Schaden vorliegt. Der Kläger macht als Schaden den Abschluss des Kaufvertrags geltend. Er rügt also die Verletzung seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in ihrer speziellen Ausprägung als wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht.
Als Schaden kommt jede unfreiwillige Einbuße an schadensersatzrechtlich geschützten Rechten, Gütern und Interessen in Frage. Ob eine Einbuße vorliegt, ist im Ausgangspunkt nach der Differenzhypothese zu ermitteln. Es ist also die gegenwärtige Vermögenslage mit der zu vergleichen, die ohne das schädigende Ereignis bestünde. Der Kläger müsste also darlegen, dass er den Kaufvertrag über den Touran nicht abgeschlossen hätte, wenn es nicht zur Schutzgesetzverletzung gekommen wäre.
Ob dies gelang, ließ der BGH offen, weil es aus seiner Sicht hierauf nicht ankam.
(2) Kausalität, insb. Schutzzweck der Norm
Stattdessen befasste sich das Gericht ausführlich mit dem Schutzzweck der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV. Beim Schutzzweck der Norm liegt häufig der Schwerpunkt von Klausuren zu § 823 Abs. 2 BGB. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB kommt nur dann in Frage, wenn das verletzte Schutzgesetz genau vor der Art von Schaden schützen will, die der Anspruchssteller geltend macht. Um dies zu klären, ist der Zweck der Schutznorm durch Auslegung präzise herauszuarbeiten.
Der BGH ging davon aus, dass §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV keinen Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts bezweckten. Hierfür fehlte es an Anhaltspunkten im Gesetz. Dementsprechend hielt das Gericht den geltend gemachten Schaden für nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst. Dieses Ergebnis hielt das Gericht für so eindeutig, dass es nach der Acte-claire-Doktrin auf eine Vorlage an den EuGH verzichtete. Zur Begründung verwies das Gericht auf seine vorangegangene Diesel-Entscheidung aus Mai 2020. Bereits dort hatte es den Anspruch am Schutzzweck §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV scheitern lassen (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – Az. VI ZR 252/19 Rn. 76; s. auch unsere Urteilsbesprechung hier ). Leider hatte der BGH auch dort seine Sichtweise nicht näher erläutert.
Dies enttäuscht ein wenig, da in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum Gegenteiliges ausführlich begründet vertreten wird: Zum einen solle die von §§ 6, 27 Abs. 1 EG-FGV geforderte Übereinstimmungsbescheinigung dem Käufer versichern, dass das Fahrzeug betrieben werden darf. Sie habe den Charakter einer Garantieerklärung. Daher schütze das Verbot des Handelns mit Fahrzeugen, denen diese Bescheinigung fehlt, Käufer davor, ein Fahrzeug zu erwerben, das nicht betrieben werden darf (LG Ingolstadt, Urt. v. 15. Mai 2018 – Az. 42 O 1199/17 = BeckRS 2018, 33798 Rn. 25-37; Artz/Harke NJW 2017, 3409, 3412 f.). Zum anderen sei wegen des Effektivitätsgebots (effet utile) und der großen Bedeutung der Übereinstimmungsbescheinigung für das europarechtlich geprägte Typgenehmigungsverfahren ein Individualschutz durch § 27 Abs. 1 EG-FGV gar nicht erforderlich. Nach den Grundsätzen der EuGH-Entscheidung in der Rs. Muñoz (EuGH, Urt. v. 17. September 2002 – Rs. C-253/00 = Slg. I 2002, 7289) müsse es für den Anspruch genügen, dass das Unionsrecht eine privatrechtliche Sanktion gebietet (Harke VuR 2017, 83, 84 f.).
Für die Sichtweise des BGH lässt sich jedoch anführen, dass es in der Tat schwer ist, dem § 27 Abs. 1 EG-FGV konkrete Anhaltspunkte für einen Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Käufers zu entnehmen. Das EG-FGV regelt das öffentlich-rechtliche Typengenehmigungsverfahren, in das der Käufer nicht eingebunden ist. Auch hätte die beschriebene Deutung der Rs. Muñoz einen beachtlichen Eingriff in die Dogmatik des § 823 Abs. 2 BGB zur Folge, dessen Notwendigkeit fraglich ist (ablehnend auch Armbrüster ZIP 2019, 837, 839 f.; Lorenz NJW 2020, 1924; Riehm DAR 2019, 247, 248 f.; skeptisch ebenfalls Gutzeit JuS 2019, 649, 656).
Folgt man an dieser Stelle dem BGH, scheiden §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV als Schutzgesetze aus.
b. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007
Im Anschluss wandte sich der BGH der Frage zu, ob Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 als Schutzgesetz dem Kläger zu einem Anspruch verhelfen konnte.
Auch dies verneinte er, was angesichts der Bewertung der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV konsequent ist. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass sie das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht des Käufers schützen will. Ausweislich ihrer Erwägungsgründe diene die Richtlinie dem Umwelt- und Gesundheitsschutz. Das Effektivitätsgebot ändere hieran nichts. Laut der Rs. Muñoz könne dieses zwar gebieten, dass die Verletzung von Unionsrecht in einem Zivilprozess geltend gemacht werden kann, allerdings müsse der Betroffene hierfür durch die Norm geschützt werden. Die Rs Muñoz zwinge also nicht dazu, auf den Individualschutz des Schutzgesetzes zu verzichten. Da die VO keinen Individualschutz bezwecke, könne deren Verletzung daher keinen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen.
Schließt man sich dem an, eröffnet auch Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 dem Kläger keinen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB.
c. Zu § 263 Abs. 1 StGB, § 31 BGB
aa. Schwerpunkt: Verletzung des Schutzgesetzes
Im Anschluss stellte der BGH auf § 263 StGB als Schutzgesetz ab. Für § 263 Abs. 1 StGB ist anerkannt, dass es sich um ein Schutzgesetz handelt. Auch war der geltend gemachte Schaden zweifellos vom Schutzzweck der Norm umfasst. Daher kam es hier entscheidend darauf an, ob der Betrugstatbestand erfüllt war.
An dieser Stelle wäre in einer Klausur eine vollständige, gutachterliche Inzidentprüfung des § 263 Abs. 1 StGB geboten.
bb. Objektiver Tatbestand
Zu Täuschung und Irrtum gibt der Sachverhalt keine Informationen. Es sei an dieser Stelle unterstellt, dass beide Merkmale vorliegen. In einer Klausur sollte man bei diesen Merkmalen insbesondere an die Problembereiche Täuschung durch Unterlassen, Aufklärungspflichten und sachgedankliches Mitbewusstsein denken (eingehend Berg Jura 2020, 239, 240 f.; Isfen JA 2016, 1, 2 f.).
Die notwendige Vermögensverfügung nahm der Kläger dadurch vor, dass er mit der S-GmbH einen Kaufvertrag abschloss und sich dadurch zur Kaufpreiszahlung verpflichtete (Eingehungsbetrug).
Fraglich ist der Vermögensschaden. Ein solcher liegt vor, wenn die Verfügung nicht durch eine Gegenleistung kompensiert wird. Dies ist im Ausgangspunkt durch eine Saldierung der wechselseitigen Leistungen zu beurteilen. Als Kompensation kommt der Anspruch des Käufers auf Verschaffung des Fahrzeugs (§ 433 I 1 BGB) in Frage. Dieser Anspruch glich die Vermögensverfügung aus, wenn die Kaufsache ihr Geld wert war. Ein Vermögensschaden kann also nicht bereits darin erblickt werden, dass der Käufer einen Vertrag abgeschlossen hat, den er ohne Täuschung nicht abgeschlossen hätte. Das Merkmal „Vermögensschaden“ ist wegen des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots enger auszulegen als der zivilrechtliche Schadensbegriff. An dieser Stelle wäre etwa zu klären, ob das Update zu einer Wertminderung führte oder ob ein Fall des subjektiven Schadenseinschlags vorlag. Der BGH ließ offen, ob ein Schaden vorlag, da er jedenfalls den subjektiven Tatbestand nicht für erfüllt hielt.
cc. Subjektiver Tatbestand
Im subjektiven Tatbestand ist das Merkmal der Bereicherungsabsicht problematisch. Diese liegt vor, wenn der Täter für sich selbst oder einen Dritten nach einem Vermögensvorteil strebt, auf den er keinen Anspruch hat und der mit dem Vermögensschaden stoffgleich ist. Da die Beklagte keinen Bezug zum Kaufvertrag zwischen dem Kläger und der S-GmbH hatte, kommt nur eine Drittbereicherungsabsicht zugunsten der S-GmbH in Frage.
Zweifelhaft ist, ob die Beklagte nach einem stoffgleichen Vorteil der S-GmbH strebte. Stoffgleichheit liegt vor, wenn der Vermögensschaden des Opfers die unmittelbare Kehrseite des angestrebten Vermögensvorteils ist.
Aus Sicht des BGH fehlte es hieran: Die Beklagte wollte durch ihre Manipulation ihre Fahrzeuge günstiger produzieren und dadurch ihren Umsatz steigern. Dieses Ziel wurde bereits durch den Verkauf als Neuwagen erreicht. Ein späterer Weiterverkauf der Wagen als Gebrauchtfahrzeuge war der Beklagten daher egal. Deshalb lag keine Bereicherungsabsicht vor.
dd. Ergebnis
Gegen § 263 Abs. 1 StGB wurde nicht verstoßen. Daher fehlt es bereits an einer Schutzgesetzverletzung.
d. Ergebnis
Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB bestehen nicht.
3. § 826 BGB
Schließlich setzte sich der BGH mit einem Anspruch aus § 826 BGB auseinander. § 826 BGB erfordert eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt meistens beim Merkmal der Sittenwidrigkeit. So verhält es sich auch im Fall: Der BGH befasste sich im Wesentlichen damit, ob das oben beschriebene Verhalten der beklagten Herstellerin sittenwidrig war.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, das sich also durch eine besondere Verwerflichkeit auszeichnet. Um dies zu beurteilen, ist das gesamte Verhalten des Schädigers zwischen der ersten Schädigungshandlung und dem Schadenseintritt in den Blick zu nehmen.
a. Sittenwidrigkeit bei Kauf vor Bekanntwerden der Manipulation
Der BGH hatte bereits im Mai entschieden (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – Az. VI ZR 252/19 = NJW 2020, 1962 Rn. 13-28), dass das Inverkehrbringen der Fahrzeuge mit einer illegalen Abschalteinrichtung zur Manipulation von Abgastests sittenwidrig ist. Der Hersteller habe zum Zweck der Gewinnerzielung seine arglosen Kunden in großem Umfang vorsätzlich, systematisch und langjährig darüber getäuscht, dass die Fahrzeuge die gesetzlichen Vorgaben einhielten. Dabei habe er die Gefahr in Kauf genommen, dass den Kunden der Betrieb der Fahrzeuge untersagt wird.
b. Keine Sittenwidrigkeit bei Kauf nach Bekanntwerden der Manipulation
Diese Bewertung beschränkte der BGH nun im Juli jedoch auf Kunden, die ihre Fahrzeuge vor Bekanntwerden der Manipulationen gekauft haben. Bei Kunden, die ihre Wagen erst später erworben haben, sei eine abweichende Beurteilung geboten, weil bei diesen ein größerer Zeitraum in den Blick genommen werden könne.
Durch die Offenlegung des Vorfalls habe die Beklagte zum einen das Vertrauen der Kunden in die Vorschriftsmäßigkeit der Fahrzeuge zerstört, also deren Arglosigkeit beseitigt. Zum anderen habe sie es aufgegeben, die Manipulation zu verschleiern. Stattdessen habe sie sich – wenn auch nur begrenzt freiwillig – um deren Aufklärung bemüht. Zudem habe sie eine Lösung entwickelt, um in Zukunft einen rechtmäßigen Betrieb der Fahrzeuge zu ermöglichen, um also die Folgen der Manipulation zu minimieren.
Wegen dieser Umstände sei das Verhalten der Beklagten insgesamt als nicht mehr sittenwidrig zu bewerten.
c. Zusammenfassung
Kunden, die ihr manipuliertes Fahrzeug vor Bekanntwerden der Manipulation erworben haben, wurden hierzu durch arglistige Täuschung, also durch ein sittenwidriges Verhalten der Herstellerin bewegt. Sittenwidrigkeit liegt vor, weil die Aufklärungs- und Verbesserungsbemühungen der Herstellerin für diese Kunden erst nach Schadenseintritt (Vertragsschluss) kamen, also zu spät, um im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung berücksichtigt zu werden. Deshalb können diese Kunden über § 826 BGB die Rückabwicklung ihrer Verträge erwirken.
Kunden, die ihr Fahrzeug demgegenüber erst nach Bekanntwerden der Manipulation erworben haben, haben keine Ansprüche aus § 826 BGB, weil hier auch die Aufklärungs- und Reparaturbemühungen der Herstellerin zu berücksichtigen sind, die den Sittenwidrigkeitsvorwurf insgesamt entfallen lassen.
d. Kritik und Alternativlösung
Es ist gut nachvollziehbar, dass der BGH nach dem Erwerbszeitpunkt unterscheidet. Jedoch tut er dies an einer fragwürdigen Stelle. Aus seiner Sicht hängt es vom Zeitpunkt des Kaufs ab, ob ein und dasselbe Verhalten, das Täuschen über die Manipulation, sittenwidrig ist oder nicht. Dies ist widersprüchlich und überspannt die bei § 826 BGB vorzunehmende Gesamtbetrachtung aller Fallumstände.
Treffender wäre eine Lösung über die Kausalität: Kauft jemand in Kenntnis der Manipulationsfälle ein Fahrzeug, kann er keinen Anspruch auf § 826 BGB darauf stützen, dass er das Fahrzeug gekauft hat, weil er auf das Nichtvorliegen einer Manipulation vertraut hat. Es fehlt also nicht an der Sittenwidrigkeit, sondern an der Kausalität zwischen Täuschung und Schaden (zutr. Arnold JuS 2020, 1076; Heese NJW 2019, 257, 262; Petzold NJW 2020, 1326, 1327).
4. Zusammenfassung
Wer einen Gebrauchtwagen nach Bekanntwerden der Dieselmanipulation kauft, kann hieraus keine Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB ableiten.
Bei § 823 Abs. 2 sieht der BGH das Problem bei den Schutzgesetzen: Weder §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV noch Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 schützen das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht. § 263 Abs. 1 StGB scheitere an der Stoffgleichheit. Bei § 826 BGB fehle es an der Sittenwidrigkeit, weil beim Kauf erst nach Bekanntwerden der Manipulation die Aufklärungs- und Reparaturbemühungen zugunsten der Herstellerin zu würdigen seien.
Auch mehr als drei Jahre nach Aufdeckung des Abgasskandals beschäftigt dieser sowohl Öffentlichkeit als auch Judikatur und ist daher weiterhin von enormer Prüfungsrelevanz. Bislang standen vor allem vertragliche Ansprüche gegen Händler im Fokus (siehe unsere Artikel hier und hier). In der Frage, ob auch deliktische Ansprüche gegen den Hersteller bestehen, waren die verschiedenen Landgerichte uneins (bejahend etwa LG Stuttgart v. 17.1.2019 – 23 O 180/18; LG Frankfurt v. 29.4.2019 – 2-07 O 350/18; ablehnend LG Braunschweig v. 29.12.2016 – 1 O 2084/15). Nachdem die Vorinstanz die Klage noch abwies, bejahte nun das OLG Koblenz in seinem Urteil vom 12.6.2019 (Az.: 5 U 1318/18) einen Anspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung gegen den Hersteller. Es handelt sich um die erste OLG-Entscheidung gegen einen Hersteller im Abgasskandal. Diese Entscheidung dürfte juristischen Prüfern nicht entgangen sein und sollte daher jedem Examenskandidat bekannt sein.
I) Sachverhalt
Der Kläger kaufte einen PKW als Gebrauchtfahrzeug. Der Wagen enthielt einen Dieselmotor mit unzulässiger Abschaltvorrichtung, die dazu führte, dass bei Abgastest stets bessere Ergebnisse erzielt würden, als dies im alltäglichen Fahrbetrieb möglich gewesen wäre. Daher verlangte er vom Hersteller des PKW und Motors die Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Denn er habe geglaubt umweltbewusst zu handeln und hätte den Kauf nicht getätigt, hätte er Kenntnis von den wahren Abgaswerten gehabt.
II) Vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung, § 826 BGB
Entgegen der Vorinstanz bejahte das OLG Koblenz einen Anspruch aus § 826 BGB gegen den Hersteller. Dazu bedarf es einer sittenwidrigen Schädigungshandlung, eines Schadens, der kausal auf dieser Handlung beruht und Vorsatz hinsichtlich des Schadens sowie den die Sittenwidrigkeit begründenden Umständen.
1) Sittenwidrige Schädigungshandlung
Die Schädigungshandlung besteht in dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs unter bewusstem Verschweigen der gesetzwidrigen Softwareprogrammierung, was mit einer konkludenten Täuschung über die uneingeschränkte Zulässigkeit des Fahrzeugs im Straßenverkehr einhergeht. Die Sittenwidrigkeit begründet sich daraus, dass der Hersteller allein zum Zweck der Kostensenkung und möglicherweise der Umgehung von technischen Problemen bei der Entwicklung eines rechtlich und technisch einwandfreien Motors systematisch sowohl Aufsichtsbehörden als auch Verbraucher über die zulassungsrelevanten Abgaswerte getäuscht und so die Ahnungslosigkeit der unzähligen Verbraucher bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt hat. Dabei wurde das Bestreben Einzelner, durch den Kauf eines umweltschonenden Produkts einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten, durch eine gezielte Täuschung unterlaufen. Die Verwerflichkeit werde durch das systematische Vorgehen und den großen betroffenen Personenkreis vertieft, so das OLG Koblenz. Dass es sich um einen Gebrauchtwagenkauf handelt, mache keinen Unterschied, da die Täuschung auch beim Gebrauchtwagenkauf fortwirkte. Denn auch bei diesem seien unter anderem die Herstellerangaben Grundlage der Kaufentscheidung.
2) Belastung mit ungewollter Verbindlichkeit und Gefahr der Betriebsuntersagung als Schaden
Durch diese Handlung ist dem Kläger auch ein Schaden entstanden. Der oft vom Hersteller im Prozess angeführte Einwand, das Fahrzeug sei trotz der Abschalteinrichtung werthaltig, kann letztlich einen Schaden nicht entfallen lassen. Denn auch, wenn nach strikter Anwendung der Differenzhypothese kein Schaden bestünde, ist unter Anwendung einer normativen Korrektur Schaden i.S.d. § 826 BGB nicht nur jede nachteilige Einwirkung auf die Vermögenslage, sondern darüber hinaus jede Beeinträchtigung eines rechtlich anerkannten Interesses und jede Belastung mit einer ungewollten Verpflichtung. Insofern kommt es nicht darauf an, ob die erhaltene Leistung wirtschaftlich hinter der Gegenleistung zurückbleibt. Ausreichend ist, dass der Geschädigte durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht worden ist, den er sonst nicht geschlossen hätte und dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist (BGH v. 28.10.2014 – Az. VI ZR 15/14). Es komme auch nicht darauf an, ob eine spätere Nachbesserung etwaige vermögensmäßigen Einbußen ausgleichen könnte. Der Kläger wurde hier durch die Täuschung über die Abgaswerte zu einem Vertragsschluss bewegt, den er sonst nicht getätigt hätte, und ist in seinen berechtigten Erwartungen an einen umweltfreundlichen geringen Abgasausstoß enttäuscht worden.
Zudem entspricht das Fahrzeug auch nicht den gesetzlichen Anforderungen. Aufgrund der Unzulässigkeit der Abschaltvorrichtung besteht die Gefahr einer Stilllegung, wodurch die uneingeschränkte Nutzung in Frage gestellt werde.
Beide Aspekte – zum einen die Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit und zum anderen die Gefahr der Betriebsuntersagung – können laut OLG Koblenz für sich alleine als Schaden angesehen werden.
3) Vorsatz – Zurechnung über § 31 BGB analog oder Haftung nach § 831 BGB
Da der Hersteller eine juristische Person ist, bedarf es der Zurechnung der Kenntnis einer natürlichen Person. Angesichts der großen Zahl der manipulierten Fahrzeuge sah das OLG Koblenz es als ausgeschlossen an, dass Mitarbeiter in leitender Stellung (zumindest der Leiter der Entwicklungsabteilung) keine Kenntnis von den Manipulationen hatten. Die Kenntnis des Vorstands oder sonstiger Repräsentanten wird dabei nach § 31 BGB analog zugerechnet. Eine Zurechnung erfolgt nicht nur für den Vorstand, sondern auch für alle sonstigen Personen, denen durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie die juristische Person im Rechtsverkehr repräsentieren.
Für den Fall, dass keine Kenntnis von Mitarbeitern in leitender Stellung angenommen werden kann, ergibt sich eine Haftung aus § 831 BGB. Denn sonstige Mitarbeiter des Herstellers, die die Manipulation tätigten, sind jedenfalls Verrichtungsgehilfen. In einer Prüfung ist an dieser Stelle darauf zu achten, dass § 831 eine eigene Anspruchsgrundlage für eigenes Organisationsverschulden ist, also nicht im Rahmen der Vorsatzzurechnung herangezogen werden kann. Die Gerichte helfen sich hier mit einer Wahlfeststellung (so etwa LG Stuttgart v. 17.1.2019 – 23 O 180/18; LG Frankfurt v. 29.4.2019 – 2-07 O 350/18), in einer Klausur sollte jedoch eine „saubere“ getrennte Prüfung erfolgen.
4) Rechtsfolge
Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB (oder ggf. § 831 BGB) ist auf Naturalrestitution gerichtet, § 249 BGB. Diese besteht in der Rückgängigmachung der Folgen des „ungewollten“ Kaufs. Der Kläger hat demnach einen Anspruch auf Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Nicht übersehen werden darf, dass sich der Gläubiger die tatsächlichen Nutzungen des Fahrzeugs als geldwerten Vorteil anrechnen lassen muss (Stichwort Bereicherungsverbot im deutschen Schadensrecht). Der zu erstattende Kaufpreis ist daher um diesen Betrag zu kürzen.
III) Fazit
Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs können also gemäß § 826 BGB gegen den Hersteller vorgehen. Der Schaden liegt dabei sowohl in der Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit als auch in der Gefahr einer Betriebsuntersagung. Neben der Problematik von vertraglichen Ansprüchen gegen den Verkäufer sollten Prüflinge also auch diese Konstellation vor Augen haben.