Im Ausgangspunkt ist klar: „Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch“ (vgl. nur BGH, Urt. v. 19.1.2021 – VI ZR 194/18) Damit ist allerdings nicht geklärt, welche Anforderungen an die Einhaltung von Verkehrspflichten im Einzelnen zu stellen sind. Und wann bzw. wo müssen diese in der zivilrechtlichen Klausur überhaupt geprüft werden? Der nachfolgende Beitrag unserers Gastautors Lorenz Fander soll kurze Antworten auf diese Fragen geben.
I. Vorab: Eine terminologische Klärung
Die Begriffe „Verkehrspflicht“ und „Verkehrssicherungspflicht“ werden teils synonym, teils differenziert verwendet. In der Literatur wird der Begriff „Verkehrssicherungspflicht“ meist nur im Zusammenhang mit der Haftung für unbewegliches Vermögen verwendet, während „Verkehrspflicht” als Oberbegriff für sämtliche Sachverhalte dient (NK-BGB/Katzenmeier, 4. Aufl. 2021, § 823, Rn. 124). Der BGH verzichtet auf diese Differenzierung jedoch weitgehend, sodass in der Klausur freie Begriffswahl herrscht. In diesem Beitrag wird der kürzere Begriff „Verkehrspflicht“ verwendet.
II. Was sind Verkehrspflichten und wo sind sie zu prüfen?
Jeder der eine Gefahrenquelle schafft, muss die Maßnahmen ergreifen, die notwendig sind, um die aus ihr resultierenden Gefahren abzuwenden (BGH, Urt. v. 28.4.1952 – III ZR 118/51). Verkehrspflichten verpflichten also zu einem Handeln, genauer: zur Abwehr eines Verletzungserfolges (Wandt, Gesetzliche SV, 11. Aufl. 2022, S. 351). Daraus lassen sich Schlüsse für den Prüfungsstandort der ersten problematischen Fallgruppe ermitteln: Rechtsgutsverletzungen durch Unterlassen.
1. Rechtsgutsverletzung durch Unterlassen
Herkömmlich werden Tun und Unterlassen im Zivilrecht anhand des Kriteriums der Gefahrerhöhung unterschieden (Jauernig/Kern, 19. Aufl. 2023, BGB § 823, Rn. 29). Es handelt derjenige, der sich fremden Rechtsgütern „gefährlich nähert“ (Wandt, a. a. O., S. 351.) Liegt dagegen ein Unterlassen vor, kann dieses einem Tun nur dann gleichgestellt werden, d.h. im Rahmen des § 823 I BGB tatbestandsmäßig sein, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand (vgl. schon RG, Urt. v. 24.10.1919 – III 151/19). Eine solche erwächst insbesondere aus Gesetz (z.B. § 1626 BGB), Vertrag (z.B. Babysitter) oder Verkehrspflicht (Buck-Heeb, Bes. SchuldR 2, Rn. 281). Wird im Rahmen des haftungsbegründenden Tatbestands beim Prüfungspunkt „Verhalten“ daher ein Unterlassen angenommen, muss hier regelmäßig auf die Verletzung einer Verkehrspflicht eingegangen werden.
Die Rechtsgutsverletzung durch Unterlassen ist jedoch auch im Rahmen des Prüfungspunktes „Rechtswidrigkeit“ zu problematisieren. Bei einem aktiven Tun beschränken sich die Ausführungen oftmals darauf, dass die Rechtswidrigkeit durch den Erfolgseintritt indiziert ist (Lehre vom Erfolgsunrecht). Um die Haftung bei Schädigungen durch Unterlassen nicht ausufern zu lassen, wendet die h. M. in dieser Fallgruppe abweichend die Lehre vom Handlungsunrecht an. Die Rechtswidrigkeit muss bei Rechtsgutsverletzungen durch Unterlassen durch den Nachweis der Verletzung einer Sorgfaltspflicht – regelmäßig einer Verkehrspflicht – positiv belegt werden (Grüneberg/Sprau, BGB § 823, Rn. 26).
Nun stellt sich die Frage, inwieweit sich diese Untersuchung von der im Prüfungsaufbau später folgenden Verschuldensprüfung unterscheidet. Die Antwort darauf sucht die h. M. in der Differenzierung zwischen äußerer und innerer Sorgfalt. Im Rahmen der Rechtswidrigkeit ist lediglich die äußere Sorgfalt zu prüfen, also die Einhaltung dessen, was objektiv ohne Rücksicht auf den Verkehrskreis des Handelnden zu erwarten ist (Wandt, a. a. O., S. 354). Bei der inneren Sorgfalt – deren Prüfung im Rahmen des Verschuldens erfolgt – kommt es darauf an, ob ein vernünftiger Mensch aus dem Verkehrskreis des Handelnden den Sorgfaltsmaßstab erkennen und einhalten konnte (Wandt, ebd.). Die Verletzung der äußeren Sorgfalt indiziert dabei die Verletzung der inneren Sorgfalt (BGH, Urt. v. 11.3.1986 – VI ZR 22/85).
In der Klausur kann bei der Prüfung des Verstoßes gegen eine äußere Sorgfaltspflicht ohne weiteres nach oben verwiesen werden, wenn die Verletzung einer Verkehrspflicht im Tatbestand bereits festgestellt wurde. In diesem Fall ist die Rechtswidrigkeit nach der Lehre vom Handlungsunrecht – in Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen – festgestellt (StuKo/Jacoby/von Hinden, 18. Aufl. 2022, BGB § 823, Rn. 28).
In der zweiten problematischen Fallgruppe – mittelbare Verletzungshandlungen – ist dagegen anders zu prüfen.
2. Mittelbare Verletzungshandlungen
Zur Abgrenzung mittelbarer von unmittelbaren Verletzungshandlungen kann plastisch gefragt werden, ob „der Verletzungsvorgang selber noch der Kontrolle (…) durch den Eingreifenden unterliegt“ (U. Huber FS E. R. Huber, 1973, 253, 276). Verneint man dies und nimmt im Umkehrschluss eine mittelbare Verletzungshandlung an, besteht im Grunde Einigkeit, dass Verkehrspflichten zu prüfen sind. Die Verortung dieser Prüfung bereitet allerdings Schwierigkeiten. Anders als in der Fallgruppe des Unterlassens haben Verkehrspflichten bei mittelbaren Verletzungshandlungen keine haftungsbegründende, sondern eine haftungsbegrenzende Funktion, da ein aktives Verhalten gegeben ist. Daher wird teilweise vorgeschlagen, Verkehrspflichtverletzung als Teil der haftungsbegründenden Kausalität zu prüfen (HK-BGB/Staudinger, 12. Aufl. 2024, § 823, Rn. 51). Um die Übersichtlichkeit der Kausalitätsprüfung zu wahren, bietet sich jedoch ein anderer Aufbau an: die Prüfung in der Rechtswidrigkeit. Bei mittelbaren Verletzungshandlungen kommt nach h. M. ebenfalls die Lehre vom Handlungsunrecht zu Anwendung, sodass die Rechtswidrigkeit durch die Feststellung einer Verkehrspflichtverletzung positiv zu belegen ist (BGH, Urt. v. 7.7.2020 – VI ZR 308/19). Diesem Aufbau folgen auch viele (Examens-)Klausurlösungen. Anders als beim Unterlassen, ist die Prüfung von Verkehrspflichten bei mittelbaren Schädigungen allerdings oftmals kein Klausurschwerpunkt, sodass hier knappe Ausführungen genügen.
Wird dem vorgeschlagenen Weg gefolgt, ergibt sich eine unterschiedliche Handhabung der Fallgruppen Unterlassen/mittelbare Verletzung in der Klausur. Bei Rechtsgutsverletzungen durch Unterlassen ist schon im Rahmen des Prüfungspunkts „Verhalten“ der Verstoß gegen eine Verkehrspflicht festzustellen. Im Rahmen der Rechtswidrigkeit ist auf die Lehre vom Handlungsunrecht hinzuweisen, zur Feststellung ihrer Voraussetzungen kann indes nach oben verwiesen werden. Bei mittelbaren Schädigungen ist beim Prüfungspunkt „Verhalten“ ohne Weiteres auf das Verletzungsverhalten hinzuweisen. Im Rahmen der Rechtswidrigkeit muss nach der Lehre vom Handlungsunrecht jedoch die Prüfung eines äußeren Sorgfaltspflichtverstoßes durch Verkehrspflichtverletzung erfolgen, um die Rechtswidrigkeit – in Abwesenheit von Rechtfertigungsgründen – zu belegen. Zwingend ist die vorgeschlagene Trennung allerdings nicht. Vertretbar kann die Verkehrspflicht in beiden Fallgruppen sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtswidrigkeitsebene angesprochen werden.
3. Am Rande: Nebenpflichtverletzungen
Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass Verkehrspflichten nicht nur im Rahmen der deliktischen Haftung relevant werden können. Soweit eines der in § 823 I BGB genannten Rechtsgüter betroffen ist, besteht zwischen der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils nach § 241 II BGB und den Anforderungen an die Erfüllung einer Verkehrspflicht kein Unterschied (BGH, Urt. v. 19.7.2018 – VII ZR 251/17). Wird die Verkehrspflicht dementsprechend bereits im Rahmen des §§ 280 I, 241 II BGB geprüft, kann in den Ausführungen zu § 823 I BGB nach oben verwiesen werden.
III. Wie sind Verkehrspflichten zu prüfen?
Wurde in der Klausur herausgearbeitet, dass eine Verkehrspflichtverletzung erforderlich ist, empfiehlt sich – zumindest gedanklich – ein dreistufiges Vorgehen. Zunächst ist zu prüfen, ob eine Verkehrspflicht besteht. Anschließend muss festgestellt werden, ob diese Verkehrspflicht verletzt wurde. Zuletzt ist zu fragen, ob der Verletzte vom Schutz erfasst ist, den die Verkehrspflicht vermitteln soll.
1. Bestehen einer Verkehrspflicht
Verkehrspflichten entstehen aufgrund der Verantwortlichkeit für eine Gefahrenquelle. Konkretisierend kann auf von der Literatur herausgearbeitete Fallgruppen zurückgegriffen werden. Verkehrspflichten beruhen demnach auf der Herrschaft über eine Gefahrenquelle (z.B. einen verschneiten Gehweg), der Ausübung einer gefährlichen Tätigkeit (z.B. dem Fällen eines Baumes) oder einem vorangegangenen gefährlichen Tun (z.B. der fehlerhaften Errichtung einer Anlage) (Looschelders, BT, 20. Aufl. 2025, S. 518). Der Verantwortliche kann seine Verkehrspflicht durch eindeutige Absprache auf einen Dritten übertragen, ist dann aber weiterhin für die Überwachung des nunmehr Verkehrspflichtigen zuständig (BGH, Urt. v. 17.1.1989 – VI ZR 186/88).
Für den Sonderfall der sog. Produzentenhaftung hat der BGH eigene Kriterien entwickelt, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Als Ausgangspunkt für die Einarbeitung in diesen Themenkomplex ist die Lektüre der Hühnerpestentscheidung (BGH, Urt. v. 26.11.1968– VI ZR 212/66) zu empfehlen.
2. Verletzung der Verkehrspflicht
Doch was muss der Verkehrspflichtige tun, um einer Haftung zu entgehen? Nach der Rechtsprechung des BGH muss er „diejenigen Maßnahmen [ergreifen], die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren“ (BGH, Urt. v. 2.10.2012 – VI ZR 311/11). Die Wiedergabe dieser maßstabbildenden Definition verleiht der Klausurprüfung Struktur und ist daher anzuraten. Anschließend ist an dieser Stelle der Sachverhalt auszuwerten. Anhaltspunkte, die für eine Handlungspflicht sprechen, sind etwa die hohe Wertigkeit der bedrohten Rechtsgüter, die besondere Intensität der Gefahr und ein geringer Gefahrenabwehraufwand (Förster, JA 2017, 721, 722 ff. m. w. Beispielen). Hier muss regelmäßig der Schwerpunkt der Ausarbeitung liegen, wobei es – wie so oft – mehr auf die Argumentation als auf das Ergebnis ankommt. Wird die herausgearbeitete Verkehrspflicht in einem Gesetz oder einer Verordnung (etwa der StVO) konkretisiert, ist unter diesen typisierenden Maßstab subsumieren. Gesetzliche Vorgaben definieren Verkehrspflichten zwar nicht abschließend, sind für die Feststellung des gebotenen Verhaltens aber dennoch von großer Bedeutung (BGH, Urt. v. 9.9.2008 – VI ZR 279/06). Als äußerste Grenze jeder Argumentation gilt das eingangs dargestellte Diktum des BGH: „Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch.“ Die Argumentation sollte daher keine lebensfremden Züge annehmen.
Um ein Verständnis für die Reichweite von Verkehrspflichten im Alltag zu erlangen, lohnt sich ein Blick auf die Handhabung problematischer Fälle durch die Rechtsprechung (z.B. Verkehrspflicht auf einem Golfplatz: LG München I, 10.12.2024 – 13 O 7261/24, auf juraexamen.info aufbereitet).
3. Schutzbereich der Verkehrspflicht
Zuletzt ist zu bedenken, dass nicht jeder Verletzte vom Schutzbereich der einschlägigen Verkehrspflicht erfasst ist. Eine Verkehrspflichtverletzung kommt grundsätzlich nicht in Betracht, wenn sich der Betroffene unbefugt im Gefahrenkreis des Verkehrspflichtigen bewegt (BeckOK BGB/Förster, 74. Ed. 1.5.2025, BGB 823, Rn. 328). So ist etwa der Hauseigentümer nicht verpflichtet Sicherungsvorkehrungen für die unbefugte Benutzung seines Grundstücks zu ergreifen (BGH NJW 1966, 1456). Dies ist anders, wenn die bestimmungswidrige Benutzung nicht ganz fernliegt (BGH, Urt. v. 8.1.2002 – VI ZR 264/00). Besonders bei Kindern ist leichtsinniges Verhalten zu erwarten, sodass insoweit oftmals mit einer bestimmungswidrigen Nutzung gerechnet werden muss (Staudinger/Hager, BGB § 823, Rn. E45). An dieser Stelle sind Ausführungen nur angezeigt, wenn tatsächlich Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die konkrete Rechtsgutsverletzung nicht vom Schutzbereich erfasst ist.
IV. Abschließende Gedanken
Verkehrspflichten können in der Klausur ein dankbarer „Punktelieferant“ sein. Argumente für oder gegen das Bestehen bzw. die Verletzung einer Verkehrspflicht ergeben sich oftmals ohne besondere juristische Vorkenntnisse aus einer lebensnahen Beurteilung des Sachverhalts. Einzig der Prüfungsaufbau wirft Fragen auf, die in der Klausur allerdings nicht zu erläutern sind. Entscheidet sich der Prüfling vorab für eine der möglichen Aufbauvarianten, hält konsequent an ihr fest und wertet anschließend umfassend den Sachverhalt aus, steht einer gelungenen Ausarbeitung nichts im Weg.