Der Donnerschlag, mit dem die heutige Entscheidung des BVerfG nicht nur in der rechtswissenschaftlichen Welt eingeschlagen ist, wird noch lange widerhallen: § 217 StGB ist verfassungswidrig. Damit kippt das BVerfG jene umstrittene Norm, die seit 2015 die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt (s. zur Einführung von § 217 StGB unseren damaligen Grundlagenbeitrag hier). Denn nur auf diese Weise kann das in der heutigen Entscheidung vom 26.02.2020 (2 BvR 2347/15 u.a.) neu geschaffene Grundrecht auf Suizid verwirklicht werden – so jedenfalls die Karlsruher Richter. Mit diesen knappen Sätzen lässt sich die polarisierende Entscheidung des BVerfG zusammenfassen, die von manchen frenetisch gefeiert, von manchen kategorisch abgelehnt wird. Ein heißes Eisen für jeden Examenskandidaten! Im Einzelnen:
I. Entscheidungskontext und Hintergrund
Die zum 10. Dezember 2015 eingeführte Verbotsnorm des § 217 StGB stellte bislang geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland unter Strafe. Erfasst wurden hiervon nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere Sterbehilfevereine (BT-Drucksache 17/11126), die zuvor – ebenso wie Privatpersonen – innerhalb einer rechtlichen Grauzone Suizidwilligen auf meist straffreie Weise letale Medikamente verschaffen konnten. Mangels teilnahmefähiger Haupttat – die Selbsttötung ist in § 212 StGB nicht unter Strafe gestellt; die Tötung eines Menschen meint dort begriffslogisch die Tötung „eines anderen“ Menschen – ist eine Beihilfe im Sinne des § 27 StGB straffrei. § 217 StGB sollte jedenfalls dem Handeln von Sterbehilfevereinen, wie sie aus der Schweiz bekannt sind (man denke etwa an Dignitas) einen Riegel vorschieben, erfasste aber – und darin lag das zentrale Problem – reflexiv auch Ärzte. Denn: Geschäftsmäßigkeit im Sinne des § 217 StGB erfordert eben keine Gewinnerzielungsabsicht; die alleinige Wiederholungsabsicht, die eben auch bei Ärzten anzunehmen sein kann, war entscheidend.
Daher keimten verfassungsrechtliche Bedenken, die alsbald nach Karlsruhe getragen wurden und in dem heutigen Urteil ihre Bestätigung gefunden haben. Im Jahre 2015 hatte der 2. Senat des BVerfG einen Eilantrag nach § 32 BVerfGG auf Außervollzugsetzung der Norm noch abgelehnt (Beschl. v. 21.12.2015 – 2 BvR 2347/15, NJW 2016, 558, s. unsere Besprechung hier). In der Hauptsache erhielten die Beschwerdeführer (Schwerkranke und von der Norm betroffene Menschen, aber auch Ärzte, in diesem Bereich beratende Rechtsanwälte und nicht zuletzt Sterbehilfevereine) nun Recht.
II. Wesentliche Erwägungen des 2. Senats (der PM Nr. 12/2020 entnommen)
Dem BVerfG oblag es nun, § 217 StGB am Maßstab des Grundgesetzes zu messen:
1. Grundrechte der betroffenen Sterbewilligen
a) Schutzbereich
Nach dem BVerfG umfasst der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, das es jedem Einzelnen gewährleistet, sich das Leben zu nehmen und sich hierbei der Hilfe Dritter zu bedienen. Damit folgt das BVerfG ähnlichen Judikaten des EGMR (Urteil vom 19.07.2012 – 497/09, NJW 2013, 2953) und des BVerwG (Urteil vom 02.03.2017 – 3 C 19/15, NJW 2018, 1524):
„Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen er sich vorstellen kann, sein Leben selbst zu beenden, unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen. […] Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen. Es erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden.“
Doch damit nicht genug. Die Karlsruher Richter gehen noch viel weiter:
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist.“
Eine extensivere Interpretation ist kaum vorstellbar. Jeder Suizidwunsch soll also von Verfassung wegen akzeptiert sein, unabhängig von einer unheilbaren Krankheit. Dem Staat könne es nicht zustehen, über die Motive der Selbsttötung zu befinden.
Den Einwand, dass derjenige, der sich selbst das Leben nehme, gerade auf seine Würde verzichte, verwarf das BVerfG, da es gerade „Ausdruck der Würde“ sei, menschenwürdig sterben zu dürfen. Das wird jedoch von namhaften Verfassungsrechtlern anders gesehen, da der Einzelne nicht frei von staatlichem Einfluss über das Recht auf Leben entschieden dürfe, zumal der Staat eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht diesbezüglich habe, die die Dispositionsbefugnis des Einzelnen einschränke (man denke nur an Fälle des Zwergenweitwurfs, in denen der Einzelne ebenfalls nicht über Art. 1 Abs. 1 GG verfügen darf).
b) Eingriff
Nach dem modernen Eingriffsbegriff greift § 217 StGB in grundrechtsverkürzender Weise in das Grundrecht auf Suizid der sterbewilligen Patienten ein, auch wenn sie nicht unmittelbare Adressaten der Strafnorm sind:
„Es [gemeint ist das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe] macht es dem Einzelnen faktisch weitgehend unmöglich, Suizidhilfe zu erhalten. Diese Einschränkung individueller Freiheit ist von der Zweckrichtung des Verbots bewusst umfasst und begründet einen Eingriff auch gegenüber suizidwilligen Personen.“
c) Rechtfertigung
Die Rechtfertigung richtet sich nach einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung:
aa) Legitimes Ziel
§ 217 StGB verfolgt das von der Verfassung selbst in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorgeschriebene Ziel des Autonomie- und Lebensschutzes, also ein legitimes Ziel. Dass hiermit zugleich Gefahren begegnet werden soll, die von Sterbehilfevereinen ausgehen, die assistierte und kommerzialisierte Suizidhilfe anbieten, ist ebenso legitim: Ihre alleinige Existenz kann psychischen wie sozialen Druck auf schwerkranke Menschen ausüben, Sterbehilfe auch in Anspruch zu nehmen. Die darin liegende Gefahrprognose des Gesetzgebers ist mangels anderweitiger wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht zu beanstanden:
„Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer ‚gesellschaftlichen Normalisierung‘ der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne, die geeignet sei, autonomiegefährdende soziale Pressionen auszuüben, ist nachvollziehbar.“
bb) Geeignetheit und Erforderlichkeit
Eben diese legitimen Ziele fördert § 217 StGB auch, da das strafbewehrte Verbot ein Instrument ist, das gefahrträchtige Handlungen zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe unterbindet. An diesem Punkt musste das BVerfG keine längeren Ausführungen machen, da sich Sterbehilfevereine weitestgehend aus Deutschland zurückgezogen haben und Verurteilungen auf Grundlage von § 217 StGB nicht ersichtlich sind. Das Verbot wirkt also.
Mit der Erforderlichkeit wiederum setzt sich das BVerfG nicht auseinander (wenngleich man die Entscheidungsgründe wird abwarten müssen), da es die Unangemessenheit der Norm offenbar für offensichtlich hält.
cc) Angemessenheit
§ 217 führt nach dem BVerfG dazu, „dass das Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert ist. Die Regelung des § 217 StGB ist zwar auf eine bestimmte – die geschäftsmäßige – Form der Förderung der Selbsttötung beschränkt. Auch der damit einhergehende Verlust an Autonomie ist aber jedenfalls soweit und solange unverhältnismäßig, wie verbleibende Optionen nur eine theoretische, nicht aber die tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung bieten.“
Damit spielt das BVerfG auf die verbleibende Möglichkeit Sterbewilliger an, Angehörige oder Freunde darum zu bitten, ihnen Sterbehilfe zu leisten. Die Möglichkeit, einen Arzt immerhin um die Verschreibung letal wirkender Medikamente zu bitten, sei rechtstatsächlich nahezu ausgeschlossen:
„Ärzte zeigen bislang eine geringe Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, und können hierzu auch nicht verpflichtet werden; aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab.“
Und auch bestehende palliativmedizinische Angebote seien nicht ausreichend, um dem Grundrecht auf Suizid zur Entfaltung zu verhelfen. Denn: „Die Entscheidung für die Beendigung des eigenen Lebens umfasst zugleich die Entscheidung gegen bestehende Alternativen [wie die Palliativmedizin] und ist auch insoweit als Akt autonomer Selbstbestimmung zu akzeptieren.“
Damit seien Sterbewillige faktisch auf ausländische Sterbehilfeangebote angewiesen (bspw. die Niederlande oder die Schweiz), was die deutsche Verfassung wegen Art. 1 Abs. 3 GG nicht akzeptieren könne; sie müsse vielmehr eigene Möglichkeiten bereithalten. Mit dieser Argumentation freilich lassen sich viele Dinge, die im Ausland bereits möglich sind, verfassungsrechtlich begründen. Stichhaltig ist der Verweis auf das, was im Ausland erlaubt ist, freilich nicht.
Und auch der Schutz Dritter sei nicht in der Lage, die von § 217 StGB ausgehende Beschränkung der individuellen Selbstbestimmung zu rechtfertigen:
„Allerdings muss dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben. Anliegen des Schutzes Dritter wie die Vermeidung von Nachahmungseffekten rechtfertigen nicht, dass der Einzelne die faktische Entleerung des Rechts auf Selbsttötung hinnehmen muss.“
d) Ergebnis
Daraus folgt: § 217 StGB ist nach dem BVerfG wegen eines nicht gerechtfertigten Eingriffs in das Grundrecht auf Suizid betroffener Sterbewilliger verfassungswidrig.
2. Grundrechte der betroffenen Ärzte, Rechtsanwälte und Sterbehilfevereine
Der verfassungsrechtliche Schutz geschäftsmäßiger Sterbehilfe ergibt sich – so jedenfalls das BVerfG – „aus einer funktionalen Verschränkung der Grundrechte von Suizidhilfe leistenden Personen und Vereinigungen, insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 GG oder subsidiär Art. 2 Abs. 1 GG, mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Schließlich sei die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, in tatsächlicher Hinsicht davon abhängig, dass Dritte auch bereit seien, eben diese auch zu leisten. Daher müssen diese Dritten ihre Sterbehilfe auch in straffreier Weise durchführen können. Anders ausgedrückt: Das Grundrecht auf Suizid korrespondiert mit einem weitreichenden grundrechtlichen Schutz des Handelns von Suizidassistenten. Zudem verletze das strafbewehrte Verbot aus § 217 StGB Suizidhelfer in ihrem aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG folgenden Recht auf Freiheit. Das umfasse nicht nur Ärzte und Sterbehilfevereine, sondern auch auf diesem Gebiet beratende Rechtsanwälte.
Auf Bestimmtheitsbedenken, die zuweilen an § 217 StGB geäußert wurden, ging das BVerfG nicht ein. Dabei wäre gerade das ein wichtiger Punkt gewesen, war doch nicht eindeutig, wie nach § 217 StGB eine (strafbare) geschäftsmäßige Sterbehilfe mit Wiederholungsabsicht von einer (straflosen) Sterbehilfe im Einzelfall exakt abgegrenzt werden sollte. Bei Vereinen und im Gegensatz dazu bei Privatpersonen erschien die Abgrenzung in der Regel ohne weiteres möglich; bei Ärzten hingegen war sie alles andere als eindeutig.
Eine verfassungskonforme Auslegung (die Ärzte bspw. von der Strafbarkeit hätte ausnehmen können) lehnte der 2. Senat indes schon deshalb ab, weil sie den oben dargelegten Zielen des Gesetzgebers zuwiderliefe, der mit der Geschäftsmäßigkeit eindeutig die Wiederholungs- und nicht die Gewinnerzielungsabsicht zum zentralen Merkmale erhoben hat.
III. Einordnung, Kritik und Schluss
§ 217 StGB ist verfassungswidrig und ab sofort nichtig. Das ist im Ergebnis sicherlich richtig; die Begründung aber führt viel zu weit. Das Urteil dürfte im Ergebnis dazu führen, dass mehr Menschen von ihrem „Grundrecht auf Suizid“ Gebrauch machen. Häufigerer „Grundrechtsgebrauch“ – das klingt toll. Doch wollen wir das wirklich? Wollen wir eine höhere Suizidrate? Das ist eine Frage, die Juristen anhand des Grundgesetzes nicht beantworten können. Die Beantwortung sollte allein dem Parlament obliegen, doch das BVerfG hat nun gesprochen. Das ist zu akzeptieren, auch wenn unklar bleibt, warum der Gesetzgeber nicht einfach nachbessern und anstelle der „geschäftsmäßigen“ die „gewerbsmäßige“ Sterbehilfe unter Strafe stellen darf. Dann wären Ärzte straffrei; Sterbehilfevereine könnten dagegen nicht legal agieren.
Immerhin, das ist zuzugeben, erlaubt das BVerfG dem Gesetzgeber, die Sterbehilfe in einem engen Rahmen zu reglementieren: Prozedurale Sicherungsmechanismen, Aufklärungs- und Wartepflichten oder auch Erlaubnisvorbehalte seien denkbar, die auch strafrechtlich abgesichert werden könnten. Nur: Das Grundrecht auf Suizid verbiete es, die Zulässigkeit der Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, da in jeder Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an die Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Sterbewillens gelten müssten. Die Hürde einer unheilbaren oder tödlichen Krankheit kann also nicht etabliert werden. Mit diesen weitreichenden Aussagen wird das Grundrecht auf Suizid noch auf viele andere einfachgesetzliche Normen ausstrahlen.
Wie der Gesetzgeber all das konkret umsetzen soll, bleibt offen. Große Rechtsunsicherheit ist damit schon jetzt für künftige Regelungen vorprogrammiert. Bis dahin aber gilt: Geschäftsmäßige Sterbehilfe geht nun in den Grenzen der §§ 211, 212, 216 StGB auch in Deutschland.
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Mit Urteilen vom 3.7.2019 (Az.: 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18) hat der BGH in zwei Sterbehilfe-Fällen Freisprüche der Vorinstanzen (LG Hamburg und LG Berlin) bestätigt. Konkret ging es um die Strafbarkeit zweier Ärzte, die ihren Patienten bei den Suiziden assistiert hatten. Einer Strafbarkeit der Ärzte stehe nach Ansicht des BGH sowohl in Bezug auf im Vorfeld geleistete Unterstützungsmaßnahmen als auch hinsichtlich des Unterlassens von Rettungsmaßnahmen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit die Eigenverantwortlichkeit der Suizidwilligen entgegen. Dies ist eine eindeutige Abkehr von älterer Rechtsprechung des BGH, nach der ein Garant auch gegenüber einem freiverantwortlich handelnden Suizidenten jedenfalls zur Einleitung von Rettungsmaßnahmen verpflichtet ist, sobald der Garant nach Eintritt der Bewusstlosigkeit die Tatherrschaft über das Geschehen erlangt (BGH, Urt. v. 4.7.1984 – 3 StR 96/84, NJW 1984, 2639). Die extrem hohe Klausur- und Examensrelevanz der Entscheidungen liegt damit auf der Hand – die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechungsänderung ist für jeden Examenskandidaten ein Muss. Im Rahmen dieses Beitrags sollen daher die Grundzüge der Entscheidungen dargestellt und erläutert werden.
A) Sachverhalte (vereinfacht)
Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte ähneln sich insoweit, als in beiden Fällen von einem freiverantwortlichen Suizid auszugehen war, der von Ärzten begleitet wurde. Im Hamburger Verfahren ging es um zwei befreundete ältere Frauen, die an mehreren nicht lebensbedrohlichen, jedoch ihre Lebensqualität und persönlichen Handlungsmöglichkeiten zunehmend einschränkenden Krankheiten litten. Sie wandten sich an einen Sterbehilfeverein, der seine Unterstützung bei ihrer Selbsttötung von der Erstattung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit abhängig machte. Dieses erstellte ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, der an der Festigkeit und Wohlerwogenheit der Suizidwünsche keine Zweifel hatte und auf Verlangen der beiden Frauen auch der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente beiwohnte sowie Rettungsmaßnahmen unterließ. Im Berliner Verfahren verschaffte der Hausarzt der Suizidwilligen, die an einer nicht lebensbedrohlichen, aber stark krampfartige Schmerzen verursachenden Krankheit litt und bereits mehrere Suizidversuche unternommen hatte, dieser ein tödlich wirkendes Medikament. Er betreute die nach der Einnahme des Medikaments Bewusstlose und ergriff ebenfalls keine Rettungsmaßnahmen.
B) Rechtsausführungen
Sowohl das LG Hamburg als auch das LG Berlin verneinten die Strafbarkeit der beiden Ärzte nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB und § 323c StGB. Im ersten Fall hätten die beiden Frauen die Tatherrschaft über die Herbeiführung ihres Todes gehabt und im zweiten Fall sei die Beschaffung des Medikaments als straflose Beihilfe zur eigenverantwortlichen Selbsttötung zu qualifizieren. Zu Rettungsbemühungen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit seien die Ärzte aufgrund der Eigenverantwortlichkeit der Sterbewilligen in beiden Fällen nicht verpflichtet gewesen. Der BGH hat die Urteile bestätigt.
I. Beihilfe zur Selbsttötung
Eine Strafbarkeit anknüpfend an die Beschaffung des tödlich wirkenden Medikaments kam schon nicht in Betracht, da es an der für eine Beihilfe zwingend erforderlichen Haupttat fehlte – ein Suizid ist nicht strafbar. Auch weitere Vorfeldmaßnahmen stellten kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar, wie der BGH ausdrücklich feststellte:
„Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten für ihre im Vorfeld geleisteten Beiträge zu den Suiziden hätte vorausgesetzt, dass die Frauen nicht in der Lage waren, einen freiverantwortlichen Selbsttötungswillen zu bilden. In beiden Fällen haben die Landgerichte rechtsfehlerfrei keine die Eigenveranwortlichkeit der Suizidentinnen einschränkenden Umstände festgestellt. Deren Sterbewünsche beruhten vielmehr auf einer im Laufe der Zeit entwickelten, bilanzierenden „Lebensmüdigkeit“ und waren nicht Ergebnis psychischer Störungen.“ (Pressemitteilung Nr. 90/2019)
II. Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB
Zu prüfen war daher zunächst eine Strafbarkeit der Ärzte wegen Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB, indem nach Eintritt der Bewusstlosigkeit keine Rettungsmaßnahmen ergriffen wurden.
Anmerkung: Im Berliner Verfahren kam nur eine Strafbarkeit wegen versuchter Tötung auf Verlangen durch Unterlassen in Betracht, da nicht sicher festgestellt werden konnte, ob der Eintritt des Todeserfolgs durch zeitnah eingeleitete Rettungsmaßnahmen überhaupt noch hätte verhindert werden können. In einer Klausur würde dies einen erhöhten Schwierigkeitsgrad bedeuten, da auf diese Weise auch noch klassische Probleme des Versuchs – etwa der Versuchsbeginn bei Unterlassen – abgeprüft werden können.
1. Objektiver Tatbestand
a) Ausdrückliches und ernstliches Verlangen
Die Verstorbenen müssten die Ärzte durch ausdrückliches und ernstliches Verlangen zu ihrer Tötung bestimmt haben. Der Begriff des „Verlangens“ beschreibt den Todeswunsch des Tatopfers, wobei er seinem Wortsinn nach mehr als ein einverständliches Hinnehmen oder Geschehenlassen einer Fremdtötung voraussetzt. Erforderlich ist, dass eine auf das Vorstellungsbild des Erklärungsadressaten abzielende Einwirkung in Form einer Willensäußerung vorliegt (MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 13). Vorliegend bestand hinsichtlich des Todeswunsches der Suizidenten kein Zweifel; dass keine Rettungsmaßnahmen ergriffen werden sollten, wurde auch ausdrücklich gegenüber den Ärzten geäußert. Ebenso stellt sich das Verlangen auch als ernstlich dar. Dies ist der Fall, wenn ein subjektiv frei verantwortlicher Willensentschluss gegeben ist. Hierzu genügen beiläufig oder leichthin artikulierte Tötungsverlangen, die einer depressiven Augenblicksstimmung entspringen, nicht. Vielmehr ist eine durch Willensfestigkeit gekennzeichnete innere Haltung des Lebensmüden erforderlich (MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl. 2017, § 216 Rn. 19; Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 216 Rn. 9). Eine solche war hier, wie bereits angesprochen, in beiden Fällen anzunehmen: Bei den beiden älteren Frauen erstellte ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ein Gutachten, das die Festigkeit und Wohlerwogenheit der Suizidwünsche attestierte. Aber auch die Verstorbene im Berliner Verfahren hatte sich viele Jahre mit der Thematik des Suizids auseinandergesetzt und war sich der Tragweite ihres Tuns bewusst. Mithin bestand ein ausdrückliches und ernstliches Verhalten, durch das die Ärzte auch bestimmt wurden.
b) Abgrenzung Tun / Unterlassen
Ein tatbestandliches aktives Tun ist den Ärzten evident nicht anzulasten. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt hierbei im Unterlassen der Rettungsmaßnahmen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit.
Zur Erinnerung: Ob eine Strafbarkeit wegen aktiven Tuns oder Unterlassens in Betracht kommt, ist auf den ersten Blick nicht immer eindeutig. Wie eine Abgrenzung vorzunehmen ist, ist umstritten. Die herrschende Meinung stellt auf normative Kriterien ab, konkret: ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bei einem aktiven Tun oder Unterlassen liegt. Eine andere Ansicht – die Lehre vom Energieeinsatz – stellt die Frage, ob der Täter den Erfolg durch positiven Energieeinsatz verursacht hat oder ob er seine Energie gegenüber einem anderweitig in Gang gesetzten Kausalverlauf nicht eingesetzt hat (Zum Ganzen Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl. 2019, Vorb. § 13 Rn. 158 ff.)
c) Garantenstellung
Weiterhin müssten die Ärzte eine Garantenstellung aufweisen, d.h. eine Summe von Voraussetzungen erfüllen, aus denen die rechtliche Pflicht resultiert, gegen Rechtsgutsgefährdungen einzuschreiten (Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 7). Für den Hausarzt kommt eine Beschützergarantenstellung aufgrund des zwischen ihm und der Verstorbenen bestehenden Arzt-Patienten-Verhältnisses in Betracht. Zwar kann nicht der bloße Umstand, dass ein Arzt einem Suizid beiwohnt, eine Garantenstellung begründen (hierzu BGH, Urt. v. 26.10.1982 – 1 StR 413/82, NJW 1983, 350, 351). Hier hat der Arzt aber die Betreuung der Patientin übernommen, sodass insofern eine Garantenstellung anzunehmen ist. Diese Überlegungen können für den Gutachter, der auch als solcher auftrat, jedoch nicht übertragen werden. Diesbezüglich könnte allenfalls eine Garantenstellung aus Ingerenz, also pflichtwidrigem Vorverhalten, erwogen werden. Ein pflichtwidriges Vorverhalten begründet eine Garantenstellung, wenn es die nahe Gefahr des Eintritts des konkret untersuchten tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht (BGH, Urt. v. 19.4.2000 – 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754, 2756).
d) Verpflichtung zur Vornahme von Rettungsmaßnahmen
Ob eine Garantenstellung angesichts dessen vorliegt, kann jedoch dahinstehen, wenn die Ärzte, selbst wenn sie grundsätzlich Garanten sind, nicht zur Abwendung des Todeserfolgs verpflichtet waren. Dies haben das LG Hamburg, das LG Berlin und nun auch der BGH aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Suizidentinnen angenommen:
„Beide Angeklagte waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet. Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon nicht die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen übernommen, was ihn zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Auch die Erstellung des seitens des Sterbehilfevereins für die Erbringung der Suizidhilfe geforderten Gutachtens sowie die vereinbarte Sterbebegleitung begründeten keine Schutzpflicht für deren Leben. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden.“ (Pressemitteilung Nr. 90/2019)
Mit anderen Worten: Selbst, wenn man im vorliegenden Fall eine Garantenstellung des Arztes bejaht, traf ihn aufgrund der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen nicht die Pflicht, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit Maßnahmen zu ergreifen, um den Todeserfolg abzuwenden. Dies stellt eine Abkehr von einem älteren Urteil des BGH dar, in denen eine Pflicht des Garanten zur Einleitung lebensrettender Maßnahmen nach Eintritt der Bewusstlosigkeit selbst dann angenommen wurde, wenn es sich um einen freiverantwortlichen Suizid handelte (BGH, Urt. v. 4.7.1984 – 3 StR 96/84, NJW 1984, 2639). Bereits in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1952 führte der BGH aus: „Beihilfe zur Selbsttötung ist nicht strafbar. Wer aber eine Rechtspflicht hat, Lebensgefahr von einem anderen nach Kräften abzuwenden, und diese Pflicht kennt, die Selbsttötung aber trotzdem nicht hindert, obwohl er es könnte, ist – je nach seinem Willen und seiner Haltung zur Todesfolge – in der Regel der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung schuldig. Die Rechtspflicht kann auf Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Vertrag beruhen, sie besteht für Ehegatten, die in ehelicher Gemeinschaft leben“ (BGH, Urt. v. 12.2.1952 – 1 StR 59/50, BGHSt 2, 150 Ls. 1). In Fortführung stellte der BGH in einem folgenden Urteil darauf ab, dass es im Zeitpunkt des Eintritts der Bewusstlosigkeit zu einem Tatherrschaftswechsel komme, aufgrund dessen der Garant zur Abwendung des Todeserfolgs verpflichtet sei:
„Wenn nämlich der Suizident die tatsächliche Möglichkeit der Beeinflussung des Geschehens („Tatherrschaft”) endgültig verloren hat, weil er infolge Bewußtlosigkeit nicht mehr von seinem Entschluß zurücktreten kann, hängt der Eintritt des Todes jetzt allein vom Verhalten des Garanten ab. […] In diesem Stadium des […] Sterbens hat dann nicht mehr der Selbstmörder, sondern nur noch der Garant die Tatherrschaft und, wenn er die Abhängigkeit des weiteren Verlaufs ausschließlich von seiner Entscheidung in seine Vorstellung aufgenommen hat, auch den Täterwillen. Daß der Garant durch sein Verhalten den früher geäußerten Wunsch des Sterbenden erfüllen will, ändert daran nichts.“ (BGH, Urt. v. 4.7.1984 – 3 StR 96/84, NJW 1984, 2639, 2640 f.)
Die Rechtsprechung ist in der Literatur vielfach unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht freiverantwortlich handelnder Suizidenten kritisiert worden. So sei es wertungswidersprüchlich, die Beihilfe zur Selbsttötung als straffrei einzuordnen, bei Nichthandeln nach Eintritt der Bewusstlosigkeit dann aber eine Strafbarkeit nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB anzunehmen (zum Ganzen etwa MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl. 2017, Vor § 211 Rn. 67 ff.; Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, Vor §§ 211-217, Rn. 24 m.w.N.). Zudem – und hierauf stützen sich auch die Vorinstanzen – bestehe einer veränderte gesellschaftliche Vorstellung über die Reichweite und Konsequenzen des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen, die sich auch in der Einführung der §§ 1901a ff. BGB zur Patientenverfügung ausdrücke. Zwar hat der BGH in jüngeren Urteilen dem Selbstbestimmungsrecht erhöhte Bedeutung beigemessen (s. etwa BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11, NStZ 2012, 319; Urt. v. 5.8.2015 – 1 StR 328/15, NJW 2016, 176), eine ausdrückliche Aufgabe erfolgte indes erst mit dem Urteil vom 3.7.2019.
2. Zwischenergebnis
Da die Ärzte aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Sterbewilligen keine Pflicht traf, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit Rettungsmaßnahmen zur Abwendung des Todeserfolgs zu ergreifen, handelten sie nicht tatbestandsmäßig. Eine Strafbarkeit nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB scheidet aus.
III. Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB
Subsidiär war eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB zu prüfen. Auch dies verneinte der BGH konsequent:
„Eine in Unglücksfällen jedermann obliegende Hilfspflicht nach § 323c StGB wurde nicht in strafbarer Weise verletzt. Da die Suizide, wie die Angeklagten wussten, sich jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten, waren Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen nicht geboten.“
Anmerkung: Vertretbare erschiene es auch, bereits das Vorliegen eines Unglücksfalls abzulehnen. Hierzu tendiert auch das LG Hamburg, das in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Adressat des § 323c StGB über die Selbsttötungsabsicht in Kenntnis gesetzt wurde und auch keine Willensänderungen ersichtlich sind, bereits das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals Unglücksfall anzweifelt.
IV. Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung, § 217 StGB
Seit der Einführung der Norm im Jahre 2015 kam bei Unterstützungshandlungen betreffend Selbsttötungen auch eine Strafbarkeit nach § 217 StGB in Betracht, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte. Dieser war jedoch zur Zeit der hier gegenständlichen Suizide noch nicht in Kraft, sodass das Verhalten der Ärzte wegen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes nicht hieran zu messen war.
Anmerkung: Die Einführung des § 217 StGB war in der überwiegenden Literatur auf Kritik gestoßen, da für eine geschäftsmäßige Förderung bereits das wiederholte Unterstützen genügte. Mit Urteil vom 26.02.2020 hat das BVerfG nun entschieden, dass § 217 StGB verfassungswidrig ist (Az.: 2 BvR 2347/15 u.a.; s. hierzu unseren Beitrag). Damit kommt eine Strafbarkeit nach § 217 StGB künftig auch nicht mehr in Betracht.
C) Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der BGH unter besonderer Würdigung des Selbstbestimmungsrechts eines freiverantwortlich handelnden Suizidenten nunmehr die Strafbarkeit eines Garantens wegen Untätigbleibens nach Eintritt der Bewusstlosigkeit ablehnt, was eine Abkehr von früherer Rechtsprechung bedeutet. Die Entscheidung war überfällig: Wie das LG Berlin betont, erfordert der Wertewandel in der Gesellschaft, der sich insbesondere auch in der Einführung der §§ 1901a ff. BGB zur Patientenverfügung ausdrückt, dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eine erhöhte Bedeutung beizumessen – dann ist es nur konsequent, das Untätigbleiben eines Garanten bei einem freiverantwortlichen Suizid nicht als strafrechtlich relevantes Unterlassen einzuordnen. Dies entspricht auch gänzlich dem Urteil des BVerfG vom 26.02.2020, in dem ein neues Grundrecht auf Sterbehilfe entwickelt wurde.
Update
Der 2. Senat des BVerfG hat einen Eilantrag auf Außervollzugsetzung des § 217 StGB abgelehnt (Beschl. v. 21.12.2015 – 2 BvR 2347/15, NJW 2016, 558). Vier Mitglieder des Vereins Sterbehilfe Deutschland eV hatten einen zulässigen Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt, der aber vom BVerfG als unbegründet zurückgewiesen wurde. Den Antragstellern war vom Verein Sterbehilfe Deutschland zugesagt worden, auf ihr Verlangen hin – den rechtlichen Rahmenbedingungen entsprechend (vgl. unten) – Unterstützung bei ihrer eigenverantwortlichen Selbsttötung zu erhalten, welche der Verein nun mit Verweis auf § 217 StGB verweigerte.
Im Rahmen einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der hohen Anforderungen an eine Außervollzugsetzung iRd § 32 BVerfGG entschied sich das BVerfG für die Aufrechterhaltung des strafbewehrte Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe, es bestünde eine zu große Gefahr, dass schwerkranke Menschen, die oft nicht in der Lage seien, reflektierte Entscheidungen zu treffen, zur Selbsttötung verleitet werden könnten. Gerade dann entfiele aber der durch die Norm sowie den Gesetzgeber intendierte Schutz menschlichen Lebens aus Art. 2 II 1 GG, was zu verhindern sei. Dieser Schutz der Allgemeinheit überwiege die berechtigten Einzelinteressen der potentiellen Suizidenten an einer selbstbestimmten Entscheidung über ihren Tod.
Der Beschluss des BVerfG ist überzeugend, auch wenn es wegen weiterhin bestehender Zweifel an der ausreichenden Bestimmtheit der Norm – auf die in der Eilentscheidung allerdings nicht einzugehen war – abermals der Judikative obliegen wird, den Tatbestand durch einschlägige Rechtsprechung hinreichend zu konkretisieren.
Geschäftsmäßige Sterbehilfe künftig strafbar
Am vergangenen Freitag, den 6.11.2015, hat der Deutsche Bundestag einen Gesetzesentwurf beschlossen, der voraussichtlich wie folgt in das StGB aufgenommen wird:
217 StGB: Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung
(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.
Der Entwurf hatte sich unter drei weiteren Gesetzesvorschlägen durchgesetzt, während einige Parlamentarier die Meinung vertraten, die gesetzlichen Regelungen sollten nicht verändert werden.
Mit der Neuregelung des § 217 StGB soll künftig die geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland verboten werden. Erfasst werden auf diese Weise nach der Intention der Parlamentsmehrheit insbesondere Vereine aber auch Privatpersonen, die bislang innerhalb einer rechtlichen Grauzone Suizidwilligen auf meist straffreie Weise letale Medikamente verschaffen konnten. Denn mangels teilnahmefähiger Haupttat – die Selbsttötung ist in § 212 StGB nicht unter Strafe gestellt; die Tötung eines Menschen meint dort begriffslogisch die Tötung „eines anderen“ Menschen – ist eine Beihilfe im Sinne des § 27 StGB straffrei.
Aus rechtlicher Sicht ergeben sich allerdings Bedenken gegen die genannte Neuregelung. Zum einen kann aus verfassungsrechtlicher Sicht an der Bestimmtheit des neuen § 217 StGB gezweifelt werden (Bestimmtheitsgebot, Art. 103 Abs. 2 GG). Insbesondere ist nicht eindeutig, wie eine (strafbare) geschäftsmäßige Sterbehilfe mit Wiederholungsabsicht von einer (straflosen) Sterbehilfe im Einzelfall exakt abgegrenzt werden soll. Bei Vereinen und im Gegensatz dazu bei Privatpersonen erscheint die Abgrenzung in der Regel ohne Weiteres möglich. Bei Ärzten hingegen erscheint die Abgrenzung alles andere als eindeutig. Zum anderen kann eine ungewollte Kriminalisierung von Ärzten auch aus der Begriffsdefinition der Geschäftsmäßigkeit per se resultieren. Denn diese setzt eben gerade keine Gewinnerzielungsabsicht voraus, viel mehr ist allein erforderlich, dass sich die Absicht des Täters auf eine wiederkehrende Begehung konkretisiert. Somit werden dem Grundsatz nach auch Ärzte von der Regelung erfasst.
Mithin bleibt es – einmal mehr – der Rechtsprechung überlassen, die Lücken an Rechtsunsicherheit zu schließen, die durch die wertungsoffene Neuregelung geschaffen werden. Dabei wird insbesondere das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben, das der Bundesgerichtshof 2010 in einem Grundsatzurteil zur passiven Sterbehilfe entwickelt hatte, zu beachten sein (BGH v. 25.6.2010 – 2 StR 454/09, vgl. unsere Besprechung hier).
In diesem Kontext sollten sich Studenten / Examenskandidaten die Unterschiede zwischen den folgenden Formen der Sterbehilfe vor Augen führen:
- Aktive Sterbehilfe, gezielte Herbeiführung des Todes des Patienten, u. U. § 216 StGB bei ernstlichem Verlangen als Privilegierung des § 212 StGB nach h. L., § 34 StGB scheidet aus (vgl. das Prinzip der Unantastbarkeit fremden Lebens).
- Indirekte Sterbehilfe, Verabreichung schmerzlindernder, aber zugleich lebensverkürzender Medikamente im Rahmen der ärztlich indizierten Schmerzlinderung / Palliativmedizin, grundsätzlich straflos („Tod als Nebenwirkung“); strittig, ob § 34 StGB eingreift oder bereits wegen des Schutzzwecks der Norm des § 216 StGB die Tötungshandlung zu verneinen ist, manche wollen auch die objektive Zurechnung ablehnen (kein rechtlich zu missbilligendes Risiko).
- Passive Sterbehilfe, Unterlassen oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, irreversibler Krankheit wird ihr natürlicher Lauf gelassen, aber Achtung: Abschalten eines Beatmungsgerätes durch einen Arzt ist in der Regel Unterlassen, während ein Dritter, der die Behandlung durch einen Arzt abbricht, aktiv handelt (die Abgrenzung erfolgt anhand des normativen Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit). Beachte in diesem Zusammenhang sowohl die Indizwirkung der Patientenverfügung gemäß § 1901a BGB als auch Irrtumsprobleme sowie weitere Einzelprobleme (zB der genannte Behandlungsabbruch).
Kurz zur Klarstellung: entgegen anders lautender Kommentare unter diesem Artikel hat der BGH die Differenzierung zwischen aktiver (direkt/indirekt) und passiver Sterbehilfe nicht aufgegeben. Vielmehr bezieht sich die Rechtsprechungsänderung allein auf die passive Sterbehilfe selbst. Aber auch bei dieser ist die oben erwähnte Differenzierung nicht hinfällig. Besonders für die Frage, ob § 216 I StGB oder die §§ 212 I, 13 I StGB zu prüfen sind, kann die Unterscheidung noch relevant sein. Und auch im Rahmen der Rechtfertigung spielt sie eine Rolle. Denn auf die vom BGH entwickelten Grundsätze des Behandlungsabbruchs ist erst dann zurückzugreifen, wenn ein Dritter einen aktiven Behandlungsabbruch vornimmt, so dass eine passive Sterbehilfe nicht mehr in Betracht kommt, erfasst diese doch allein das Sterbenlasssen. Um aber Unbilligkeiten bzgl. der Strafbarkeit eines Täters, der aktiv handelt und wegen der Einwilligungssperre des § 216 StGB nicht über § 34 StGB gerechtfertigt ist, und der Straflosigkeit eines Arztes, der passiv unterlässt und über die passive Sterbehilfe nach § 34 StGB in verfassungskonformer Auslegung gerechtfertigt ist, zu vermeiden, hat der BGH im Rahmen der Rechtfertigung eine Einwilligung zugelassen. Dass dies zulässig ist, zeigt ein systematischer Vergleich mit § 1901 a BGB. So ist also auch ein Dritter, der aktiv die Behandlung durch einen Arzt (zB durch Ausschalten eines Beatmungsgerätes) abbricht, gerechtfertigt, wenn 1) eine ausdrückliche oder mutmaßliche Einwilligung vorliegt, 2) die Krankheit letal wirkt und dieser ihr natürlicher Lauf gelassen wird, 3) die Maßnahme erkennbaren Behandlungsbezug aufweist.
Für die Klausur gilt es zukünftig die folgenden Punkte in Erinnerung zu haben, falls (geschäftsmäßige) Sterbehilfe im Raum stehen könnte:
- Die Geschäftsmäßigkeit in § 217 StGB n.F. erfordert keine Gewinnerzielungsabsicht, eine alleinige Wiederholungsabsicht ist ausreichend.
- An der Bestimmtheit der Vorschrift kann aus verfassungsrechtlicher Sicht gezweifelt werden.
- Steht die Strafbarkeit eines behandelnden Arztes im Raum, ist besondere Vorsicht geboten und auf die Formulierungen des Sachverhalts wertend einzugehen, wobei das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben i.S.d. Art. 2 I, 1 I GG sowie eine oft nicht gewollte Strafbarkeit des altruistisch handelnden Arztes zu berücksichtigen sind.
In der aktuellen Literatur liefert besonders Gaede in Jus 2016, 385 ff. belastbare Abgrenzungskriterien, um zu erreichen, dass allein Sterbehilfevereine von § 217 StGB erfasst werden, nicht aber Ärzte, die in der Sterbehilfe keine Dienstleistung erblicken. Insoweit fordert er, dass die Sterbehilfe das Geschäftsmodell des Handelnden darstellt. Ärzte, die eine Sterbehilfe hingegen nur als ultima ratio im konkrete Einzelfall innerhalb einer gefestigten, vertrauensvollen Patientenbeziehung durchführen, sollen nicht unter das Merkmal der Geschäftsmäßigkeit fallen.
Detaillierte Informationen können in der BT-Drucksache 17/11126 eingesehen werden.