Streichung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB? – Folgen von Kücükdeveci
Soll § 622 Abs. 2 S. 2 BGB gestrichen werden? Das ist Gegenstand des ”Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils (C-555/07) – Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen“ der SPD-Fraktion (Bundestagsdrucksache 17/775) sowie des ”Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 622 Abs. 2 S. 2 BGB) – Diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Bundestagsdrucksache 17/657). Der Artikel stellt kurz die Diskussion, die bei der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales am 11.4.2011 stattgefunden hat (s. dazu den Bericht v. 12.4.2011 bei beck-online), dar. Es handelt sich um ein schönes Thema zur mündlichen Prüfung, weil so einerseits europarechtliche Dogmatik (I.), andererseits auch praktisches Verständnis und selbstständige Argumentation (II. und III.) abgeprüft werden können. Zitiert werden jeweils die von Homepage des Bundestages abrufbaren Ausschussdrucksachen.
I. Problemaufriss
Das deutsche Recht sieht für Kündigungen durch den Arbeitgeber gem. § 622 Abs. 2 S. 1 BGB eine Staffelung der Kündigungsfristen je nach Dauer der Betriebsangehörigkeit vor. Nach § 622 Abs. 2 S. 2 BGB sind jedoch Beschäftigungszeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht zu berücksichtigen. Letzteres verstößt nach der Entscheidung „Kücükdeveci“ des EuGH gegen Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG (EuGH v. 19.1.2010 – C-555/07, NZA 2010, 85, Rn. 25ff.; s. dazu ausführlich Pötters/Traut, ZESAR 2010, 267, 268.). Die Norm verbietet u.A. im Arbeitsrecht unmittelbare oder mittelbare Diskriminierungen wegen in Art. 1 der Richtlinie aufgezählter Merkmale. Zu diesen Merkmalen zählt auch das Alter, mit dem unzulässig differenziert werde, da jüngere Arbeitnehmer, bei denen ein Teil ihrer Beschäftigungszeit vor ihrem 25 Lebensjahr liegt, bei gleicher Betriebsangehörigkeitsdauer schlechter gestellt seien als Arbeitnehmer, die mit einem höheren Alter eingestellt wurden. Gleichzeitig sei damit auch der primärrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, den die Richtlinie konkretisiere, verletzt (vgl. Art. 21 EuGRC).
Hier setzt die aktuelle Diskussion an. Richtlinienwidriges nationales Recht bleibt wirksam und anwendbar, primärrechtswidriges dagegen wird unanwendbar. Da vorliegend auch ein Verstoß gegen Primärrecht vorliegt, ist § 622 Abs. 2 S. 2 BGB nicht anwendbar. Deshalb, so der aktuelle Vorstoß von SPD und Grünen, sei es nur konsequent, die Norm auch zu streichen.
II. Argumente für die ersatzlose Streichung
– Beiseitigt den Europarechtsverstoß
– Rechtssicherheit – spricht dafür, keine „unerkannt“ unanwendbaren Normen im Gesetzbuch zu haben. (Deutscher Anwaltverein Ausschuss-Drs. 17(11)490, Heil Ausschuss-Drs. 17(11)488)
– Eine Streichung dient auch den Interessen der durch die Unanwendbarkeit der Norm bevorzugten Arbeitnehmer. Jetzt droht Ihnen in Folge von Unkenntnis die Anwendung einer zu kurzen Kündigungsfrist.
– Generell die Gleichstellung jüngerer Arbeitnehmer (DGB Ausschuss-Drs. 17(11)489)
IV. Alternativen?
1. Gründe gegen eine ersatzlose Streichung
– Flexibilitätsinteressen der Arbeitgeber (Verband der Bauwirtschaft Ausschuss-Drs. 17(11)484, Verband des deutschen Einzelhandels Ausschuss-Drs. 17(11)486neu)
– Beschäftigungsförderung; Einstellungsbereitschaft würde bei längeren Kündigungsfristen leiden (BDA 17(11)485, Verband der Bauwirtschaft Ausschuss-Drs. 17(11)484, Verband des deutschen Einzelhandels Ausschuss-Drs. 17(11)486neu)
– Der Telos der Norm? (dazu sogleich unter 2.c)
2. Vorschläge
a) Nichtberücksichtigung von Ausbildungszeiten und pauschale Erhöhung der Beschäftigungszeiten des § 622 Abs. 1 S. 1 BGB um 2 Jahre
BDA/Verband der Bauwirtschaft
b) Streichung des § 622 Absatz 2 Satz 1 Ziffer 1 BGB und Nichtberücksichtigung von Ausbildungszeiten
Vorschlag des HDE
c) Erhalt der Norm als Ausgestaltung des Arbeitnehmerschutzes?
Interessant ist rechtlich aber vor allem die Frage, ob man die Regelung nicht doch erhalten kann. Aufbauend auf einen Aufsatz von v. Medem (NZA 2009, 1072) schlug Thüsing in seiner Stellungnahme vor, die Norm europarechtskonform umzugestalten, sie der Sache nach aber beizubehalten. Eine solche Gestaltung hält, mit Verweis auf die Rechtsprechung zur Lebensalterdifferenzierung bei der betriebsbedingten Kündigung, auch der Deutsche Anwaltsverein für zulässsig (Ausschussdrucksache 17(11)490 abrufbar von der Homepage des Bundestages). Eine Rechtfertigung könne gelingen, wenn man sie richtig, d.h. europarechtskonform, begründe:
„Der Schutzzweck des § 622 Abs. 2 BGB ist richtigerweise weder die Förderung der Beschäftigungschancen junger Menschen noch das Arbeitgeberinteresse, sondern der Arbeitnehmerschutz: § 622 Abs. 2 BGB soll die Kündigungsfristen an die soziale Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer anpassen. Der soziale Schutz der Arbeitnehmer ist als sozialpolitisches Ziel ein legitimes Ziel im Sinne der Richtlinie, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a nennt als legitime Ziele ausdrücklich den Schutz älterer Arbeitnehmer und den von Personen mit Fürsorgepflichten. Mit letzteren korreliert das Lebensalter deutlich.
Zur Erreichung des Schutzzwecks ist eine Differenzierung angemessen und erforderlich. Auch das Alter und nicht allein die Betriebszugehörigkeit ist eine wichtige Komponente zur Bestimmung der sozialen Schutzbedürftigkeit. Entsprechend hält man ihre Berücksichtigung bei der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG auch ganz überwiegend für zulässig. Dieser Aspekt wurde vor dem EuGH überhaupt nicht vorgetragen, er ist aber entscheidend: Statistische Erhebungen zeigen eine deutliche Korrelation zwischen Lebensalter und Länge der Zeitspanne, die ein Arbeitnehmer zwischen zwei Beschäftigungen arbeitslos ist. Dieser Effekt kann selbstverständlich auch allein mit der Beschäftigungsdauer abhängen. Sehr plausibel ist dies jedoch nicht: Mit zunehmendem Lebensalter nehmen die Bindungen des Arbeitnehmers zu und damit seine Flexibilität ab. Dies verringert die Chancen darauf, einen schnell einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Wer Familie hat und langfristig in seiner Umgebung verwurzelt ist, wird eher zögern, umzuziehen, als ein Single, der keine Bindung hat. Nicht nur, dass der Arbeitnehmer selbst seine Lebensumstände ändern muss, ein Prozess, der mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird, auch der Partner müsste einen neuen Arbeitsplatz finden, die Kinder müssten die Schule wechseln usw. Er wird daher z.B. eher im näheren Umkreis als deutschland- oder europaweit nach einem Angebot suchen und bereit sein, entsprechend länger darauf zu warten.
Auch die Existenz von Unterhaltsverpflichtungen ist realistischerweise erst ab einem bestimmten Alter zu erwarten. Selbst Frauen der Jahrgänge 1967 bis 1971 wurden im Durchschnitt erst mit 26 zum ersten Mal Mutter. Das Alter der Heirat, für viele Paare der Schritt zur Familiengründung, liegt sogar noch deutlich darüber. Frauen heiraten im Durchschnitt mit 30,2 Jahren, Männer gar erst mit 33,1. Da es unpraktikabel und für den Arbeitgeber kaum zumutbar wäre, für die Kündigungsfrist direkt nach den Unterhaltsverpflichtungen zu differenzieren, ist das Lebensalter ein leicht zu bestimmendes Korrelat. Jedenfalls ist es besser geeignet als die Betriebsangehörigkeit. Dies wird schon daran deutlich, dass ein älterer Arbeitnehmer öfter seinen Arbeitsplatz wechselt und daher auf eine niedrige Betriebsangehörigkeitsdauer kommen kann.“ (Ausschussdrucksache 17(11)487, S. 16, 17f., abrufbar von der Homepage des Bundestages; Fußnoten wurden entfernt).
Für die mündliche Prüfung ist dieser Ansatz deshalb ganz interessant, weil man damit einerseits eine eigene Meinung entwickeln und vor allem Verständnis für das Funktionieren der europäischen Regelung zeigen kann.
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