Sitzung aufgehoben: Zur Zulässigkeit des Fernbleibens von einer Parlamentssitzung
In der letzten Woche gab es mehrfach Berichte über den gescheiterten Versuch der Regierungskoalition, über das umstrittene Betreuungsgeldgesetz im Bundestag („BT“) zu beraten (nachzulesen z.B. hier oder hier). Ein guter Zeitpunkt, sich mit den rechtlichen Implikationen dieses Ereignisses zu befassen, da derlei Fragen gerne einmal in mündlichen Examensprüfungen „spontan“ gestellt werden können.
Sachverhalt
Die Regierungskoalition bestehend aus CDU/CSU und FDP hatte für vergangenen Freitag (15.06.2012) eine Sitzung zur ersten Beratung (sog. „1. Lesung“) über das umstrittene Gesetz zum Betreuungsgeld für Familien angesetzt. Gegenstand der Sitzung waren zuvor auch andere Gesetzesvorhaben. Vor der Beratung über das Betreuungsgeldgesetz stellte die SPD einen Antrag zur Abstimmung über ein anderes Gesetzesvorhaben. Bei der anschließenden Abstimmung kam es zu Unklarheiten über die Mehrheitsverhältnisse, sodass ein sogenannter Hammelsprung beschlossen wurde. Dabei verlassen alle Abgeordneten den Plenarsaal. Die Abstimmung geschieht im weiteren Verlauf dadurch, dass die Abgeordneten den Saal durch eine von drei Türen („Ja“, „Nein“, „Enthaltung“) wieder betreten.
Im vorliegenden Fall waren jedoch zahlreiche Vertreter von Grüne, Linkspartei und SPD nicht zum Hammelsprung erschienen, sondern hatten sich entfernt oder schlichtweg vor den Türen gewartet, sodass nur 211 Abgeordnete im Plenarsaal letztendlich gezählt werden konnten. Für die Beschlussfähigkeit des Plenums sind aber regelmäßig mindestens 311 Abgeordnete erforderlich. Sitzungsleiterin Petra Pau stellte daraufhin die fehlende Beschlussfähigkeit des Parlaments formal fest und brach die Sitzung ab.
1. Beschlussfähigkeit des Bundestags
Von der reinen Abstimmungsmehrheit zu unterscheiden ist die sog. Beschlussfähigkeit des BT. Diese ist in § 45 Abs. 1 GO BT geregelt und jedenfalls dann gegeben, wenn die Hälfte der Mitglieder des BT anwesend ist (derzeit 311 von insgesamt 622 Abgeordneten). Da die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder häufig nicht der Fall ist, wird diese grundsätzlich unterstellt. Nur wenn Zweifel an der Beschlussfähigkeit des BT bestehen, kann sie nach § 45 Abs. 2, 3 GO BT formal festgestellt werden (Maunz/Dürig, GG, Art. 42, Rn. 87). Die Vermutung der Beschlussfähigkeit des Parlaments gründet sich auf der Überlegung, dass die Abgeordneten zahlreiche Verpflichtungen bei der Ausübung ihrer Mandats haben und ihre Anwesenheit nicht immer bewerkstelligen können. Nur auf diese Weise kann die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gewährleistet werden, sodass die Vermutung allgemein als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen wird (BVerfGE 44, 308). Hiervon zu unterscheiden ist bspw. die Beschlussfähigkeit im Verteidigungsfall (Art. 115 a Abs. 1 S. 2 GG). Da dort auf die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder i.S.v. Art. 121 GG und damit auf verfassungsrechtlich vorgegebene Mehrheitsverhältnisse abgestellt wird, ist für die Vermutung der Beschlussfähigkeit nach § 45 Abs. 1 GO BT – aus nachvollziehbaren Gründen – kein Raum (Maunz/Dürig, GG, Art. 115 a, Rn. 81).
2. Der sog. Hammelsprung
Der Hammelsprung (Anm. d. Verf.: nicht zu verwechseln mit Schäfchen zählen…) ist eine Modalität der Beschlussfassung und in § 51 Abs. 2 GO BT formal geregelt. Die Abstimmung erfolgt durch Hammelsprungtüren in der oben bereits geschilderten Art und Weise. Das Abstimmungsverfahren wurde erstmals 1874 in die Geschäftsordnung des deutschen Reichstages aufgenommen und kam wenig später auch schon im preußischen Abgeordnetenhaus zur Anwendung. Über die Herkunft des Begriffs besteht Unklarheit, wobei vermutet wird, dass er sich wohl aus der parlamentarischen Alltagssprache herausgebildet hat (z.B. Leithammel, Arbeitsvieh, u.a.).
3. Verweigerung der Abstimmung
Durch das Fernbleiben von der Abstimmunng haben die Abgeordneten der Opposition die Beschlussunfähigkeit und damit den Abbruch der Sitzung faktisch erzwungen.
a) § 13 Abs. 2 GO BT iVm § 14 AbgG
Grundsätzlich besteht eine Verpflichtung des Mandatsträgers, an den Arbeiten des Bundestags teilzunehmen, gem. § 13 Abs. 2 GO BT. Die Folgen der Nichtbeteiligung finden sich zunächst im Abgeordnetengesetz (AbgG), auf das in § 13 Abs. 2 GO BT ausdrücklich verwiesen wird. Nach § 14 AbgG kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Kürzung der Kostenpauschale für den Abgeordneten festgelegt werden.
b) § 44 b AbgG; § 18 GO BT iVm Anlage 1 zur GO BT
Daneben hat der BT sich einen Katalog an Verhaltensregeln vorgegeben, an die sich ein Mandatsträger zu halten hat (§ 44 b AbgG; § 18 GO BT iVm Anlage 1 zur GO BT). Diese Verhaltensregeln betreffen aber in erster Linie das Rechtsverhältnis des einzelnen Abgeordneten zum Bundestag, insbesondere bestimmte Anzeigepflichten, z.B. Erhalt von Spenden, entgeltliche Tätigkeiten neben der Ausübung des Mandats oder die Offenlegung von Interessenkonflikten bei der Teilnahme an Ausschüssen. Der vorliegende Fall ist nicht Gegenstand dieses Regelungswerks.
c) Art. 38 GG (freie Mandatsausübung)
Zu denken wäre ferner an die Verletzung des Rechts der übrigen Abgeordneten auf die freie Ausübung ihres Mandates, Art. 38 GG, durch das Nichterscheinen des politische Gegners. Hiernach verpflichtet und befähigt das freie Mandat den Abgeordneten zu selbständiger politischer Meinungsbildung, hindert ihn, sich hinter Kollektiven zu verstecken und stellt ihn in eine persönliche Verantwortung gegenüber dem Volk (Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rn. 204). Die anwesenden Abgeordneten wurden hier aber nicht in ihrem Teilnahmerecht beschränkt. Ihnen war es unbenommen, den Hammelsprung zu vollziehen. Dass ihre Stimme letztlich keine Wirkung entfaltete, war allein dem Umstand geschuldet, dass der BT nicht beschlussfähig war. Die Beschlussfähigkeit soll aber gerade demokratische Entscheidungen legitimieren und dient folglich in erster Linie der Sicherung der Rechte aus Art. 38 GG.
Selbst wenn man eine uneingeschränkte Mitwirkungspflicht aller Abgeordneten annehmen würde, so hätte die Regierungsfraktion die nötige Anzahl an Abgeordneten aufgrund ihrer Mehrheitsverhältnisse stellen können, sodass es auf das Verhalten der Opposition allein nicht ankäme. Eine solche angreifbare Mitwirkungspflicht ist aber schon deswegen abzulehnen, da der Gesetzgeber u.a. im AbgG bereits ausdrücklich parlamentarisches Fehlverhalten der Mandatsträger geregelt hat. Außerdem genießt der Abgeordnetenstatus besonderen Schutz und kann nur unter besonderen gesetzlichen Voraussetzungen beschränkt oder gar entzogen werden (vgl. Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rn. 204).
Umgekehrt ließe sich zudem argumentieren, dass die abwesenden Abgeordneten ihrerseits von ihrem Recht aus Art. 38 GG Gebrauch gemacht haben, indem sie sich im Sinne eines „stillen Protests“ dem Fortgang der Sitzung entzogen haben, ohne jedoch die Funktionsweise des Parlaments in der Weise zu beeinträchtigen, als dass ein krasser Rechtsmissbrauch angenommen werden könnte, der unter Umständen weitere Konsequenzen für die jeweiligen Abgeordneten nach sich ziehen könnte.
Fazit
Eine rechtliche Handhabe gegen das Verhalten der Oppositionsmitglieder erscheint wohl nicht vertretbar, zumal die Regierungsfraktion die – durchaus mögliche – Einberufung einer Sondersitzung noch vor der Sommerpause ausdrücklich abgelehnt hat. Auch wenn das Fernbleiben von einer Parlamentssitzung wohl nicht „zum guten Ton“ gehört und stellenweise als „Trickserei“ aufgefasst wird – letztlich lag es in den Händen der Regierungsparteien, die notwendige Anzahl von Abgeordneten zu stellen, insbesondere in Ansehung der deutlichen Widerstände bereits im Vorfeld des Gesetzesvorhabens. Übrigens kennt das Gesetz den Begriff der „Sondersitzung“ nicht. Gemeint ist das Recht des Bundestags gem. Art. 39 Abs. 3 GG auch außerhalb der üblichen, festgelegten Zeiten zu beraten.
Angeblich, aber da mag es sich um ein böses Gerücht handeln, soll ja auch der ein oder andere Koalitionsabgeordnete nicht anwesend gewesen sein, was in der Analyse doch nur sehr subtil im letzten Absatz Anklang findet.
Man weiß es nicht. 😉