Sachenrecht bei Nachbarschaftskonflikten: Wie weit geht das Selbsthilferecht nach § 910 BGB?
Wir freuen uns, folgenden Beitrag von Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard) veröffentlichen zu können. Der Autor ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Wissenschaftlicher Beirat des Juraexamen.info e.V.
Der BGH (Urteil vom 11. Juni 2021 – V ZR 234/19) hat entschieden, dass ein Grundstücksnachbar – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen – von seinem Selbsthilferecht aus § 910 BGB auch dann Gebrauch machen darf, wenn durch das Abschneiden überhängender Äste das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.
Worum ging es? Zwei Nachbarn stritten sich. Auf dem Grundstück der Kläger stand und steht heute noch unmittelbar an der gemeinsamen Grenze seit rund 40 Jahren eine inzwischen etwa 15 Meter hohe Schwarzkiefer. Ihre Äste, von denen Nadeln und Zapfen herabfallen, ragten seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des Beklagten hinüber. Nachdem dieser die Kläger erfolglos aufgefordert hatte, die Äste der Kiefer zurückzuschneiden, schnitt er überhängende Zweige selbst ab. Begründung: § 910 BGB.
„§ 910 Überhang
(1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.
(2) Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.“
Die Nachbarn klagten darauf, es zu unterlassen, von der Kiefer oberhalb von fünf Meter überhängende Zweige abzuschneiden, denn das Abschneiden der Äste gefährde die Standsicherheit des Baums gefährde. Der BGH entschied anders als die Instanzen und verwies zurück. Die Pressemitteilung lässt die entscheidenden Erwägungen erkennen:
„Die von dem Berufungsgericht gegebene Begründung, die Kläger müssten das Abschneiden der Zweige nicht nach § 910 BGB dulden, weil diese Vorschrift nur unmittelbar von den überhängenden Ästen ausgehende Beeinträchtigungen erfasse, nicht aber mittelbaren Folgen, wie den Abfall von Nadeln und Zapfen, ist durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Juni 2019 (V ZR 102/18) überholt.“
Zu Erinnerung: „Ob der Eigentümer eines Grundstücks vom Nachbargrundstück herüberragende Zweige ausnahmsweise dulden muss, bestimmt sich – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts – allein nach § 910 II BGB. Der Maßstab des § 906 BGB gilt hierfür auch dann nicht, wenn die von den herüberragenden Zweigen ausgehende Beeinträchtigung in einem Laub-, Nadel- und Zapfenabfall besteht.“ (NZM 2019, 898)
Dann heißt es weiter in der Pressemitteilung:
„Schon aus diesem Grunde war das Berufungsurteil aufzuheben. Das Berufungsgericht wird nunmehr zu klären haben, ob die Nutzung des Grundstücks des Beklagten durch den Überhang beeinträchtigt wird. Ist dies der Fall, dann ist die Entfernung des Überhangs durch den Beklagten für die Kläger auch dann nicht unzumutbar, wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht. Das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers einfach und allgemein verständlich ausgestaltet sein, es unterliegt daher insbesondere keiner Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung. Zudem liegt die Verantwortung dafür, dass Äste und Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, bei dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht; er ist hierzu im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten. Kommt er dieser Verpflichtung – wie hier die Kläger – nicht nach und lässt er die Zweige des Baumes über die Grundstücksgrenze wachsen, dann kann er nicht unter Verweis darauf, dass der Baum (nunmehr) droht, durch das Abschneiden der Zweige an der Grundstücksgrenze seine Standfestigkeit zu verlieren oder abzusterben, von seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die Beeinträchtigung seines Grundstücks hinzunehmen. Das Selbsthilferecht kann aber durch naturschutzrechtliche Regelungen, etwa durch Baumschutzsatzungen oder -verordnungen, eingeschränkt sein. Ob dies hier der Fall ist, wird das Berufungsgericht noch zu prüfen haben.“
Entscheidend ist also, wann eine Beeinträchtigung vorliegt. Wenn die vorliegt, dann ist es sachenrechtlich unerheblich, was die Folgen für den Baum sind. Das ist Sache des Naturschutzes. Eine objektive Beeinträchtigung ist gegeben, wenn die konkrete Nutzung des Grundstücks durch die eingedrungenen Wurzeln oder Zweige erschwert oder verhindert wird; die Nutzung kann wirtschaftlichen Zwecken oder Freizeit und Erholung dienen (MüKoBGB/Brückner, 8. Aufl. 2020, BGB § 910 Rn. 8). Fehlt die, dann wäre es in der Tat eine Schikane, die Beseitigung zu verlangen oder selbst vorzunehmen.
Wer tiefer einsteigen will: eine zivilrechtliche Klausur des Assessorexamens findet sich bei Gietl, JuS 2017, 453-461. Aus Sicht des öffentlichen Nachbarschaftsrecht sehr illustrativ die Klausur Lange, VR 2021, 12-15.
Es kann schwierig sein, nachzuweisen, dass eine
Grundstücksbeeinträchtigung etwa durch Laub-, Nadel,- oder Zapfenabfall gerade auf solchem Überhang beruht.
Eine ähnliche Grundstücksbeeinträchtigung etwa durch Laub-, Nadel-, oder Zapfenabfall könnte bereits ohne Überhang ebenso möglich scheinen.
Soweit hier eine Beeinträchtigung gerade durch den Überhang eventuell eher nur gering scheinen können sollte, kann eventuell noch aus einem nachbarschaftlichen Treueverhältnis mit einem möglichen grundsätzlichen Gebot zu gegenseitiger Rücksichtnahme folgen, dass ein Abschneiden unzulässig unverhältnismäßig wirken kann. So wenn mögliche Folgen eines Abschneidens im Vergleich unangemessen übermäßig wirken können, indem sie etwa zu einer Zerstörung des Baumes und seiner Standsicherheit führen können. Dies obwohl eine ähnlich wirkende Grundrechtsbeeinträchtigung etwa durch Laub-, Nadel,- oder Zapfenabfall bereits ebenso ohne Überhang – und daher wohl grundsätzlich zunächst hinnehmbar – gegeben sein könnte.
Unter Umständen sollte hier ein Abschneiden, welches eine Zerstörung des Baumes und seiner Standfestigkeit bewirken könnte, eher nur zulässig sein können, soweit eine ausreichend nachbarrechtlich unzulässige Grundstücksbeeinträchtigung gerade nur aufgrund eines Überhanges genügend nachgewiesen scheint?