Rechtmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie am Beispiel der Allgemeinverfügung in Bayern
Wir freuen uns, einen Gastbeitrag von Rudi Lang veröffentlichen zu können. Rudi Lang ist Diplom-Verwaltungswirt (FH) und war vor der Aufnahme seines Jura-Studiums an der Universität Bayreuth Regierungsinspektor im Sachgebiet Kommunales bei der Regierung von Oberfranken in Bayreuth.
Nach und nach wird das öffentliche Leben in Bayern und Deutschland insgesamt angesichts der sich ausbreitenden Corona-Pandemiewelle durch hoheitliche Maßnahmen „heruntergefahren“. Angesichts der neuesten dramatischen Entwicklungen haben diese Maßnahme im Erlass umfassender Ausgangsbeschränkungen u.a. in Bayern vorläufig einen Höhepunkt gefunden. Im Rahmen dieses Beitrags interessiert dabei die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.3.2020, Az. Z6a-G8000-2020/122-98 (online abrufbar unter: https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2020/03/20200320_av_stmgp_
ausgangsbeschraenkung.pdf, im Folgenden: AV Bayern).
Diese wird im Folgenden didaktisch anhand des herkömmlichen Prüfungsschemas von Rechtsgrundlage – formelle Rechtmäßigkeit – materielle Rechtmäßigkeit aufbereitet und analysiert, wobei auf die in den jüngsten juristischen Stellungnahmen geäußerten Bedenken gegenüber Ausgangsbeschränkungen eingegangen wird. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.
I. Rechtsgrundlage
Die wohl meistdiskutierte Frage im Rahmen der aktuellen Geschehnisse um die „Corona-Krise“ ist bereits, ob für allgemeine Ausgangsbeschränkungen überhaupt eine Rechtsgrundlage besteht (die AV Bayern wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege auf § 28 I 1 und 2 IfSG gestützt).
Wegen der belastenden Wirkung solcher Maßnahmen für den Einzelnen bedarf eine solche Maßnahme jedenfalls angesichts des Vorbehalts des Gesetzes (vgl. Art. 20 III GG) einer gesetzlichen Grundlage.
In Betracht kommen insoweit spezialgesetzliche Befugnisse auf Basis des IfSG (dazu 1.) oder auch die polizeirechtliche Generalklausel (dazu 2.).
1. Befugnisse nach IfSG
a) 30 I 2 IfSG
Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden.
Die Ausgangsbeschränkung könnte eine allgemeine (nicht individualisierte) Quarantäneanordnung nach § 30 I 2 IfSG darstellen.
Dies erfordert jedoch zumindest einen Ansteckungsverdacht der Adressaten der Maßnahme. Die Tatsache der Aufnahme von Krankheitserregern muss wahrscheinlicher sein als das Gegenteil (BVerwG NJW 2012, 2823).
Da jedoch trotz der stark ansteigenden Zahlen zumindest zum Zeitpunkt des Erlasses der AV Bayern nicht davon ausgegangen werden konnte, dass bei jedem Bewohner Bayerns eine Infektion wahrscheinlicher ist als eine Nicht-Infektion, scheidet § 30 I 2 IfSG als Rechtsgrundlage für eine umfassende Ausgangsbeschränkung aus.
b) 28 I 2 IfSG
Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen;
(Halbsatz 1)
28 I 2 Hs. 1 IfSG als Rechtsgrundlage für die AV Bayern scheidet von vornherein aus, da dieser nur das Verbot von Ansammlungen und die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen erfasst, nicht jedoch die Verhängung von generellen Ausgangsbeschränkungen.
[…] sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt sind.
(Halbsatz 2)
Jedoch könnte sich die AV Bayern auf § 28 I 2 Hs. 2 IfSG stützen lassen, passt doch insoweit die Rechtsfolge des Verbots des Verlassens von Orten (siehe Nr. 4 AV Bayern). Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass die Norm nur vorübergehende Maßnahmen erfasst („[…] bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt sind“), nicht hingegen weit darüber hinausgehende allgemeine Ausgangsbeschränkungen (so auch Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland? JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, https://www.juwiss.de/27-2020/).
Damit stellt auch § 28 I 2 Hs. 2 IfSG keine hinreichende Rechtsgrundlage für die AV Bayern dar.
c) 28 I 1 IfSG (Generalklausel)
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtigte oder Ausscheider festgestellt
(Alt. 1)
oder
ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war
(Alt. 2)
so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen […], soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
Im Rahmen des IfSG verbleibt somit der Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 I 1 IfSG, als „notwendige Schutzmaßnahme“ könnte angesichts der Offenheit dieses Begriffs auch die Verhängung allgemeiner Ausgangsbeschränkungen verstanden werden.
Problem: Rückgriff auf Generalklausel für Allgemeinverfügung überhaupt möglich?
Es ist jedoch fraglich, ob ein Rekurs auf die Generalklausel für die AV Bayern überhaupt möglich ist. Hier werden aktuell drei Problemkreise diskutiert:
(1) Gesetzgeber hatte bei Formulierung der Generalklausel keine allgemeinen Ausgangsbeschränkungen im Blick („teleologische Reduktion“ der Generalklausel)
Teils wird angeführt, der Gesetzgeber des IfSG hatte bei dessen Erlass gerade keine allgemeinen Ausgangsbeschränkungen im Blick.
Ein solches Verständnis widerspricht jedoch m. E. dem Charakter und der Funktion von gefahrenabwehrrechtlichen Generalklauseln. Diese sollen gerade die Möglichkeit eröffnen, auf neuartige, unbekannte Gefahrenlagen zu reagieren („Effektivität der Gefahrenabwehr“), die fehlende historische Regelungsintention bzgl. der konkreten Maßnahme „Ausgangsbeschränkungen“ muss somit unbeachtlich sein und spricht nicht gegen die Heranziehung der Generalklausel.
(2) Bestimmtheitsgrundsatz/Gesetzesvorbehalt (abgeleitet aus Art. 20 III GG)
Gewichtiger sind die Einwände, die § 28 I 1 IfSG angesichts der damit intendierten schwerwiegenden Grundrechtseingriffe für nicht bestimmt genug halten.
„Notwendige Schutzmaßnahmen“ sind tatsächlich ein sehr dehnbarer Begriff und auf den ersten Blick wenig aufschlussreich bzgl. der konkreten Maßnahmen.
Zwar darf der Gesetzgeber grundsätzlich unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden; je höher jedoch die Eingriffsintensität einer Maßnahme ist, desto höher sind die Anforderungen an die Bestimmtheit der Befugnisnorm (Holzner, in: BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, 12. Edition, Stand: 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 130).
Im Falle von umfassenden Ausgangsbeschränkungen ist die Eingriffsintensität sehr hoch (v. a. Art. 2 II 2 i. V. m. Art. 104 GG). Dementsprechend sind auch hohe Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen, denen die Formulierung „notwendige Schutzmaßnahmen“ bei Erlass von generellen Ausgangsbeschränkungen nach der überwiegenden Zahl der Autoren nicht gerecht wird (Edenharter, Freiheitsrechte ade? Die Rechtswidrigkeit der Ausgangssperre in der oberpfälzischen Stadt Mitterteich VerfBlog 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/; Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland? JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, https://www.juwiss.de/27-2020).
Aber: Das BVerfG billigt im Gefahrenabwehrrecht (hierzu zählt auch das IfSG) zumindest die vorläufige Anwendung von Generalklauseln bei unvorhergesehenen Gefahrensituationen, sofern bei dauerhafter Ausweitung der Einzelfallanordnung eine gesetzgeberische Reaktion erfolgt (BVerfG, Beschl. v. 8.11.2012 – 1 BvR 22/12).
Dem ist m. E. auch bei Ausgangsbeschränkungen im Rahmen der „Corona-Krise“ zuzustimmen (in diese Richtung auch Kießling, Ausgangssperren wegen Corona nun auch in Deutschland (?), JuWissBlog Nr. 29/2020 v. 19.3.2020, https://www.juwiss.de/29-2020/). Gerade das Gefahrenabwehrrecht zeichnet sich durch seine Schnelllebigkeit und das Erfordernis kurzfristiger Reaktion auf neuartige Bedrohungen aus. Dem Gesetzgeber als Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes kann somit nicht abverlangt werden, alle grundrechtsintensiven Maßnahmen von vornherein detailliert zu regeln. Denn dann könnte er seiner Schutzpflicht zugunsten des Lebens und der Gesundheit von Menschen (vgl. Art. 2 II 1 GG) nicht gerecht werden.
Die Corona-Pandemie ist geradezu paradigmatisch für eine solche unvorhersehbare Gefahrenlage, die eine vorübergehende Anwendung der Generalklausel ermöglicht.
Der Bestimmtheitsgrundsatz steht somit der Heranziehung der Generalklausel des § 28 I 1 IfSG nicht entgegen.
(3) Sperrwirkung von § 32 IfSG
Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen.
(Satz 1)
Die Grundrechte der […] Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) […] können insoweit eingeschränkt werden.“
(Satz 3)
Interessant ist aber, ob § 32 IfSG ein Handeln durch Allgemeinverfügung sperrt. Aus der Norm wird teils e contrario abgeleitet, dass umfassende Freizügigkeitsbeschränkungen nur in Form von Rechtsverordnungen und nicht als Allgemeinverfügung erlassen werden können. Denn im Gegensatz zu § 28 IfSG erklärt § 32 IfSG explizit das Grundrecht der Freizügigkeit für einschränkbar (Kingreen, Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, VerfBlog 2020/3/20, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/).
Der Wortlaut („auch durch Rechtsverordnung“) spricht indes dagegen, dass § 32 IfSG ein Handeln nach § 28 I 1 IfSG sperrt, sondern setzt voraus, dass beides möglich ist (daher bestehen auch die gleichen tatbestandlichen Voraussetzungen).
Auch die fehlende Zitierung von Art. 11 I GG ist in den Fällen von Ausgangsbeschränkungen unschädlich. Art. 11 I GG und Art. 2 II 2 GG (der von § 28 I 4 IfSG zitiert wird), stehen nach h. M. in einem Exklusivitätsverhältnis (stellvertretend Ogorek, in: BeckOK-GG, 42. Edition, Stand: 1.12.2019, Art. 11 Rn. 56). Bei einer Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit („Einsperrung“) genügt somit das Zitieren von Art. 2 II 2 GG. Bei den Ausgangsbeschränkungen handelt es sich um solche Einschränkungen der körperlichen Fortbewegungsfreiheit (siehe Nr. 4 der AV Bayern: „Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt“).
Damit kann § 32 IfSG insgesamt keine Sperrwirkung entnommen werden.
Selbst wenn man dies anders sähe, hat die Bayerische Staatsregierung hierauf bereits reagiert und am 24.3.2020 eine der AV Bayern inhaltlich weitgehend entsprechende Rechtsverordnung erlassen (BayMBl. 2020 Nr. 130, online abrufbar unter: https://www.verkuendung-bayern.de/files/baymbl/2020/130/baymbl-2020-130.pdf).
2. Sonstige Befugnisse
Sonstige Befugnisnormen, insbesondere Art. 7 II LStVG, Art. 11 I PAG treten als legi generali gegenüber dem – selbst mit einer Generalklausel ausgestatteten – IfSG zurück.
3. Zwischenergebnis
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen lassen sich (vorläufig) auf § 28 I 1 IfSG stützen (nach a. A. besteht de lege lata keine taugliche Rechtsgrundlage).
Hinweis: In Bayern wurden die Ausgangsbeschränkungen kumulativ auf § 28 I 1 und 2 IfSG gestützt. Dies dürfte in verwaltungsrechtlicher Hinsicht unproblematisch sein, da die Rechtsprechung großzügig ist und auch noch den Austausch der Rechtsgrundlage in einem etwaigen Prozess zulässt.
Jedoch stellt ein Verstoß gegen § 28 I 1 IfSG gem. § 73 Ia Nr. 6, II IfSG eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße von bis zu 2.500 € sanktioniert werden kann. Nur im Ausnahmefall bei vorsätzlicher Verbreitung der Krankheit ist an den Verstoß gem. § 74 IfSG eine Straftat geknüpft.
Ein Verstoß gegen § 28 I 2 IfSG ist hingegen gem. § 75 I Nr. 1 IfSG direkt eine Straftat mit bis zu zwei Jahren Haft.
Die Ahndung von etwaigen Verstößen kann daher mit Art. 103 II, III GG konfligieren. Bayern versucht dieses Problem zu vermeiden, indem in Nr. 7 der AV Bayern generell nur eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit vorgesehen ist. Interessanterweise fehlt eine Nr. 7 der AV Bayern entsprechende Regelung in der nunmehr geltenden Verordnung vom 24.3.2020.
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Sachlich und örtlich zuständig für den Erlass allgemeiner Ausgangsbeschränkungen für den gesamten Freistaat Bayern ist gem. § 28 I 1 IfSG i. V. m. § 65 S. 2 Nr. 2 ZustV das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege als oberste Landesgesundheitsbehörde.
Eine vorherige Anhörung ist gem. Art. 28 II Nr. 4 Var. 1 BayVwVfG nicht erforderlich.
Nach Art. 39 II Nr. 5 BayVwVfG bedarf die Allgemeinverfügung im Falle öffentlicher Bekanntmachung (so in Bayern erfolgt) auch keiner Begründung (gleichwohl enthält die AV Bayern eine Begründung).
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Feststellung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtigte oder Ausscheider festgestellt
(Alt. 1)
oder
ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war (Alt. 2)
so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen […], soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
In Bayern wurden bereits (zahlreiche) Infizierte festgestellt. Der Tatbestand der Generalklausel des § 28 I 1 IfSG ist somit erfüllt.
2. Verhältnismäßigkeit
Maßnahmen sind nur zulässig, soweit und solange zur Verhinderung übertragbarer Krankheiten erforderlich sind. Mithin ist sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht – bereits auf Tatbestandsebene – eine Verhältnismäßigkeitskontrolle angezeigt.
Die Verhängung einer allgemeinen Ausgangsbeschränkung für die Dauer von zwei Wochen (so die AV Bayern) müsste also einen legitimen Zweck verfolgen und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.
a) Legitimer Zweck
Die Bekämpfung der weiteren Ausbreitung des Corona-Virus und damit der Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen stellt ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel dar (vgl. Art. 2 II 1 GG).
b) Geeignetheit/Erforderlichkeit
Zwar halten nicht alle Experten die Verhängung von umfassenden Ausgangsbeschränkungen für erforderlich.
Gleichwohl besteht aber ein Einschätzungsspielraum des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege. Es genügt, dass die verfolgten Zwecke zumindest gefördert werden und nicht offensichtlich ins Leere laufen oder durch mildere Maßnahmen ersetzt werden könnten. Offensichtliche Ungeeignetheit ist wegen der weitgehenden Reduktion menschlichen Kontakts als nach dem Stand der Forschung hauptausschlaggebende Quelle der Verbreitung nicht erkennbar. Mildere Mittel sind bislang angesichts der stark steigenden Zahl der Infektionen ebenfalls nicht auf den ersten Blick ersichtlich.
c) Angemessenheit
Die verfolgten Ziele der Maßnahme sind mit den betroffenen Grundrechtspositionen in einen schonenden Ausgleich zu bringen („praktische Konkordanz“). Hier greift die AV Bayern in bedeutende Grundrechte ein und es besteht – auch aufgrund der hohen Zahl der Betroffenen – eine hohe Eingriffsintensität (v. a. bzgl. Art. 8 I GG, Art. 2 II 2 GG).
Demgegenüber gefährdet die weitere Ausbreitung des Virus ebenfalls überragend wichtige Gemeinschaftsgüter des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung (Art. 2 II 2 GG).
Entscheidend ist angesichts der beidseitig sehr bedeutsamen Grundrechtspositionen die konkrete Ausgestaltung der Ausgangsbeschränkungen. Jedenfalls unverhältnismäßig dürfte eine komplette Ausgangssperre mit der Wirkung einer Freiheitsentziehung sein (dann dürften auch Ärzte das Haus nicht mehr verlassen, womit eine solche Ausgestaltung schon ungeeignet wäre, den bezweckten Zielen Rechnung zu tragen). Diese würde dazu führen, dass sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung auf Dauer eher negativ als positiv entwickelt (Edenharter, Freiheitsrechte ade? Die Rechtswidrigkeit der Ausgangssperre in der oberpfälzischen Stadt Mitterteich VerfBlog 2020/3/19, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/). Eine solche komplette Ausgangssperre enthält die AV Bayern indes nicht (daher der treffende Begriff der Ausgangsbeschränkung).
Die AV Bayern enthält in Nr. 5 lit. a)-h) nämlich einige – nicht abschließende – triftige Gründe für das Verlassen der Wohnung, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen sollen:
a) die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
b) die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z. B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen; Blutspenden sind ausdrücklich erlaubt) sowie der Besuch bei Angehörigen helfender Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist (z. B. Psycho- und Physiotherapeuten),
c) Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs (z. B. Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Tierbedarfshandel, Brief- und Versandhandel, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Banken und Geldautomaten, Post, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Reinigungen sowie die Abgabe von Briefwahlunterlagen). Nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs gehört die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie etwa der Besuch von Friseurbetrieben,
d) der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorgerechts im jeweiligen privaten Bereich,
e) die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
f) die Begleitung Sterbender sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
g) Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
h) Handlungen zur Versorgung von Tieren.
Insbesondere die Möglichkeit des Aufenthalts an der frischen Luft gem. Nr. 5 lit. g) der AV Bayern dürfte die Bedenken bezüglich einer kontraproduktiven negativen Gesundheitsbeeinträchtigung entkräften.
Gleichwohl wird diskutiert, ob angesichts der enormen Tragweite der Regelungen nicht sogar gem. Art. 19 II GG ein Eingriff in den Wesensgehalt von einigen Grundrechten vorliegt. Schließlich sind beispielsweise Versammlungen (Art. 8 I GG) und Gottesdienste (Art. 4 I, II GG) vollumfänglich jedermann in Bayern gänzlich untersagt.
Einen Wesensgehaltseingriff gem. Art. 19 II GG begründet dies jedoch m. E. noch nicht. Angesichts der zeitlichen Befristung der Maßnahme auf zwei Wochen ist eine gänzliche Versagung von Grundrechtspositionen nicht gegeben. Im Übrigen ist Art. 19 II GG wie auch Art. 1 I 1 GG restriktiv auszulegen, um eine individuelle Abwägung von Freiheitsräumen zu gewährleisten und absolute Betrachtungen, die dem Mantra der praktischen Konkordanz fremd sind, zu vermeiden.
Gleichwohl bleibt die künftige Entwicklung zu beobachten, da die Eingriffsintensität mit fortschreitender Dauer der Ausgangsbeschränkungen graduell ansteigt.
Für den aktuellen Zeitpunkt dürfte angesichts der zahlreichen Ausnahmen die AV Bayern einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle standhalten.
IV. Fazit
Allgemeine Ausgangsbeschränkungen lassen sich (vorläufig) auf § 28 I 1 IfSG stützen, wobei der Gesetzgeber bei längerem Andauern der Maßnahmen gehalten ist, spezielle Eingriffsbefugnisse zu schaffen. Diese Eingriffsbefugnisse sollen nun im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundesgesetzgeber geschaffen werden. Insbesondere die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Ausgangsbeschränkungen entscheidet über deren Verhältnismäßigkeit, wobei ein Wesensgehaltseingriff zumindest nach aktuellem Stand abzulehnen ist. Anhand dieser Maßstäbe ist die AV Bayern insgesamt als rechtmäßig anzusehen.
Herzlichen Dank, Herr Lang, für diesen wertvollen Beitrag, dem ich in weiten Teilen zustimme.
Das VG München hat jedoch in einem Eilverfahren (www.vgh.bayern.de/internet/media/muenchen/presse/pm_2020-03-24_b1.pdf) entschieden, dass durch die fehlende Zitierung von Art. 11 GG bereits das Zitiergebot verletzt ist. Dies sei insbesondere dadurch gegeben, dass Art. 11 GG in § 28 I IfSG a.F. nicht genannt wird, in § 32 IfSG schon. Wie bewerten Sie dies?
Des Weiteren wurde ja § 28 I IfSG mittlerweile geändert, siehe BGBl. I S. 590. Der Gesetzgeber hat also die Gelegenheit gehabt, an der Bestimmtheit der Norm zu feilen. Würden Sie § 28 I 1 IfSG mittlerweile für bestimmt genug erachten?
Vielen Dank für Ihren Kommentar!
Zum ersten Punkt: Entgegen dem VG München bin ich der Meinung, dass das Zitiergebot in diesem Fall nicht verletzt ist.
Denn im Falle der Ausgangsbeschränkung in Bayern ist Art. 11 I GG m. E. nicht betroffen, sondern nur Art. 2 II 2 GG, der von § 28 I 3 IfSG a.F. zitiert wird.
Nr. 4 der AV Bayern ordnet final an, dass die Wohnung nicht verlassen werden darf, also klar eine bezweckte Einschränkung der körperlichen Fortbewegungsfreiheit. Wer aber schon grundsätzlich nicht raus darf, darf logischerweise auch keinen neuen Aufenthaltsort wählen (Art. 11 I GG). Einer Beeinträchtigung des Art. 11 I GG kommt deshalb m. E. kein eigenständiges Gewicht zu.
Zudem: Die Warnfunktion des Zitiergebots wird schon durch die Nennung der intensiveren Eingriffsmöglichkeit (Art. 2 II 2 GG) erreicht.
Zum zweiten Punkt: Ich sehe § 28 I 1 IfSG in seiner neuen Fassung kritisch, da m. E. für einen derart intensiven Grundrechtseingriff eine Eingrenzung des behördlichen Handlungsspielraums schon auf Tatbestandsebene erforderlich ist, um den Ausnahmecharakter zu verdeutlichen.
Hierfür wird in der Literatur entweder die Einfügung einer Höchstdauer oder die Anknüpfung an eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 I IfSG n.F.) vorgeschlagen, beides m. E. gangbare Wege.
Einer solchen tatbestandlichen Eingrenzung entbehrt § 28 I 1 Hs. 1 IfSG n. F. jedoch weitestgehend, so dass die Norm m. E. mit dem Bestimmtheitsgebot unvereinbar ist und im Übrigen auch hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit auf Bedenken stößt.
Es wirkt noch nicht klar, wieso nach jetziger Gesetzeslage entsprechende Maßnahmen zur Corona-Krise ansich gerade abschließend gesetzlich ausgeschlossen sein können sollen und nun trotzdem ohne Weiteres neu gesetzlich zu regeln sein können sollen.
Ein Problem einer Verhältnismäßigkeit entsprechender Regelungen wie bei der Corona-Krise kann weiter eine rechtslogische innere Widersprüchlichkeit im Detail sein.
Bei Ausgangssperren bleibt nur ein Ausgang besonders (eingehend) beschränkt, nicht jedoch ein sonstiger Aufenthalt etwa in (vor allem privaten)Räumen.
Sonstiger Aufenthalt in Räumen scheint gegenüber Ausgangsbeschränkungen in Räumen insoweit „privilegiert“.
Aufenthalt in Räumen mit unbegrenzt vielen Personen sollte danach eventuell ansich unkontrollier möglich bleiben.
Dies scheint auch grundsätzlich verhältnismäßig, soweit Aufenthalt in Räumen, wie einer eigenen Wohnung, zum engeren, persönlichen Lebensbereich gehört, welcher grundsätzlich staatlicher Kontrolle entzogen ist.
Nur kann es ansich weniger einen klaren Grund für eine allgemeine beschränkende Benachteiligung von Ausgang gegenüber Aufenthalt in Räumen geben.
Eine grundsätzlich allgemein unbeschränkte Aufenthaltsmöglichkeit in Räumen kann dabei Sinn und Erfolgsmöglichkeiten einer Ausgangssperre konterkarieren, weil Übertragungswege von Krankheitserregern durch unbeschränkte Kontaktmöglichkeiten in Räumen bestehen bleiben können.
Damit kann aufgrund rechtslogmöglicher innererische Wertungswidersprüchlichkeiten im Detail eine verhältnismäßige Angemessenheit gerade derart schwerwiegender Grundrechtseingriffe, wie einer grundsätzlichen, allgemeinen Ausgangssperre, überhaupt in Frage stehen.
Mittlerweile ist Art.11 I GG doch in §28 I 4 IfSG genannt. Hat sich die Diskussion über die Sperrwirkung von §32 IfSG damit erübrigt?
Eine gute Frage, Diaz!
Ja, m. E. ist diese Diskussion für die Zukunft obsolet geworden. Gleichwohl wird noch darüber diskutiert, ob für Ausgangsbeschränkungen in Form von Allgemeinverfügungen überhaupt eine „Verwaltungsaktbefugnis“ besteht oder ob sie abstrakt-generell sind und deshalb nur als Rechtsnorm erlassen werden können. Dazu z. B. https://www.juwiss.de/2020-49/.
Ich denke nicht, dass der Coronavirus gerade beispielhaft für die Schnelllebigkeit des Gefahrenabwehrrechts und dessen damit verbundene, zumindest vorläufige, Flexibilität ist. Die Bundesregierung gab 2012 eine entsprechende Risikoanalyse in Auftrag, die die Ausmaße und notwendigen Maßnahmen gegen eine, wohl auch nach der herrschenden Wissenschaft nicht unwahrscheinlichen, Pandemie darstellten. Jedoch verpasste es die Regierung und auch der Gesetzgeber, entsprechende Maßnahmen, auch in Form eines Gesetzes, zu treffen und hat demnach den Regelungsauftrag nicht erfüllt.