OLG Köln: Berufung gegen Urteil des Jugendschöffengerichts
Wir freuen uns sehr, heute einen Gastbeitrag von Julian Götz, derzeit Rechtsreferendar am Landgericht Köln, veröffentlichen zu können.
Mit Urteil vom 14.03.2017 hat das Oberlandesgericht Köln unter dem Aktenzeichen III-1 RVs 295/16 ein Urteil des Landgerichts Aachen bestätigt, welches eine Gesetzeslücke im Bereich der Revision im Jugendstrafverfahren aufdeckt.
Sachverhalt (dem Urteil entnommen)
Das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen schuldig gesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Auf die gegen dieses Urteil allein vom Angeklagten eingelegte Berufung hat das Landgericht das angefochtene Urteil aufgehoben und den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung, versuchter räuberischer Erpressung, vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen schuldig gesprochen. Zudem hat das Landgericht das Vorliegen einer schädlichen Neigung gemäß § 17 Abs. 2 JGG bejaht.
Problemstellung
Das Amtsgericht hat gegen den Angeklagten eine Maßregel der Sicherung und Besserung angeordnet, nämlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß §§ 61 Nr. 1, 63 StPO i.V.m. § 7 Abs. 1 JGG. Das Landgericht hingegen hat die Voraussetzungen einer Unterbringung verneint und stattdessen eine schädliche Neigung gemäß § 17 Abs. 2 JGG bejaht, was eine Jugendstrafe nach sich zieht. Die Jugendkammer hat sich jedoch aufgrund des Verbots der Schlechterstellung gemäß § 331 Abs. 1 StPO an der Verhängung einer Jugendstrafe gehindert gesehen, da nur der Angeklagte Berufung eingelegt hatte. In diesem Zusammenhang führte sie aus, dass eine Regelung wie die des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO für das Berufungsverfahren nicht existiert.
Entscheidung des OLG Köln
Die Entscheidung des Landgerichts wurde von der Staatsanwaltschaft zulässigerweise mit dem Rechtsmittel der Revision angegriffen (beachte hier insbesondere die Sonderregelung des § 55 Abs. 2 JGG), hatte jedoch keinen Erfolg. Das Oberlandesgericht bestätigte die Auffassung des Landgerichts, dass hier eine Gesetzeslücke besteht.
Zunächst lässt sich feststellen, dass eine (Jugend-)Strafe im Verhältnis zu einer Maßregel die schwerwiegendere Sanktion darstellt. Da nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat, greift hier also das Verbot der reformatio in peius gemäß § 311 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2001, 4 StR 268/01). Diesen Grundsatz durchbricht § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO, der es gestattet, eine Strafe zu verhängen, wenn die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben wird. Genau eine solche Konstellation liegt hier vor, jedoch gilt diese Ausnahme nur für das Revisionsverfahren. Der Gesetzgeber hatte bei Schaffung dieser Ausnahme im Jahre 2007 wohl nur das Erwachsenenstrafrecht im Blick. Zur Veranschaulichung ein grober Überblick über den Instanzenzug im Strafverfahren:
AG à Berufung à LG à Revision à OLG
AG à Sprungrevision à OLG
LG à Revision à BGH
Gegen Urteile des Amtsgerichts sind Berufung (§ 312 StPO) und (Sprung-)Revision (§ 335 Abs. 1 StPO) statthaft. Gegen ein Urteil des Landgerichts ist nur noch die Revision zum Bundesgerichtshof statthaft (§ 333 StPO). Im Erwachsenenstrafrecht darf das Amtsgericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht anordnen (§ 24 Abs. 2 GVG). Deswegen wurde die Ausnahme nur für die Revision eingeführt, da gegen landgerichtliche Urteile ohnehin nur die Revision statthaft ist. Der Gesetzgeber hat hier jedoch eine Ausnahme im Jugendstrafrecht übersehen. Demnach darf das Amtsgericht als Jugendschöffengericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen, da die Zuständigkeitsregelungen des JGG für das Jugendschöffengericht spezieller sind als die allgemeinen Bestimmungen des GVG und diesen damit vorgehen (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1985, 2 BvR 1173/85). Und gegen amtsgerichtliche Urteil ist wie oben dargestellt eben auch die Berufung statthaft.
Dieses Dilemma mit der Konsequenz der Sanktionslosigkeit, welches angesichts der Straftaten in diesem Fall besonders unerträglich wäre, versuchen Landgericht und Oberlandesgericht mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aufzulösen. Jedoch ohne Erfolg.
Das Oberlandesgericht setzt sich intensiv mit der Frage auseinander, ob § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO analog auf den Fall angewendet werden kann. Eine Analogie setzt voraus, „dass das Gesetz eine Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen“ (BGHZ 170, 187). Oder kurz gesagt, es muss eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage vorliegen. Eine planwidrige Regelungslücke liegt ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien vor. Der Gesetzgeber hatte die Anordnungskompetenz des Jugendschöffengerichts schlicht übersehen (BT-Drs. 16/1344, Seite 17). Fraglich ist, ob eine vergleichbare Interessenlage vorliegt. Das Oberlandesgericht verneint dies. Zur Begründung führt der Senat aus, dass die Norm des § 55 Abs. 2 Satz 1 JGG zu einer Verkürzung des Instanzenzuges im Jugendstrafverfahren führt und damit eine Vergleichbarkeit mit dem Erwachsenenstrafrecht nicht gegeben sei. Hielte man § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO für analog anwendbar, dann könnte in diesem Fall das Landgericht erstmals eine Jugendstrafe aussprechen, gegen die sich der Angeklagte wegen § 55 Abs. 2 Satz 1 JGG nicht mehr mit dem Rechtsmittel der Revision wehren könnte. Das Oberlandesgericht führt hierzu aus: „Der Senat sieht sich daher mit Blick auf den unterschiedlichen Instanzenzug im Jugendstrafverfahren einerseits und im allgemeinen Strafverfahren andererseits sowie mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG außerstande, die aufgezeigt Regelungslücke im Wege analoger Rechtsanwendung zu schließen“.
Das Landgericht ließ eine Analogie am strafrechtlichen Analogieverbot, welches aus § 1 StGB i.V.m. Artikel 103 Abs. 2 GG folgt, scheitern. Danach ist jede Analogie verboten, die zulasten des Täters geht. Jedoch gilt dies nur für das materielle Strafrecht, soweit es um Strafbegründung oder Strafschärfung geht (Fischer, StGB, 64. Auflage, § 1 Rn. 21). Für das Strafverfahrensrecht gilt das Analogieverbot grundsätzlich nicht (Meyer-Goßner, StPO, 59. Auflage, Einl. Rn. 198). Deswegen erscheint die Lösung des Oberlandesgerichts überzeugender, wenn auch die Ergebnisse gleich sind.
Fazit
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts wird so wohl nicht Gegenstand einer Examensklausur oder einer mündlichen Prüfung werden. Dennoch gibt sie Anlass dazu, Themen zu wiederholen, die durchaus im ersten oder zweiten Examen abgeprüft werden könnten: Instanzenzug, Zuständigkeiten und Besetzung der Spruchkörper, Rechtsmittel, Analogie(-verbote), reformatio in peius, Besonderheiten im Jugendstrafrecht usw.
Zunächst sollen Unterbringungsvoraussetzungen laut Urteil bestanden haben. Das allein kann vor sonstiger verschuldensabhängiger Sanktion bewahren. Nach dem Berufungsurteil sollen die Voraussetzungen nicht mehr bestanden haben. Dies kann sonstige im Verschulden erhöhte Sanktion des Jugendstrafrechts bedeuten. Verschuldenserhöhte Sanktion kann Verböserung sein. (Unzulässige) Verböserung kann danach bereits in Aberkennung der Unterbringungsvoraussetzungen und damit mit geurteilten größeren Verschulden liegen. Eine Unterbringung kann einen Täter grundsätzlich aufgrund von geminderten Verschulden begünstigen. Ein jugendlicher Täter kann sich allein hiergegen bei einem Verbot einer Verböserung nur zweifelhaft prozessual wehren.
(Der Link für die Unterbringungsnormen im Beitrag „§ 61, 63 StPO iVm. § 7 JGG“ kann fehlerhaft sein. Richtig kann StGB iVm. JGG sein).