OLG Celle: Keine Helmpflicht für Radfahrer
Verkehrsrecht – Dauerbrenner im 2. Staatsexamen
Das Verkehrsrecht ist vor allem für das 2. Staatsexamen schon allein aufgrund der Fallzahl in der Praxis ein absoluter Dauerbrenner. Zudem lassen sich hier ideal materiell-rechtliche Probleme mit prozessualen Klassikern (z.B. Widerklage und Drittwiderklage gegen Versicherung) und Fragen des Beweisrechts (Anscheinsbeweise, Beweislastfragen, Beweiswürdigung von Zeugenaussagen etc.) verbinden. Neue Fälle und Entwicklungen im Verkehrsrecht sollten daher von Referendaren besonders aufmerksam beobachtet werden.
In letzter Zeit haben wir daher bereits öfter zu verkehrsrechtlichen Problemen berichtet:
- Eine interessante Entscheidung ist vor allem das Urteil des LG Köln, wonach das Nichttragen einer ausreichenden Schutzkleidung regelmäßig dazu führt, dass sich ein geschädigter Motorradfahrer ein anspruchsminderndes Mitverschulden allein aus diesem Umstand entgegenhalten lassen muss (s. hier)
- Eine Übrsicht zu aktuellen examensrelaventen Fällen zum Verkehrsrecht ist hier zusammengestellt.
OLG Celle zu Mitverschulden eines Radfahrers bei Unfall ohne Fahrradhelm
Ähnlich wie in dem Fall des LG Köln ging es in einem aktuellen Fall des OLG Celle (Urteil v. 12.02.2014, 14 U 113/13) um die Frage des Mitverschuldens. Auch sonst ähneln sich die rechtlichen Kernprobleme: In dem vom OLG Celle entschiedenen Fall erlitt ein Radfahrer Kopfverletzungen, die ein Fahrradhelm verhindert oder gemindert hätte. Ebenso wie bei der Schutzkleidung für Motorradfahrer (LG Köln) besteht keine Rechtspflicht zum Tragen eines Helms beim Radfahren. Nach § 21a StVO besteht nämlich nur eine Helmpflicht für Personen, die „Krafträder oder offene drei- oder mehrrädrige Kraftfahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h [führen] sowie auf oder in ihnen [mitfahren].“ Somit muss im Umkerhschluss nach der StVO keine weitere Schutzkleidung getragen werden und Radfahrer müssen nicht zwingend einen Schutzhelm verwenden.
Es stellt sich somit allein die Frage, ob ein Verstoß gegen eine Obliegenheit vorliegt, wenn ein Radfahrer keinen Helm oder ein Motorradfahrer keine Schutzkleidung trägt. Der Geschädigte könnte nämlich gegen seine Schadensminderungspflicht verstoßen haben.
Kernproblem: Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB
Anknüpfungspunkt ist also § 254 Abs. 2 BGB. Diese Vorschrift ist unabhängig daon anwendbar, ob ein Unfall i.S.d. § 7 StVG vorliegt oder lediglich eine Haftung nach § 823 BGB in Betracht kommt. Bei einer deliktischen Haftung nach § 823 BGB gelten die §§ 249 ff. BGB ohne weiteres. Auch bei einer Haftung nach dem StVG ist § 254 Abs. 2 BGB nicht durch Sondervorschrfiten verdrängt. § 17 StVG ist allein gegenüber § 254 Abs. 1 BGB lex specialis. Bei § 254 Abs. 1 BGB geht es um die Frage der Anspruchskürzung wegen eines Mitverschuldens bei der Entstehung des Schadens. Bei der Frage eines Mitverschuldens hinsichtlich des Schadensumfangs greift hingegen § 254 Abs. 2 BGB i.V.m. § 9 StVG, da § 17 StVG insoweit keine vorrangige Regelung enthält.
In dem vom OLG Celle entschiedenen Fall war es zu einer Kollision von zwei Radfahrern gekommen, sodass ohnehin eine Anwendbarkeit von §§ 7, 17 StVG ausschied. In der Klausur könnte aber ohne weiteres der Unfall unter Beteiligung eines Autos konstruiert werden, sodass dann auch Ansprüche nach dem StVG zu prüfen wären.
Lösung des OLG Celle: Kein Mitverschulden
Anders als das LG Köln (Urteil v. 15.05.2013 – 18 O 148/08, s. hier; in diese Richtung auch OLG Brandenburg, 23.07.2009 – 12 U 29/09) und aktuell auch das OLG Schleswig (Urteil v. 5.6.2013 – 7 U 11/12) entschied das OLG Celle, dass Radfahren ohne Fahrradhelm keine Obliegenheitsverletzung begründe. Etwas anderes könne nur gelten, wenn der Radfahrer sich durch besonders schnelles bzw. sportliches Fahren besonderen Risiken aussetze. Bei einer „normalen“ Radfahrt ist somit das Nichttragen eines Helmes mit keinen rechtlichen Nachteilen verbunden. Seine Ansicht begründet das OLG sehr ausführlich:
„Nicht zu folgen vermag der Senat auch der Auffassung des Erstgerichts, den Kläger treffe an der Entstehung der unfallbedingt eingetretenen Verletzungen wegen Nichttragens eines Fahrradhelms ein Mitverschulden im Sinne von § 254 BGB, durch das sich seine Ersatzforderung mindere.
aa) Diesem vom Landgericht nur im Rahmen des Schmerzensgeldanspruchs berücksichtigten Mitverschuldensgesichtspunkt, der – wenn er zu bejahen wäre – bei allen Schadenspositionen, bei denen sich das Unterlassen des Tragens eines Helms ausgewirkt hätte, zu berücksichtigen wäre, steht entgegen, dass jedenfalls die noch immer vorherrschende Auffassung in der Rechtsprechung (OLG Hamm, NZV 2001, 86 sowie NZV 2002, 129; OLG Stuttgart, VRS 1997, 15; OLG Nürnberg, DAR 1991, 173; OLG Karlsruhe, NZV 1991, 25; OLG Saarbrücken, NZV 2008, 202, 203) eine Obliegenheit zum Tragen eines Schutzhelms durch einen Fahrradfahrer im Straßenverkehr jedenfalls dann nicht annimmt, wenn dieser weder zu schnell, noch den herrschenden Straßenbedingungen unangepasst gefahren ist, sich lediglich auf einer Trainingsfahrt befunden hat und dabei völlig unauffällig gefahren ist, ohne besondere Risiken einzugehen.
Unter dieser Maßgabe ist ein Radfahrer aus Eigenschutzgesichtspunkten daher nur gehalten, einen Schutzhelm zu tragen, wenn er sich als sportlich ambitionierter Fahrer auch außerhalb von Rennsportveranstaltungen besonderen Risiken aussetzt oder infolge seiner persönlichen Disposition – etwa aufgrund von Unerfahrenheit im Umgang mit dem Rad oder den Gefahren des Straßenverkehrs – ein gesteigertes Gefährdungspotential besteht (Saarländische OLG, Urteil vom 9. Oktober 2007 – 4 U 80/07; OLG Düsseldorf, Urteil vom 12. Februar 2007, NJW 2007, 3075 ff.).
Hieran vermag nach Auffassung des Senats auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig vom 5. Juni 2013 (Az. 7 U 11/12) nichts zu ändern. Zutreffend ist zwar, dass – wie dort ausgeführt – Radfahrer heutzutage auch im täglichen Straßenverkehr vielfältigen Gefahren ausgesetzt sind. Der vorliegende Fall belegt jedoch geradezu exemplarisch, dass entsprechend schwerwiegende Verletzungen auch unabhängig von der Dichte des Straßenverkehrs auf vergleichsweise ruhigen Seitenstraßen eintreten können, sodass mithin die Zunahme der Verkehrsdichte allein nicht als Argument für einen Sorgfaltspflichtverstoß gegen sich selbst für den Fall des Unterlassens des Tragens eines Schutzhelms herangezogen werden kann.
Richtig ist auch, worauf das Oberlandesgericht Schleswig ebenfalls abstellt, dass die von der bisherigen Rechtsprechung, insbesondere des Oberlandesgerichts Düsseldorf (a. a. O.), vorgenommene Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Radfahrern – nämlich denjenigen das Fahrrad lediglich als Fortbewegungsmittel nutzenden einerseits sowie den sportlich ambitionierten Fahrern andererseits – durchaus Abgrenzungsschwierigkeiten bereiten kann, zumal aufgrund der technischen Entwicklung auch mit solchen Fahrrädern, bei denen es sich nicht um Rennräder handelt, hohe Geschwindigkeiten erzielt werden können. Gleichwohl vermag jedoch eine solche Differenzierung, die auf eine Einzelfallbetrachtung hinausläuft, den tatsächlichen Verhältnissen im Straßenverkehr am besten gerecht zu werden.
Dabei mag, wie das Oberlandesgericht Schleswig ausführt, zwar das Tragen von Sturzhelmen bei Fahrradfahrern heutzutage bereits mehr verbreitet sein als noch vor einigen Jahren. Eine solche allgemeine Verkehrsauffassung hat der 50. Deutsche Verkehrsgerichtstag allerdings noch 2012 nicht festzustellen vermocht (Scholten, Aktuelles und Bekanntes zum Mitverschulden im Straßenverkehr, DAR Extra 2013, 748, 749 unter Verweis auf Verhandlungen des 50. Verkehrsgerichtstages, AK II, Hamburg 2012). Nach den regelmäßigen Erhebungen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST) waren im Jahr 2011 lediglich 11 % und im Jahr 2012 13 % der Fahrradfahrer innerorts mit Helm unterwegs (Scholten, a. a. O., unter Verweis auf BAST, Forschung kompakt, Nr. 06/13: Gurte, Kindersitze, Helme und Schutzkleidung – 2012). Mithin zeigt sich gerade im täglichen Straßenbild, dass die weit überwiegende Zahl von Fahrradfahrern – und dies dürften insbesondere die weniger dem sportlich ambitionierten Personenkreis, als mehr dem der „Alltagsfahrer“, die das Fahrrad als schlichtes Fortbewegungsmittel benutzen, zuzurechnenden sein – eben keinen Helm benutzen. Diesen Personen grundsätzlich im Fall einer Kopfverletzung ein Mitverschulden ausschließlich infolge des Nichttragens eines Helms anzulasten, ohne dass sie durch ihre Fahrweise zu dem Unfall Anlass gegeben hätten, erscheint dem Senat unangemessen. Hierauf würde allerdings die vom Oberlandesgericht Schleswig vertretene Auffassung hinauslaufen, obwohl auch weiterhin keine gesetzlich geregelte und bußgeldbewehrte Verpflichtung für Fahrradfahrer, selbst für Nutzer bestimmter Arten von E-Bikes, die nicht der Bestimmung des § 21 a Abs. 2 S. 1 StVO unterfallen, zur Nutzung eines Sturzhelms besteht.
Auch aus der Parallele zu sportlichen Betätigungen wie Reiten oder Skifahren lässt sich nach Auffassung des Senats ein Obliegenheitsverstoß von Radfahrern, die auf einen Schutzhelm verzichten, nicht herleiten. Denn bei den vorstehend genannten Tätigkeiten handelt es sich um reine Hobbys, die mit der Nutzung eines Fahrrades zu Transport- und Beförderungszwecken, wie im Alltagsverkehr üblich, nicht vergleichbar sind. Gerade bei Sportarten wie Reiten wegen der damit verbundenen Tiergefahr bzw. beim Skilaufen wegen der dort erzielten vergleichsweise hohen Geschwindigkeiten und weitgehend fehlender „Verkehrsregeln“ liegen spezifische Risiken vor, die sich von denen eines Fahrradfahrers – selbst wenn dieser mit einem Rennrad zu Trainingszwecken im Straßenverkehr unterwegs ist, dort aber ansonsten völlig unauffällig fährt (hierzu LG Koblenz, Urteil vom 4. Oktober 2010 – 5 O 349/09) – deutlich unterscheiden (so insbesondere auch OLG München, BeckRS 2012, 12391).
Hinzu kommt, dass bislang nicht hinreichend erwiesen sein dürfte, dass Fahrradhelme in einer statistisch signifikanten Weise zur Abwendung von Kopfverletzungen beizutragen geeignet sind. Auch das Oberlandesgericht Schleswig geht in dem von ihm entschiedenen Fall unter Berücksichtigung der Ausführungen des dortigen Sachverständigen davon aus, dass die dortige Klägerin für den Fall des Tragens eines Helms gleichwohl Kopfverletzungen erlitten hätte, lediglich deren Ausmaß geringer ausgefallen wäre. Unter dieser Maßgabe gelangt es deswegen zu der Auffassung, dass Fahrradhelme die größte Schutzwirkung ohnehin nur bei leichten bis mittelgradigen Traumen entfalten würden. Generell ist das Ausmaß der Wirksamkeit von Fahrradhelmen jedenfalls schwierig zu qualifizieren (Scholten, Mithaftung ohne Fahrradhelm? – zur Begründung einer allgemeinen Obliegenheit, 50. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2012, S. 65, 74). Dementsprechend lässt sich daher dem Tragen eines Fahrradhelms allenfalls eine tendenzielle Schutzwirkung zuschreiben (LG Koblenz, a. a. O.), was jedoch aus Sicht des Senats eher gegen eine allgemeine Verpflichtung zum Tragen eines solchen Helms im Sinne einer Obliegenheit spricht. Das gilt umso mehr, als es – soweit ersichtlich – bislang auch noch keine zuverlässigen Zahlen über die Wahrscheinlichkeit gibt, in Deutschland Opfer eines Verkehrsunfalls mit einer Kopfverletzung zu werden (vgl. Scholten, a. a. O., S. 76).
Problematisch erwiese sich die Annahme einer Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms auch unter dem Gesichtspunkt, wie eine Kollision zwischen einem Radfahrer und einem Fußgänger zu beurteilen wäre, die beide infolge des Zusammenstoßes auf den Kopf stürzen. Für diesen Fall wäre selbst bei ansonsten gleichen Verursachungsbeiträgen automatisch von einem Mitverschulden und damit geringeren Ersatzansprüchen des keinen Schutzhelm tragenden Fahrradfahrers auszugehen, obwohl ein solcher beim Fußgänger den Eintritt schwerer Kopfverletzungen möglicherweise in gleicher Weise verhindert hätte wie beim Radfahrer.
Der Senat folgt deshalb der von der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen Auffassung, dass sich ein Mitverschulden aus dem Nichttragen eines Fahrradhelms mangels einer hierzu bestehenden gesetzlichen Verpflichtung jedenfalls im Allgemeinen nicht herleiten lässt, sondern ein solches lediglich unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls bei einer besonders risikobehafteten Fahrweise des Radfahrers in Betracht kommen kann.
bb) Dass im konkreten Fall dem Kläger eine solche vorzuwerfen wäre, hat die Beklagte jedoch nicht nachzuweisen vermocht.
Zwar ist wohl davon auszugehen, dass der Kläger als „sportlich ambitionierter“ Fahrer anzusehen ist, da es sich bei der hier zu beurteilenden Unfallfahrt nach seinen eigenen Angaben um eine „Trainingsfahrt“ gehandelt hat, er mit einem Rennrad nahe kommenden Fahrrad unterwegs war und er sich seinen Erklärungen im Strafverfahren gegen die Beklagte zufolge mit dem Fahrer eines Tourenrades als nicht vergleichbar erachtete. Nach seinen dortige Angaben fahre nämlich „ein Fahrer auf einem Rennrad keinem Radfahrer auf einem Tourenrad hinterher“, was wohl dahingehend zu verstehen sein dürfte, dass sich der Kläger selbst als Radfahrer einer „anderen Klasse“ ansah als derjenigen, der er die Beklagte zuordnete.
Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass er sich im Zeitpunkt des Unfallereignisses auch besonderen Risiken ausgesetzt hat. Allein die „sportliche Ambition“ eines Radfahrers begründet nach überwiegender Ansicht nämlich noch nicht eine Obliegenheit zum Tragen eines Helms, soweit er mit seinem Fahrrad nichts anderes tut als ein „gewöhnlicher“ Radfahrer auch.
Hinweise auf eine besonders rasante oder anderweitig risikobehaftete Fahrweise des Klägers hat die Beklagte nicht vorgetragen. Allein aus der Tatsache, dass der Kläger nach den Feststellungen des Sachverständigen T. mit einer Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h auf einer abschüssigen Straße unterwegs war, auf der die Beklagte nach eigenen Angaben selbst etwa 20 km/h fuhr, lässt sich ein besonders gefahrträchtiges Fahrverhalten nicht herleiten. Gleichermaßen ist dem Kläger auch nicht zu widerlegen, dass er seine Trainingsfahrten lediglich zur Verbesserung seiner Ausdauer, nicht hingegen zur Erzielung möglichst hoher Geschwindigkeiten durchgeführt hat.
In Anbetracht dessen lässt sich daher in der Gesamtschau ein Mitverschulden des Klägers auch nicht aus dem Unterlassen von Sicherheitsvorkehrungen, namentlich dem Nichttragen eines Fahrradhelms, herleiten.“
Fazit
Die Entscheidung ist sehr examensrelevant. Wie man sich im Ergebnis hier entscheidet, dürfte zweitrangig sein.
Es bleibt abzuwarten, ob bald eine klärende Entscheidung seitens des BGH ergeht. Dies wäre angesichts der divergierenden instanzgerichtlichen Rechtsprechung zu dieser doch sehr praxisrelevanten Rechtsfrage wünschenswert.
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