OLG Bamberg: Haftung einer Mutter im Straßenverkehr – Gestörte Gesamtschuld
Das OLG Bamberg entschied mit Urteil vom 30.03.2012 einen äußerst examensrelevanten Sachverhalt (Az. 5 U 149/11). Es ging um die Haftungsprivilegierung einer Mutter nach § 1664 BGB bei einem leichten Fehlverhalten wegen Verletzung ihrer elterlichen Aufsichtspflicht. Der Sachverhalt eignet sich darüber hinaus hervorragend, um die Grundsätze rund um die gestörte Gesamtschuld zu diskutieren (s. grundsätzlich zu diesem Problemkreis hier).
Der Fall
Eine Mutter war mit ihrem sechs Jahre alten Sohn als Radfahrer unterwegs. An einer stark befahrenen Straße stiegen beide ab, um diese zu überqueren. Die Mutter meinte, die Straße überqueren zu können, und machte eine leichte Vorwärtsbewegung. Dann bemerkte sie jedoch ein heranfahrendes Auto und blieb stehen. Das Kind nahm die Bewegung der Mutter jedoch zum Anlass die Straße zu überqueren und wurde vom Auto erfasst. Dabei erlitt es schwere Verletzungen. Der Autofahrer brachte vor, die Mutter habe ihre Aufsichtspflicht gegenüber dem Sohn verletzt. Sie hätte ihn an die Hand nehmen müssen, um Fehlreaktionen zu vermeiden. Zudem wäre für den Sohn ein Fahrradhelm erforderlich gewesen. Die beklagte Mutter verteidigte sich damit, dass sie ihren Sohn zur Selbstständigkeit im Straßenverkehr erziehen wollte und ihm deshalb erforderliche Freiräume ließ.
Der Mutter war auf Basis der vorgenannten Umstände vorliegend nur leichte Fahrlässigkeit vorzuwerfen: Die Straße war gut zu übersehen und der 6-jährige hatte sich bis zum Unfall im Straßenverkehr als zuverlässiger und geübter Fahrer gezeigt. Die Mutter hatte sich bei der Einschätzung des Straßenverkehrs nur für den Bruchteil einer Sekunde geirrt. Überdies war die Mutter in der konkreten Situation durch die Sonne geblendet. Auch der Einwand, dass das Kind keinen Helm trug, führt zu keinem anderen Ergebnis: Zum einen gibt es keine gesetzliche Vorschrift über das Tragen von Helmen als Radfahrer. Zum anderen war der Junge in der konkreten Unfallsituation nicht als Radfahrer, sondern als Fußgänger unterwegs, da er sein Rad schob.
Das Haftungsprivileg des § 1664 BGB
Der Autofahrer haftete dem verletzten Jungen zumindest aus § 7 Abs. 1 StVG (s. hierzu ein kürzlich ergangenes examensrelevantes Urteil des BGH hier). Unter Umständen könnte jedoch auch eine Haftung der Mutter nach § 823 Abs. 1 BGB bzw. aus § 1664 BGB direkt (da dieser nach h.M. eine eigene Anspruchsgrundlage darstellt) gegenüber dem Jungen wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht in Betracht kommen. Sofern eine solche Haftung gegeben wäre, bestünde zwischen der Mutter und dem Autofahrer eine Gesamtschuld i.S.d. § 421 BGB, was mithin einen Regressanspruch des Autofahrers gegen die Mutter nach § 426 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BGB zur Folge hätte. Angesichts der Tatsache, dass der Mutter aber vorliegend die Haftungsprivilegierung nach § 1664 BGB zugute kommt, scheidet ihre Haftung aufgrund der o.g. Umstände aus. Nach § 1664 BGB hat die Mutter nämlich nur für eine Verletzung der eigenüblichen Sorgfalt (sog. diligentia quam in suis) einzustehen. In solch einem Fall gilt nicht ein objektiver, sondern ein subjektiver Haftungsmaßstab, der im Normalfall milder sein wird als die sonst übliche Haftung für einfache Fahrlässigkeit. Für grobe Fahrlässigkeit hätte die Mutter zwar selbst dann einzustehen, wenn sie in eigenen Angelegenheiten weniger sorgfältig ist (vgl. § 277 BGB), jedoch lag im vorliegenden Fall nur einfache Fahrlässigkeit vor.
Eigenübliche Sorgfalt im Straßenverkehr?
Dieses Ergebnis relativiert sich nach überzeugender Argumentation auch nicht deshalb, weil der hier geschilderte Fall eine Situation im Straßenverkehr darstellt. Nach Rechtsprechung des BGH ist zwar bei der Teilnahme am Straßenverkehr grundsätzlich kein Raum für eine eigenübliche Sorgfalt, jedoch ergibt sich m.E. anderes für den hier vorliegenden Sachverhalt. Das OLG Hamm (Urteil vom 20.01.1992 – 6 U 183/91) argumentiert zu derartigen Konstellationen in der folgenden Weise, womit das Haftungsprivileg trotz des Bezugs zum Straßenverkehr aufrechterhalten wird.
Die Frage, auf welche Sachverhalte die Haftungserleichterung des § 1664 BGB anwendbar ist, ist sehr umstritten. Teilweise wird die Auffassung vertreten, § 1664 BGB gelte nicht für Schäden des Kindes, die sich aus einer Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern gegenüber dem Kind oder aus einer deliktischen Haftung der Eltern gegenüber dem Kind ergeben (Palandt-Diederichsen, BGB, 51. Aufl., § 1664 Rdnr. 2 f.; Hinz, in: MünchKomm, 2. Aufl., § 1664 Rdnr. 6; Adelmann, in: RGRK, 12. Aufl., § 1664Rdnr. 13 f.; RGZ 75, 251; OLG Karlsruhe, Justiz 1976, 511; 1979, 59; OLG Stuttgart, VersR 1980, 957). Begründet wird dies damit, die Aufsichtspflicht sei nach objektiven Kriterien zu bestimmen, die Haftungserleichterung des § 1664 BGB könne keine Anwendung finden, wenn allgemeine, gegenüber jedermann bestehende Rechtspflichten verletzt würden.
In Literatur und Rechtsprechung nehmen aber die Stimmen zu, die sich gegen eine derart weitgehende Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 1664 BGB aussprechen. Insbesondere wird zunehmend vertreten, § 1664 BGB gelte auch für deliktisch begründete Ersatzmöglichkeiten, sofern die zum Schadensersatz verpflichtende Handlung im inneren Zusammenhang mit der Ausübung der elterlichen Sorge stehe, insbesondere auch für Verletzungen des Kindes infolge mangelnder Beaufsichtigung (so Soergel-Strätz, BGB, 12. Aufl., § 1664 Rdnr. 4; anders noch Soergel-Lange, 10. Aufl., § 1664 Rdnr. 4; vgl. auch Erman-Michalski, BGB, 8. Aufl., § 1664 Rdnr. 6; Sundermann, JZ 1989, 927 (933); Lange, JZ 1989, 48 (49)).
Der BGH hat in einem ähnlich gelagerten Fall die Frage, ob der Mutter das Haftungsprivileg des § 1664 BGB zugutekommt, offengelassen (NJW 1974, 2124 (2126)). In seiner Entscheidung vom 1. 3. 1988 (NJW 1988, 2667) hat der BGH die Auffassung vertreten, daß § 1664 BGB auch im Falle der Verletzung deliktischer Verhaltenspflichten jedenfalls dann anwendbar sei, wenn die Schutzpflichtigen ganz in der Sorge für die Person des Kindes aufgingen; die Frage, ob § 1664 BGB auch bei Verletzung der Verkehrssicherungspflichten, etwa der Aufsichtspflicht nach § 832 BGB, und für den Bereich der Teilnahme am Straßenverkehr anzuwenden ist, hat er wiederum offengelassen.
[…]
Der Senat neigt zu der Auffassung, daß § 1664 BGB nur dann nicht anwendbar ist, wenn die Verletzung des Kindes durch die Eltern bei der Führung eines Kraftfahrzeugs erfolgt.
Für eine weitergehende Beschränkung der Anwendung des § 1664 BGB sieht der Senat keinen Anlaß. Eine gesetzliche Regelung, die eine derartige Beschränkung vorsieht, fehlt. Hinz (in: MünchKomm, § 1664 Rdnr. 6) und Sundermann, (JZ 1989, 927(933)) weisen zu Recht darauf hin, daß Haftungserleichterungen in der Regel auf umfassende Wirkung angelegt sind und daß deshalb die Beschränkung der Anwendung des § 1664 BGB systemwidrig ist. Daß Eltern (s. insoweit den vom RG in RGZ 75, 251gezogenen Vergleich) ihrem eigenen Kind in (mindestens) gleicher Weise Beaufsichtigung schulden wie einem fremden Kind, dessen Beaufsichtigung sie übernommen haben, ist selbstverständlich. Damit ist aber nach der Auffassung des Senats noch nicht die Frage beantwortet, ob die Eltern ihrem eigenen Kind im Falle der Verletzung der Aufsichtspflicht Schadensersatz zu leisten haben. Der Fall, daß infolge der Verletzung der Aufsichtspflicht einem Dritten durch das Kind Schaden zugefügt wird, ist in § 832BGB ausdrücklich geregelt. Vor derartiger Inanspruchnahme können sich Eltern durch den Abschluß einer Haftpflichtversicherung schützen. Im Falle der Verletzung des eigenen Kindes ist das dagegen nicht möglich. Die Bekl. hat hier vergeblich versucht, die Deckungszusage ihres privaten Haftpflichtversicherers zu erlangen; dieser hat seine Deckungspflicht zu Recht unter Hinweis auf § 4 II 2a AHB abgelehnt. Andererseits ist das eigene Kind im Falle der Schädigung infolge Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Eltern auch ohne Schadensersatzanspruch gegen seine Eltern durch die bestehende Unterhaltspflicht der Eltern weitgehend geschützt. Insgesamt sieht der Senat deshalb keine Notwendigkeit, die Haftungserleichterung des § 1664 BGB, vom Bereich des Kraftverkehrs abgesehen, auf die Haftung der Eltern wegen Verletzung von Schutzpflichten gegenüber ihrem Kind nicht anzuwenden. Der Senat ist mit Christensen (MDR 1989, 948) der Auffassung, daß die Lösung, die sich aus der Anwendung des Gesetzeswortlauts ergibt, hier auch sinnvoll ist und insbesondere Billigkeitserwägungen nicht entgegenstehen.
Diese Argumentation überzeugt, denn im Raume steht primär die Sorgfalt, die die Mutter bei der Handhabe mit ihrem Kind walten lässt, insbesondere also die Frage: “hätte die Mutter das Kind durchgehend an der Hand halten müssen” bzw. “hätte das Kind zum Helmtragen animiert werden müssen”. Es geht also vielmehr um die Sorgfaltspflichten und Erziehungsmaßnahmen, die die Mutter gegenüber dem Kind hätte walten lassen müssen und weniger um sorgfaltsgerechtes Verhalten im Straßenverkehr. Eine andere Ansicht ist natürlich dennoch sehr gut vertretbar, denn man kann genauso argumentieren, dass die sicherheitsgerechte Mitnahme von Kindern gerade eine Grundvoraussetzung für eine ordnungsgemäße Teilnahme im Straßenverkehr darstellt. Sofern man sich im hier diskutierten Fall allerdings gegen eine Haftungsprivilegierung der Mutter entscheidet, wird man nicht mehr zu den nachfolgenden Problemen kommen, so dass die Klausurtaktik die Einschlägigkeit des verringerten Haftungsmaßstabs gebietet.
Minderung nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld
Da die Mutter aufgrund der Haftungsprivilegierung nicht haftet, könnte man nunmehr diskutieren, ob nicht der Anspruch des Jungen gegen den Autofahrer nach den Grundsätzen zur gestörten Gesamtschuld zu mindern wäre. Hierzu werden verschiedene Ansichten vertreten (s. dazu hier). Der BGH lehnt eine Anspruchsminderung in Fällen des § 1664 BGB allerdings regelmäßig ab, da die gesetzgeberische Wertung der Haftungsprivilegierung nicht unterlaufen werden solle. Schließt man sich im vorliegenden Fall dieser Linie an, so würde eine Anspruchsminderung nach den Grundsätzen zur gestörten Gesamtschuld ausscheiden. Es bliebe bei einer vollen Haftung des Autofahrers.
Examensrelevanz
Die gestörte Gesamtschuld ist eine gern abgeprüfte Materie. Der Sachverhalt, der dem Urteil des OLG Bamberg zugrunde lag, lässt sich optimal in eine Examensklausur transponieren. Im Rahmen der Diskussion einer Haftung der Mutter dürfte in einer Klausur nicht vorschnell eine Enthaftung nach § 1664 BGB angenommen werden. Vielmehr müssten alle im Sachverhalt zur Verfügung stehenden Informationen in die Subsumtion des Begriffs der eigenüblichen Sorgfalt eingestellt werden. Auch die Frage, ob der Konnex zum Straßenverkehr ein anderes Ergebnis gebietet, muss Eingang in die Prüfung finden. Sofern dann nahe liegt, dass eine (direkte) Haftung der Mutter nicht in Betracht kommt, können die Baustellen rund um die verschiedenen Ansichten der gestörten Gesamtschuld bearbeitet werden.
Die gestörte Gesamtschuld ist DER Examensklassiker!
Danke für den Beitrag.
Als Anspruchsgrundlage des Kindes gegen die Mutter würde ich aber statt auf §823 BGB, zunächst auf §1664 BGB abstellen.
Die h. M. sieht §1664 BGB ja gerade als Anspruchsgrundlage für Ansprüche des Kindes gegen die Mutter (auch bei Aufsichtspflichtverletzungen) an. Dessen Heranziehung liegt dann doch näher.
Viele Grüße
Philipp
@Philipp: Ja, da hast du Recht (nach h.M.; wobei es dazu keine BGH-Entscheidung gibt und viele Literaturstimmen das Gegenteil vertreten). Hatte ich im hiesigen Kontext übersehen. § 823 BGB bleibt natürlich daneben anwendbar. Im Rahmen der Diskussion der Anspruchskürzung via gestörter Gesamtschuld kann die Anspruchsgrundlage natürlich auch dahingestellt bleiben.
Könnte man nicht 1664 hier dahingehend reduzieren, dass hier eine Straßenverkehrssituation vorliegt, 277 also auch nicht gilt und der Anspruch des S gg M also ungekürzt entsteht, mithin also keine gest. GS vorhanden ist…
Zwischen Ehegatten entspricht das der Lösung des BGH seit BGHZ 53, 352.
Und hier im Fall? Warum greift da der Grundsatz „keine Raum für eigenübliche Sorgfalt im Straßenverkehr“ denn nicht?
Im hier vorliegenden Fall geht es primär um die Sorgfalt, die die Mutter bei der Handhabe mit ihrem Kind walten lässt, insbesondere also die Frage: „hätte die Mutter das Kind durchgehend an der Hand halten müssen“ bzw. „hätte das Kind zum Helmtragen animiert werden müssen“.
Ich denke, dass im Kontext dieser Sorgfaltspflichten keine „Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr“ im Sinne der Rechtsprechung des BGH anzunehmen ist. Vergleichbar argumentiert für einen äußerst ähnlichen Fall etwa OLG Hamm, Urteil vom 20-01-1992 – 6 U 183/91 = NJW 1993, 542. Der allgemeine Grundsatz, dass für eigenübliche Sorgfalt im Straßenverkehr kein Raum ist, gilt deshalb etwa dann, wenn die Mutter das Kind im Auto mitnimmt und infolge eines verkehrswidrigen Verhaltens einen Unfall baut, nach überzeugender Argumentation jedoch nicht jedoch in den hier diskutierten Fällen.
Vielen Dank für die hilfreichen Ergänzungen. Die weitergehenden Erwägungen sind nunmehr in den Beitrag eingearbeitet.
Danke für die erhellenden Ausführungen!