Öffentliches Recht Ö II – April 2012 – 1. Staatsexamen Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin
Soeben erreichte uns folgendes Gedächtnisprotokoll in Stichpunkten der 2. Klausur im Ö-Recht im 1. Staatsexamen im April 2012 (Hamburg, M-P). Vielen Dank dafür an Patric. Die Entscheidung beruht nach Recherchen unseres Lesers in etwa auf einem Urteil des OVG Lüneburg vom 21.12.2009, Az. 2 ME 44/09.
Unser Examensreport lebt von Eurer Mithilfe. Deshalb bitten wir Euch, uns Gedächtnisprotokolle Eurer Klausuren zuzuschicken, damit wir sie veröffentlichen können. Nur so können Eure Nachfolger genauso von der Seite profitieren, wie Ihr es getan habt. Vorab vielen Dank!
Sachverhalt
– X ist 18-jähriger Schüler der 12. Jahrgangsstufe des A-Gymnasiums in B-Stadt.
– Auf seiner privaten Internetseite hat er einen Eintrag verfasst, der eine Abiturparty seines Jahrgangs in Aussicht stellt, wenn der Mitschüler Y getötet würde. Im „Chatbereich“ der Homepage finden sich weitere Einträge von Dritten(!), die u.a. einen bewaffnete Amoklauf mit Maschinenpistolen in dem A-Gymnasium thematisieren.
– Diese Vorfälle beunruhigen Schüler und Eltern des A-Gymnasiums sehr stark. Am 29.02.2012 muss sogar der Schulunterricht nach der zweiten Unterrichtsstunde abgebrochen werden.
– Nach Beratungen mit dem Lehrerkollegium erlässt die Schulbehörde S eine Überweisung des X an die C-Schule in der 35 km entfernt liegenden D-Stadt. Gleichzeitig verfügt die Schulbehörde S die sofortige Vollziehung der Überweisung und begründet diese auch. Die Begründung der sof. Vollziehung unterschied sich dabei (qualitativ) von der Begründung der Grundverfügung.
– Jedenfalls sei die Maßnahme dringend geboten, weil X den Schulfrieden nachhaltig stört. Außerdem taste er die Menschenwürde des Y an. Es sei geboten, schon bei der kleinsten Verletzung der Menschenwürde durchzugreifen, auch wenn man sich bewusst sei, dass die Maßnahme für X sehr einschneidend ist. Außerdem stünde der Behörde ein „pädagogisches Ermessen“ zu, was gerichtlich nur beschränkt überprüfbar sei.
– Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist abgedruckt, die X mitteilt, dass binnen einen Monats nach Bekanntgabe des Bescheids Widerspruch beim Schulamt S mit genau bezeichnetem Sitz eingelegt werden könne.
– Verfügung wird am 12.03.2012 zur Post gegeben und erreicht X sowie seine Eltern am 13.03.2012.
– X erhebt am11.04.2012 Widerspruch beim Ministerium für Bildung. Dort trifft der Widerspruch am 13.04.2012 ein und wird am 17.04.2012 an das Schulamt S weitergeleitet.
– Vorher, am 11.04.2012 wendet sich X allerdings an das zuständige VG und begehrt vorläufigen Rechtsschutz. Für ihn sei die Maßnahme „völlig überzogen“. Er hat das nur als – wenn auch schlechten – Spaß gemeint. Außerdem können die nachweislich von Dritten stammenden Äußerungen nicht ihm zugerechnet werden. Weiterhin verursache die tägliche Fahrt Kosten in Höhe von mehr als € 70,-. Schließlich könne der Schulwechsel den Bildungserfolg des X nachhaltig beeinträchtigen.
Bearbeitervermerke:
– S ist die zuständige Ausgangs- und Widerspruchsbehörde.
– S ist auch gegen die Dritten vorgegangen, die auf der Homepage im „Chatbereich“ geschrieben hatten. (DER BEARBEITERVERMERK SAGTE ABER NICHT, WIE GENAU!)
– Man soll davon ausgehen, dass weitere Normen aus dem SchulGL nicht relevant seien
– Das VwVfG des Landes entspricht dem Bundes-VwVfG. Im Übrigen wäre, soweit es darauf ankommt, Hamburger LandesR anwendbar.
– Der Antrag des X genügt den Anforderungen der §§ 81, 82 VwGO.
Fallfrage:
Ist der Antrag auf Rechtsschutz des X begründet? Nehmen Sie dabei – gegebenenfalls Hilfsgutachterlich – zu allen im Sachverhalt aufgeworfenen Fragen Stellung.
Anmerkung: § 60a SchulG des Landes im Fall war abgedruckt.
60 a SchulGLSinngemäß: Erlaubt Schule bzw. Behörde Ordnungsmaßnahmen wie Schulüberweisung etc., Gefahren für Schul- und Unterrichtsbetrieb, Sicherheit von Personen, Sachschäden, Beeinträchtigungen von Mitschülern in besonders schwerem Maß drohen , der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet ist, der Schüler Vorsatz hatte oder Fahrlässigkeit vorlag und eine Anhörung erfolgte.
Dieselbe Klausur war auch heute die ÖII in Berlin.
In NRW lief sie heute auch, minimal abgeändert. Wir durften das SchulG NW nicht benutzen, durften aber sonst Landesrecht anwenden.
Das angegebene AZ ist falsch – hierunter findet man die Entscheidung des OVG Lüneburg:
OVG Lüneburg 2. Senat, Beschluss vom 26.01.2010, 2 ME 444/09
In Berlin war auch noch im SV zu lesen, dass S die Kommentare über den Amoklauf (‚Da müsse man mal mit der Kalaschnikow durchgehen‘) mit ‚geil!‘ kommentiert hat. Die Fahrt zur anderen Schule würde 1h mehr Zeit in Anspruch nehmen, er habe die Homepage vom Netz genommen und sich bei Y entschuldigt.
In Hmb war die Rechtsbehelfsbelehrung derart formuliert, dass Widerspruch innerhalb eines Monats nach „Zugang“ des Bescheids zu erheben ist.
Die Belehrung war damit mE fehlerhaft wg des falschen Fristbeginns, denn die Frist beginnt gem. 70 vwgo mit „Bekanntgabe“ des VA.
@Sabine: Stimmt! In HH stand auch, dass er sich entschuldigt hat und die Website vom Netz genommen hat.
In Berlin war die Rechtsbehelfsbelehrung wie in HMB formuliert und auch m.E. feherhaft,sodass nur die Jahresfrist nach § 58 ausgelöst wurde.
Ansonsten ist auffällig,dass das beigefügte Schulgesetz MV von der niedersächsischen EGL,die für das OVG Lüneburg maßgeblich war, erheblich abweicht.
@A:
in dem Urteil geht es aber doch um eine förmliche Zustellung (aufgrund des Einschreibens/Rückschein); in Berlin/Hmb war es ein einfacher Brief
Habt ihr 80 V Vwgo geprüft?
Wo habt ihr das Zurechnungsproblem (also dass andere auf der HP des X Einträge gepostet haben) verortet? Ich habe es in einer Art „Störer“-Problematik im Tatbestand aufgegriffen und dann argumentiert, dass er eine Beseitigungspflicht hatte, die er verletzt hat (=Verhaltensstörer)…
Seid ihr auf Grundrechte eingegangen? Ich hab nur ganz kurz Art. 12 I GG für X abgelehnt, da Schulausbildung davon nicht erfasst.
Die Klausur fand ich insgesamt etwas zu lang.
Grundrechte sollten lt. Vermerk in NRW nicht geprüft werden.
Habe da gar keine Störerproblematik gesehen. X selbst hat doch den Mitschüler auf der Homepage beleidigt und zudem die Äußerungen mit „geil“kommentiert.Wieso sollte er dann nicht unproblematisch Verhaltensstörer sein?
Art.12 GG hab ich auch rein gebracht und argumentiert,dass er jedenfalls schutzverstärkend zu berücksichtigen ist ,weil das Abitur unmittelbar bevorsteht und dies eine wichtige Prüfung im Hinblick auf den weiteren Lebensweg ist.
okay jetzt versteh ich was du mit der Störerproblematik meinst,Laura…
hmmm war der Sachverhalt in Berlin vllt. doch etwas anders?Ich meine die Sache mit der Zurechnung stand bei uns nicht drin?Aber jetzt bin ich mir aufeinmal gar nicht mehr sicher.