Neues zur Fluggastrechteverordnung: Höhe des Ausgleichsanspruchs
Der BGH hat sich wieder einmal zu einer Rechtsfrage im Zusammenhang mit der Fluggastrechteverordnung VO (EG) Nr. 261/2004 geäußert (Entscheidung v. 14.10.2010 – Xa ZR 17/10). Diesmal ging es um die Frage, wie hoch der Ausgleichsanspruch für einen Zubringerflug ist – kommt es auf die Entfernung zum Ort der Zwischenlandung oder zur endgültigen Destination an?
Die Darstellung beruht auf der oben verlinkten Pressemitteilung und wurde aus didaktischen Gründen leicht abgewandelt.
Sachverhalt: Der Beklagte hatte bei der Klägerin KLM eine Flug von Berlin über Amsterdam nach Curaçao (Aruba) und zurück nach Amsterdam gebucht. Der Flug von Berlin nach Amsterdam war für den 3. Mai 2005 um 11:40 Uhr vorgesehen, der Anschlussflug von Amsterdam nach Aruba sollte um 14:25 Uhr starten. Ungefähr zwei Stunden vor dem Abflug aus Berlin zog die Klägerin die Flugscheine ein und gab stattdessen Flugscheine für einen Flug am darauf folgenden Tag mit Abflug in Berlin um 9:05 Uhr und Abflug in Amsterdam um 14:25 Uhr aus. Der Beklagte und seine Ehefrau kamen deshalb einen Tag später als geplant in Aruba an.
Die Klägerin verlangt im Jahr 2006 (Abwandlung des Bearbeiter) die Vergütung für den Flug (in. Höhe von 500 €, Ergänzung des Bearbeiters). Der Beklagte erklärt, er rechne mit seinem Gegenanspruch aus der FluggastrechteVO auf. Gehen sie im Übrigen davon aus, dass deutsches Recht Anwendung findet.
Lösung:
Im vorliegenden Fall hatte der BGH nur die Höhe des Gegenanspruchs aus der FluggastVO zu klären. Dieser ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 VO.
In einem Klausurfall wäre natürlich zunächst das Bestehen des Anspruchs der Fluggesellschaft zu prüfen. Dieser folgt zunächst aus dem Beförderungsvertrag, der wohl als Werkvertrag zu qualifizieren ist, § 631 BGB. Für das Bestehen des Hauptleistungsanspruchs kommt es auf den Vertragstyp jedoch zunächst nicht an, da sich der Zahlungsanspruch unmittelbar aus der vertraglichen Abrede ergibt. Sodann dürfte er nicht bereits vor Erklärung der Aufrechnung (§ 388 BGB) erloschen sein. Man könnte man an ein Erlöschen gem. § 326 Abs. 1 S. 1 BGB denken, insbesondere in Fällen, in denen anders als hier der Flug nicht mehr angetreten wurde. Voraussetzung dafür ist das Unmöglichwerden der Gegenleistung, hier also der Beförderungsleistung, gem. § 275 Abs. 1 BGB. Da ein Flug nach Aruba grundsätzlich noch möglich ist, kommt hier nur eine Unmöglichkeit in Folge von Zeitablauf in Betracht. Das wäre nur der Fall, wenn die Beförderungsleistung als absolute Fixschuld einzustufen wäre. Das ist nicht überzeugend; dem Passagier ist nicht damit geholfen, den Beförderungsanspruch im Falle einer Verspätung zu verlieren. Wie sich auch am vorliegenden Fall zeigt, möchte er im Zweifel auch noch verspätet befödert werden. Damit besteht der Anspruch noch. (Sollte der Flug nicht angetreten worden sein, kann man aber z.B. ein Rücktritt nach § 323 Abs. 1 BGB vorliegen).
Der Anspruch auf Zahlung des Flugpreises könnte jedoch durch Aufrechnung erloschen sein, § 389 BGB. Voraussetzung für das Bestehen einer Aufrechungslage. Ein Anspruch, gegen den aufgerechnet werden kann, besteht mit dem Anspruch auf Zahlung des Flugpreises (s.o.). Er ist auch erfüllbar (§ 271 BGB). Einzig fraglich, ob dem Beklagten ein fälliger Gegenanspruch in mindestens gleicher Höhe zusteht.
Dieser könnte aus Art. 7 Abs. 1 VO ergeben. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass diese VO anwendbar ist. Das ist sie, da sie gem. Art. 3 für alle Fluggäste die auf Flughäfen eines Mitgliedsstaates, der dem Anwendungsbereich des AEU unterliegt, gilt. Berlin ist ein solcher Flughafen.
Art. 3
Anwendungsbereich
(1) Diese Verordnung gilt
a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;
b) sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.
Ferner müsste gem. Art. 7 Abs. 1 VO auf diesen Artikel Bezug genommen worden sein. In Betracht kommt hier die Verweisung des Art. 5 Abs. 1 lit. c VO. Dieser verweist für den Fall, dass eine Annulierung des Fluges vorgenommen wurde, auf Art. 7 Abs. 1 VO. Vorliegend handelt es sich um eine Annulierung (vgl. zum Begriff Art. 2 lit. l), zumindest des Zubringerfluges, da der angekündigte Flug nicht durchgeführt wurde. Der Flug am nächsten Tag ist ein anderer Flug, für ihn wurden auch andere Bordkarten ausgegeben.
Damit bemisst sich die Höhe des Anspruchs nach Art. 7 Abs. 1. Fraglich ist, ob hier Art. 7 Abs. 1 lit. a oder c einschlägig ist. Dies hängt davon ab, ob für die Länge des Fluges auf die Entfernung vom Abflugort zum Ort der Zwischenlandung (Berlin-Amsterdam) oder zum endgültigen Zielort (Berlin-Aruba) abgestellt wird. Der BGH hat entschieden, dass es auf den endgültigen Zielort ankommt:
Der Bundesgerichtshof hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat er – anders als das Berufungsgericht und ähnlich wie das Amtsgericht – ausgeführt, dass dem Beklagten schon wegen der Annullierung des Fluges von Berlin nach Amsterdam ein Ausgleichsanspruch von 600 Euro pro Person zusteht. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist für die Bemessung der Ausgleichszahlung nicht nur die Entfernung zum Zielort des annullierten Zubringerflugs maßgeblich. Vielmehr sind im Falle von direkten Anschlussflügen auch die weiteren Zielorte zu berücksichtigen, an denen der Fluggast infolge der Annullierung verspätet ankommt. Dies ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 Satz 2 der Fluggastrechteverordnung, der für die Höhe der Ausgleichszahlung an die Entfernung zum „letzten Zielort“ anknüpft. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-173/07 (Emirates./.Schenkel), wonach Hin- und Rückflug als gesonderte Flüge im Sinne von Art. 3 der Fluggastrechteverordnung anzusehen sind, spricht nicht gegen, sondern für diese Auslegung. Bestätigt wird dieses Ergebnis ferner durch die Rechtsprechung des EuGH zum Ausgleichsanspruch wegen erheblicher Verspätung. Dieser setzt voraus, dass der Fluggast das Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht. Bei direkten Anschlussflügen im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Fluggastrechteverordnung ist mithin nicht eine Verspätung am Zielort einer einzelnen Teilstrecke maßgeblich, sondern eine Verspätung am Endziel. Bei einer Annullierung kann nichts anderes gelten.
S. auch:
Artikel 7 Ausgleichsanspruch
(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten
die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von
1 500 km oder weniger,
b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über
eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen
anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km
und 3 500 km,
c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b)
fallenden Flügen.
Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort
zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung
oder der Annullierung später als zur planmäßigen
Ankunftszeit ankommt.
Art 2 Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
h) „Endziel“ den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen den Zielort des letzten Fluges; verfügbare alternative Anschlussflüge bleiben unberücksichtigt, wenn die planmäßige Ankunftszeit eingehalten wird;
Danach besteht hier gem. Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. c VO ein fälliger Gegenanspruch i.H.v. 600 €. Der Anspruch der Klägerin ist daher in voller Höhe erschloschen.
In einer Klausur wäre vermutlich noch gefragt, ob und in welcher Höhe ein Anspruch in Hinblick auf den Flug von Amsterdam nach Aruba besteht. Da der Flug als solcher durchgeführt wurde und nur die Beklagten nicht auf ihm waren, wird man eher an eine Nichtbeförderung (Art. 2 lit. j, beachte auch Art. 3 Abs. 2 lit. b) denken können. Gem. Art. 4 Abs. 3 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. c bestünde dann auch hierfür ein Ausgleichsanspruch i.H.v. 600 €. Allerdings kann man darüber streiten, ob es tatsächlich um eine Nichtbeförderung im Sinne der Richtlinie geht. Immerhin müssen sich laut Art. 2 lit j die Fluggäste „am Flugsteig“ eingefunden haben. Hier wird wohl der Flugsteig am Ort der Zwischenlandung gemeint sein. Dann erhielten sie nur für den Zubringerflug eine Entschädigung. Dafür spräche immerhin, dass sie sonst besser stünden als bei einem Direktflug zum Endziel. Allerdings könnte man unter Hinweis auf Art. 3 Abs. 2 lit. b ggf. auch begründen, dass hier ein „Erscheinen am Flugsteig“ vorliegt. Das hat im vorliegenden Fall wohl das Berufungsgericht getan, genauers lässt sich aus der Pressemitteilung nicht ersehen.
Examensrelevanz: Die Fluggastrechteverordnung ist M.E. hoch examensrelevant. Sie ist rechtspolitisch interessant, weil sie das erste unmittelbar anwendbare europäische Recht darstellt, das (Kern-)zivilrechtliche Materien regelt und mit dem die Bürger im Alltag in Berührung kommen. Außerdem bietet sie eine gute Gelegenheit, das selbstständige Verständnis weitgehend unbekannter Normtexte abzuprüfen.
Mir ist die FluggastVO völlig unbekannt. Gibts die bereits in einer Gesetzessammlung? Oder meinst du die relvanten Artikel werden dann im Examen abgedruckt?
Soweit ich weiß, ist sie noch in keiner Gesetzessammlung enthalten. Trotzdem denke ich, dass sie hoch examensrelevant ist: Es häufen sich in letzter Zeit Urteil hierzu (werden auch z.B. in der RÜ abgedruckt) und das Thema war auch wiederholt in der Presse.
Wie Du sagtest werden die entsprechenden Artikel abgedruckt werden. Das ist üblich; bei meinem Examen wurde etwa die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie geprüft, indem die entsprechenden Artikel mitgeteilt wurden.
Bin Deiner Anregung gefolgt und lese mich gerade durch die FluggastVO und die relevanten BGH/EuGH Entscheidungen.
Ich steh allerdings bei einer Sache auf der Leitung:
Muss man den Wortlaut des Art. 7 Abs.1 so verstehen, dass bei Nicht-Antritt der Reise wegen Wegfall des Reisezwecks aufgrund der Annullierung des Hinfluges kein Ausgleichsanspruchs besteht?
Zitat:
„Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrundegelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderrung oder der Annullierung SPÄTER … ankommt.“
Wenn die Reise gar nicht angetreten werden kann, kann man logischerweise auch nicht später ankommen!
Allerdings steht in der Begründung der VO unter Abs. 8:
„…und denjenigen, die letztlich NICHT befördert werden, eine vollwertige Ausgleichsleistung zu erbringen.“
Hier muss doch wohl im Sinne des Gesetzeszweckes eine Analogie vorgenommen werden, oder?
Ein Fluggast dessen Reise gar nicht mehr stattfindet, hat doch den höheren Schaden als derjenige der aufgrund der Verspätung lediglich einen Zeitverlust erleidet!
*confused*
Hi Felix,
wie Du richtig erkannt hast, wäre es seltsam, wenn ein Fluggast, der überhaupt nicht befördert wird, schlechter stünde als einer, der (lediglich) verspätet eintrifft.
Bei einer Annulierung geht es – wenn man mal die Konstellation außer Betracht lässt, dass ein Zubringerflug annuliert wird – um die (endgültige) Nichtdurchführung eines Fluges (Art. 2 lit. l).
Deshalb kann man schon aus dem Verweis von Art. 5 Abs. 1 lit c auf Art. 7 Abs. 1 folgern, dass es nicht notwendig sein kann, dass der Fluggast überhaupt am Zielort eintrifft.
Das macht auch deshalb keinen Sinn, weil bei einer reinen Verspätung eigentlich ohnehin nicht auf Art. 7 Abs. 1 verwiesen wird (vgl. mal den Wortlaut von Art. 6) Allerdings wendet der EuGH Art. 7 Abs. 1 natürlich trotz der fehlender Verweisung an, so dass dieses Argument nicht so schlagkräftig ist (EuGH v. 19.11.2009 – C-402/07, Rn. 41ff.)
Der von Dir zitierte Art. 7 Abs. 1 Unterabsatz 1 betrifft M.E. in seinem ursprünglichen (also ohne die Einbeziehung von Verspätungen) Sinn z.B. folgende Konstellation: Jemand fliegt von Frankfurt über London nach Sydney.
Bei dem Flug nach London wird der Passagier (z.B. wegen Überbuchung) nicht befördert, er kommt aber mit einem anderen Flug als Ersatzbeförderung (Art. 4 Abs. 3 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 lit. a dritter Spiegelstrich) dort 10h später an.
Weil in London ohnehin ein 18-stündiger Aufenthalt vorgesehen war, erreicht der Passagier seinen Anschluss nach Sydney und kommt dort planmäßig an. In dem Fall bekommt der Passagier nur einen Ausgleichsanspruch für die Nichtbeförderung bis London (Art. 7 Abs. 1 lit a i.V.m. Art .
Ich hoffe, das hat etwas Klärung gebracht,
mit besten Grüßen
Johannes