Klarstellung: Überhangmandate sind nicht per se verfassungswidrig
Aber im Fernsehen haben die doch gesagt, …
Anlässlich der Bundestagswahl 2009 wurde im Fernsehen immer wieder von „Experten“ das deutsche Wahlrecht erklärt. Dabei wurde vor allem auch ausführlich erläutert, wie es zu sog. Überhangmandaten kommt, da diese bei der diesjährigen Wahl eine besonders wichtige Rolle gespielt haben und beinahe sogar zum Zünglein an der Waage geworden wären. In diesem Zusammenhang wurde auch immer wieder von Politikern, Journalisten und „Experten“ darauf hingewiesen, dass das BVerfG eigentlich entschieden habe, dass die Überhangmandate verfassungswidrig seien und bis 2011 eine Reform erforderlich sei. SPD-Politiker argumentierten, dass eine schwarz-gelbe Mehrheit auf der Grundlage von Überhangmandaten zwar (noch) legal, aber nicht legitim sei.
Was aber hat das BVerfG nun wirklich entschieden? Sind die Überhangmandate selbst per se verfassungswidrig?
BVerfG: Überhangmandate können verfassungskonform sein
Wie so oft wurde im Fernsehen die wahre Sachlage verkürzt und vereinfacht und daher leider auch juristisch ungenau dargestellt. Maßgebende Entscheidung des BVerfG ist das Urteil vom 3. 7. 2008 – 2 BvC 1/07 und 2 BvC 7/07, JuS 2008, 1112. Hier wurde indirekt bestätigt, was das BVerfG bereits in einem Urteil vom 10.04.1997 – 2 BvF 1/95, NJW 1997, 1553 mit 4:4 Stimmen (!) entschieden hatte: Überhangmandate sind verfassungsrechtlich zwar problematisch, aber im Ergebnis zulässig. Geprüft wurde vor allem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und der Unmittelbarkeit der Wahl (s. zu den Argumenten pro und contra: Lenz, NJW 1997, 1534).
Effekt des negativen Stimmgewichts ist verfassungswidrig
Das BVerfG entschied hingegen eindeutig, dass die §§ 7 III 2 i.V. mit 6 IV und V des Bundeswahlgesetzes verfassungswidrig sind, denn sie können dazu führen, dass einer Stimme ein negatives Gewicht zukommt: „§§ 7 III 2 i.V. mit 6 IV und V BWG verletzt die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.“ Der Effekt des negativen Stimmgewichts, der durch die genannten Regelungen bewirkt wird, bedeutet, dass der Gewinn von Zweitstimmen einer Partei zu einem Mandatsverlust bei genau dieser Partei führen kann. Umgekehrt kann eine Partei auch durch mehr Zweitstimmen ein Überhangmandat verlieren und somit in der Gesamtszahl schlechter stehen. Bei einer Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 in Dresden konnten die Wähler – sofern sie denn das Wahlsystem verstanden hatten – das Ergebnis positiv für die CDU beeinflussen, wenn sie die CDU nicht mit der Zweitstimme wählten.
Bei dieser Entscheidung ging es um die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 38 I GG). Nach dem Grundsatz der gleichen Wahl muss jede Stimme den gleichen Zählwert und den gleichen Erfolgswert haben. Insfern führt das BverfG zu den angegriffenen Vorschriften aus: „Die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen bei der Verhältniswahl verlangt nicht, dass sich – bei einer ex-post-Betrachtung – für jeden Wähler die ihm gewährleistete gleiche Erfolgschance auch als exakt ‚verhältnismäßiger‘ Stimmerfolg realisiert haben muss. […] Die Erfolgswertgleichheit ist aber verletzt, wenn die beabsichtigten positiven Wirkungen der Stimmabgabe in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ein Wahlsystem, auf dem die Mandatsverteilung beruht, muss grundsätzlich frei von willkürlichen und widersinnigen Effekten sein. […] Die Regelungen, aus denen sich der Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt, dienen zwar Belangen des föderalen Proporzes, die bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag berücksichtigt werden können. Diese Aspekte bilden jedoch keinen zwingenden Grund, der geeignet wäre, den Effekt des negativen Stimmgewichts zu rechtfertige.“
Ebenso sieht das BVerfG den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt: „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann […] Für den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl ist zwar nicht entscheidend, dass die Stimme tatsächlich die vom Wähler beabsichtigte Wirkung entfaltet; ausreichend ist die Möglichkeit einer positiven Beeinflussung des Wahlergebnisses. Diese Voraussetzungen sind in den Fällen des negativen Stimmgewichts nicht erfüllt. Der Wähler kann unter der Geltung der §§ 7 III 2 i.V. mit 6 IV, V BWG schon nicht erkennen, ob sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei und deren Wahlbewerber positiv auswirkt, oder ob er durch seine Stimme den Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht.“
Fazit
Die Problematik rund um die Überhangmandate ist also deutlich komplizierter als es die Fernsehexperten und Politiker darstellen, es bedarf in jedem Fall einer differenzierten Betrachtung (es kann gut sein, dass ich hier irgendwas nicht 100 % richtig oder unvollständig beschrieben habe). Nach der stRspr. des BVerfG sind Überhangmandate verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden – dies wird in der Literatur zum Teil anders gesehen, was aber für die Praxis letztlich nicht relevant ist.
„Hier wurde indirekt bestätigt, was das BVerfG bereits in einem Urteil vom 10.04.1997 – 2 BvF 1/95, NJW 1997, 1553 mit 4:4 Stimmen (!) entschieden hatte: Überhangmandate sind verfassungsrechtlich zwar problematisch, aber im Ergebnis zulässig.“
Das ist nicht richtig. Wenn man die Überhangmandate einer nur als einzelne Landesliste antretenden Partei (also bspw. der CSU) ausnimmt, die es seit Inkrafttreten des Bundeswahlgesetzes im Jahr 1956 bis zur Wahl 2005 nicht ein einziges Mal gab, hat das Bundesverfassungsgericht die Entstehung aller anderen angefallenen Überhangmandate für verfassungswidrig erklärt, da der beanstandete Effekt untrennbar mit diesen Überhangmandaten verbunden ist. Insofern hatten diese Experten (ohne Anführungszeichen) in den Medien Recht, was man von einigen anderen „Experten“ (mit Anführungszeichen – darunter Jura-Profs) nicht sagen kann, die das Urteil von 1997 immer noch als geltend betrachten. Es gibt also gerade keine stRspr. des BVerfGs dazu. Um hinsichtlich des negativen Stimmgewichts verfassungsgemäße Überhangmandate zu erzielen, müsste das Wahlgesetz etwa derart geändert werden, dass Mandate getrennt nach Ländern vergeben werden – das würde allerdings gegen die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen verstoßen.
Also meines Erachtens hat das BVerfG seine Rspr durch die Entscheidung zum negativen Stimmgewicht weder ausdrücklich noch implizit aufgegeben. Es geht immer noch davon aus, dass Überhandmandate verfassungskonform ausgestaltet werden können.
Aus welcher Passage des Urteils ziehst du denn die Aussage, dass jetzt Überhangmandate generell unzulässig sein sollen. Also ich hab da nix gefunden. Schon aus dem Leitsatz ergibt sich ja die Beschränkung auf die spezifischen Vorschriften, welche durch die Verrechnung zum neg. Stimmgewicht führen können.