Jur:Next Urteil des Monats: Rechtsanwalt im Koma – trotzdem schuld
Der nachfolgende Beitrag stammt aus der gemeinsamen Kooperation mit jur:next und beschäftigt sich mit einem examensrelevanten Urteil des Bundesgerichtshofs bzgl. der Anforderungen an die Ausgangskontrolle fristgebundener Anwaltsschriftsätze.
BGH: Zurechnung von Anwaltsverschulden nach § 85 ZPO
BGH Beschluss vom 9. Dezember 2014, Az. VI ZB 42/13
Fundstelle: Entscheidungsdatenbank des BGH (https://www.bundesgerichtshof.de/DE/Entscheidungen/entscheidungen_node.html)
Problemaufriss
Die Entscheidung des BGH stellt noch einmal die examensrelevante Problematik des § 85 Abs. 2 ZPO in den Mittelpunkt: Dem eigenen Verschulden der Partei steht ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten gleich.
Relevant wird diese Fragestellung typischerweise bei einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. §§ 230 ff. ZPO. Denn § 233 ZPO gewährt eine Wiedereinsetzung nur dann, wenn eine Partei ohne Verschulden gehindert war, eine Notfrist oder Frist einzuhalten.
Entscheidend ist daher, ob zum einen die Partei selbst ein Verschulden trifft oder ob ihr ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten zugerechnet wird. Es reicht daher nicht, wenn nur die Partei selbst kein Verschulden trifft. Auch der gewählte Prozessbevollmächtigte muss sich sozusagen „exkulpieren“ können. Anderenfalls wird das Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei wie eigenes Verschulden zugerechnet.
Im vorliegenden Fall hat zunächst die Büroangestellte der Rechtsanwältin die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist und Ausgangskontrolle der fristgebundenen Berufungsbegründung nach § 520 Abs. 2 S. 1 ZPO schlicht vergessen. Die Berufungsbegründungsfrist wurde dadurch versäumt.
Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt in einem zusätzlichen „Nebenkriegsschauplatz“: Das OLG hat zunächst die beantragte Fristverlängerung trotz Verfristung bewilligt und die Berufungsbegründungsfrist fälschlich verlängert. Auch der Kläger selbst hat in der Folge „geschlampt“ bei seiner beantragten Wiedereinsetzung: Aufgrund der zumindest irreführenden, wenn nicht falschen Entscheidung des Gerichts hat er die Frist nach § 236 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 ZPO zur Nachholung der versäumten Prozesshandlung verstreichen lassen.
Die Zurechnung anwaltlichen Verschuldens nach § 85 Abs. 2 ZPO ist – nicht zuletzt aufgrund dieser aktuellen Entscheidung – wieder höchst prüfungsrelevant. Die Entscheidung legt die aktuelle Rechtsprechung zu § 85 Abs. 2 ZPO knapp und übersichtlich dar. Sie dient daher gut zur Wiederholung bzw. zum Einstieg in dieses oft wenig bekannte und doch examensrelevante Problem.
Sachverhalt
Dem Kläger (bzw. seiner Rechtsanwältin) wurde das klageabweisende Urteil des LG am 9. Juli 2013 zugestellt. Gegen dieses Urteil legte er rechtzeitig Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 9. September 2013, beim Berufungsgericht (OLG) eingegangen erst am 10. September 2013 (1 Tag zu spät!), beantragte der Kläger eine Fristverlängerung zur Berufungsbegründung bis 9. Oktober 2013.
Das OLG hat – irrtümlich trotz der Verfristung – die Frist antragsgemäß mit Verfügung vom 11. September 2013 verlängert. Vor Zugang dieser Verfügung hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16. September 2013 beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zu gewähren. Er beantragte zugleich noch einmal, die Frist zur Berufungsbegründung bis zum 9. Oktober 2013 zu verlängern.
Mit Verfügung vom 19. September 2013 hat das OLG – erneut – die Frist zur Berufungsbegründung verlängert bis zum 21. Oktober 2013. Die Berufungsbegründung des Klägers ging schließlich am 14. Oktober 2013 beim OLG ein.
Der Kläger macht geltend, dass seine Rechtsanwältin K. den Fristverlängerungsantrag bereits in der Woche vor Fristablauf diktiert habe und mit der Begleitverfügung versehen habe, dass dieser Schriftsatz am 9. September 2013 ausgefertigt, ihr zur Unterschrift vorgelegt und fristwahrend vom Sekretariat an das OLG gefaxt werden sollte. Die Rechtsanwaltsfachangestellte B habe den Schriftsatz am Freitag, 6. September 2013, mit Datum 9. September 2013 ausgefertigt und Rechtsanwältin K, die an diesem Tag Urlaub hatte, in einer Unterschriftsmappe auf den Schreibtisch gelegt.
Völlig unvorhersehbar sei Rechtsanwältin K am Morgen des 9. September 2013 zusammengebrochen und habe sich einer Not-OP unterziehen müssen. Seither befinde sie sich im Koma.
Davon habe man in der Kanzlei am 9. September 2013 noch nichts gewusst. Frau B habe zunächst geglaubt, Rechtsanwältin K werde im Laufe des Tages noch kommen. Gegen 18 Uhr habe Frau B die Kanzlei verlassen und dabei sowohl die an diesem Tag endende Berufungsbegründungsfrist als auch die Unterschriftenmappe auf dem Schreibtisch von Rechtsanwältin K vergessen. Das Büro von Rechtsanwältin K sei von außen nicht einsehbar, weshalb ihr die Mappe im Laufe des Tages nicht mehr aufgefallen sei.
Deshalb habe sie auch keinen anderen der anwesenden Rechtsanwälte auf die Fristsache angesprochen, obwohl sie für diese Fälle allgemein angewiesen sei, die kanzleiintern zuständige Rechtsanwältin anzurufen und wenn sie diese nicht erreiche, deren Vertreterin oder einen anderen in der Kanzlei anwesenden Rechtsanwalt auf den drohenden Fristablauf anzusprechen.
Am 9. September 2013 um 18 Uhr sei Rechtsanwältin X noch anwesend gewesen. Die Büroorganisation sei generell so geregelt, dass eine Fristversäumung weitestgehend ausgeschlossen sei. Es gebe feste Fristenregelungen, wonach diejenige Bürokraft, die konkret mit der Fristwahrung beauftragt sei – unabhängig davon, ob dies durch persönliche Ansprache oder durch Diktat erfolgt sei – bis zur vollständigen Erledigung die Vorgänge der Fristwahrung überwache und diese erst dann als erledigt austrage. Diese Bürokraft sei auch für eine nochmalige Fristenkontrolle am Ende des Tages zuständig.
Im Arbeitsvertrag von Frau B sei ihr Aufgabenbereich fest umschrieben. Sie habe alle Aufgaben einer Rechtsanwaltsfachangestellten. Frau B habe den Umstand, dass die Frist der Berufungsbegründung am 9. September 2013 noch offen war, schlicht und einfach vergessen.
Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung mit Beschluss vom 9. Oktober 2013 zurückgewiesen, weil die Anforderungen des § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht erfüllt seien: Der Kläger habe die versäumte Prozesshandlung nicht innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt. Die irrtümlich vom Gericht bewilligte Fristverlängerung sei unwirksam und habe keinen Vertrauenstatbestand geschaffen.
Mit der Rechtsbeschwerde nach § 574 ZPO (Rechtsmittel gegen Beschlüsse) begehrt der Kläger die Aufhebung dieses Beschlusses und Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist.
Entscheidung des Gerichts
Das Gericht weist die Beschwerde als unzulässig zurück, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung oder zur Fortbildung des Rechts auf noch erfordert sie die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
Zunächst stellt das Gericht fest, dass es auf die Frage, ob den Kläger selbst ein Verschulden trifft, nicht ankommt: „Es kann offenbleiben, ob dem Kläger, der seine Berufungsbegründung erst am 14. Oktober 2103 und damit nach Ablauf der für die Nachholung der versäumten Prozesshandlung geltenden einmonatigen Frist des § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO eingereicht hat, ein Verschulden (…) angelastet werden kann oder ob ihm wegen der irreführenden Fristverlängerung durch das Berufungsgericht am 19. September 2013 (…) Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Frist des § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu gewähren wäre.“
Das OLG hat die beantragte Wiedereinsetzung nach Ansicht des Gerichts zu Recht versagt, da die ursprüngliche Fristversäumung zur Berufungsbegründung auf einem Verschulden der Rechtsanwältin des Klägers beruht. Diese hatte den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu spät beim OLG eingereicht. Dieses Verschulden wird dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet.
Nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH gehört es zu den Aufgaben des Prozessbevollmächtigten (hier Rechtsanwältin K), dafür Sorge zu tragen, dass fristgebundene Schriftsätze fristgemäß bei Gericht eingehen. Hierfür muss der Prozessbevollmächtigte eine Kanzleiorgansiation bieten, die die Fristenwahrung sowie Fristenkontrolle sicherstellt. Er darf bestimmte Aufgaben an qualifiziertes Büropersonal delegieren. Diese muss er jedoch sorgfältig auswählen, anweisen und überwachen.
Das Gericht listet die Pflichten des Prozessbevollmächtigten dabei auf:
- Rechtzeitige Vorlage der Akten, bei denen Fristen laufen
- Ausgangskontrolle schaffen, um zuverlässig zu gewährleisten, dass fristgebundene Schriftsätze fristwahrend hinausgehen.
- Hierfür ist ein Fristenkalender nach Ansicht des Gerichts „unabdingbar“.
Der Rechtsanwalt muss sicherstellen, dass Fristen erst dann aus dem Fristenkalender gestrichen werden, wenn sie tatsächlich erledigt sind. Der zuständige Büromitarbeiter ist daher anzuweisen, Fristen im Kalender erst zu streichen, wenn er sich anhand der Akte zuverlässig vergewissert hat, dass „zweifelsfrei nichts mehr zu veranlassen ist“.
Das Gericht stellt ferner ausdrücklich fest, dass „die Erledigung der fristgebundenen Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders von einer dazu beauftragten Bürokraft überprüft wird“.
Genau an dieser organisatorischen Maßnahme fehlt es jedoch im vorliegenden Sachverhalt. Die Büroangestellte B ist am Abend des Fristablaufs gegangen, ohne diese Ausgangskontrolle durchzuführen. Die Berufungsbegründungsfrist hätte noch als offen im Fristenkalender stehen müssen, da der Schriftsatz noch nicht von der Rechtsanwältin unterschrieben war und noch nicht an das OLG gefaxt worden war. Durch einen Blick in den Fristenkalender hätte B die noch offene Frist sehen müssen. Laut Vortrag des Klägers war sogar noch eine andere Rechtsanwältin in der Kanzlei anwesend. Bei dieser hätte B rückfragen können, nachdem sie die eigentlich zuständige Rechtsanwältin K nicht erreichen konnte. Die andere Anwältin hätte den Schriftsatz noch unterzeichnen können. Die Frist am 9. September 2013 wäre daher bei ordnungsgemäßer Ausgangs- und Fristenkontrolle zu wahren gewesen.
Damit wäre die Frist nicht am 9. September 2013 abgelaufen, sondern aufgrund der im Endeffekt gewährten Fristverlängerung am 21. Oktober 2013. Die am 14. Oktober 2013 schließlich eingegangene Berufungsbegründung hätte diese Frist eingehalten. Die unzureichende Ausgangskontrolle am 9. September 2013 ist daher kausal für die endgültige Fristversäumung.
Aus dem klägerischen Vortrag ist nicht ersichtlich, dass es eine solche Ausgangs- und Fristenkontrolle sowie einen Fristenkalender in der Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten überhaupt gibt. Es liegt daher nicht nur ein Versehen oder ein Fehler der Büroangestellten B vor. Dies wäre dem Kläger NICHT nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Es liegt vielmehr ein Verschulden der Rechtsanwältin K vor, da es an einer ordnungsgemäßen Fristenkontrolle sowie entsprechenden Anweisung des Büropersonals fehlt (bzw. dieses nicht vorgetragen ist).
Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung des Gerichts überzeugt. Es prüft den Sachverhalt streng historisch. Danach ist das ursprüngliche Verschulden der Rechtsanwältin K bei der Fristverlängerung für die Berufungsbegründung kausal für die Fristversäumung.
Dass auch der Kläger danach die Frist zur Nachholung der versäumten Prozesshandlung verstreichen lässt, ist ein Folgeproblem, auf das es im Einzelnen nicht mehr ankommt. Auch wenn diese Frage spannend gewesen wäre, da das Versäumnis des Klägers zumindest auch auf der fehlerhaften Fristverlängerung des OLG beruht hat. Diese Frage lässt der BGH hier jedoch bewusst offen, da diese nicht mehr entscheidungsrelevant ist.
Wichtig ist bei § 85 Abs. 2 ZPO, zwischen einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten selbst und einem Verschulden seines Büropersonals zu unterscheiden. § 85 Abs. 2 ZPO rechnet NUR das Verschulden des Prozessbevollmächtigten zu, nicht aber ein Verschulden des Büropersonals oder eines juristischen Mitarbeiters. Entscheidend war hier, dass der Fehler der Büroangestellten auf einem Organisationsverschulden der Rechtsanwältin beruhte. Nur dieses Verschulden wurde hier dem Kläger zugerechnet.
Examensrelevanz
Die Entscheidung hat eine erhöhte Examensrelevanz, weil sie in einem aktuellen Sachverhalt Verschulden bzw. Versäumnis bei allen Beteiligten beinhaltet (Kläger selbst, Rechtsanwältin K, Büroangestellte B und zuletzt das OLG selbst).
Dadurch wird das Problem der Zurechnung über § 85 Abs. 2 ZPO wieder aktuell. In einer Klausur müsste dann ganz genau geprüft werden, welches Verschulden relevant ist und welches nicht. Entscheidend ist, dass hier nicht nur ein bloßes Verschulden der Büroangestellten vorliegt, sondern ein Organisationsverschulden der Rechtsanwältin selbst. Dieses wird dem Kläger über § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist daher zurück zu weisen, da die Frist zur Berufungsbegründung verschuldet versäumt worden ist.
Im 1. Staatsexamen dürfte überdies die Frage, ob den Kläger selbst ein Verschulden trifft, nicht offen gelassen werden. Diese Frage müsste zumindest im Hilfsgutachten geklärt werden. Weiterführend zitiert der BGH hier ein Urteil des BVerfG (BVerfGE 110,339, 343 ff., Beschluss vom 7. Juni 1999 – II ZB 25/98).
Auf der einen Seite hat er Wiedereinsetzung beantragt und ist daher an die Frist des § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO gebunden. Auf der anderen Seite könnte man vorbringen, dass durch die mehrfache fehlerhafte Fristverlängerung des OLG eine Art Vertrauensschutz geschaffen wurde. Mit einer guten Argumentation ist hier sicher jedes Ergebnis möglich.
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