Grundrechte auch für (EU)-ausländische juristische Personen
Trotz des Streites um den Rettungsschirm und Eurobonds: Die europäische Integration schreitet voran. Wie beck-aktuell gestern mitteilte (becklink 1015998) hat das BVerfG bereits im Juli (19.7.2011) in einem Beschluss festgestellt, dass die deutschen Grundrechte auch für ausländische juristische Personen gelten (Az. 1 BvR 1916/09).
I. Art. 19 Abs. 3 GG: Keine Grundlage, aber auch kein Ausschluss
Das ist auf den ersten Blick mit dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG kaum zu vereinbaren, denn dort heißt es, dass die Grundrechte auch für inländische juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Entsprechend hat das BVerfG bisher die Erstreckung auf ausländische juristische Personen in einem e contrario abgelehnt (R. 70).
Auch jetzt noch lehnt das BVerfG angesichts des klaren Wortlauts von Art. 19 Abs. 3 GG ab, unmittelbar aus dieser Norm die Grundrechtsfähigkeit ausländischer juristischer Personen abzuleiten.
„Nach dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte „für inländische juristische Personen“. Wegen der Beschränkung auf inländische juristische Personen lässt sich eine Anwendungserweiterung nicht mit dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG begründen. Es würde die Wortlautgrenze übersteigen, wollte man seine unionsrechtskonforme Auslegung auf eine Deutung des Merkmals „inländische“ als „deutsche einschließlich europäische“ juristische Personen stützen. Auch wenn das Territorium der Mitgliedstaaten der Europäischen Union angesichts des ihren Bürgern gewährleisteten Raumes „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ mit freiem Personenverkehr (Art. 3 Abs. 2 EUV) nicht mehr „Ausland“ im klassischen Sinne sein mag, wird es dadurch nicht zum „Inland“ im Sinne der territorialen Gebietshoheit (vgl. BVerfGE 123, 267 <402 f.>).“ (Rn. 72)
Allerdings stellt es nunmehr fest, dass Art. 19 Abs. 3 GG den Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen auch nicht ausschließt. Eine Regelung wurde nicht deshalb unterlassen, weil sie nicht gewollt gewesen wäre, sondern weil sie der historische Verfassungsgeber – aus damaliger Sicht – für unnötig hielt (Rn. 73)
II. Das Europarecht gebietet Gleichstellung europäischer ausländischer juristischer Personen
Das Europarecht verbietet die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, vgl. Art. 18 AEUV. Dieses Diskriminierungsverbot erstreckt sich auch auf juristische Personen und ist unmittelbar anwendbar (EuGH v. 20. 10.1993 – C-92/92 u.a., Slg. 1993, S. I-5145 Rn. 30 ff. – Phil Collins) . Es erstreckt sich insbesondere auch auf die Rechtsschutzmöglichkeiten. (Rn. 76). Gleichwertige Rechtsschutzmöglichkeiten sind erst gegeben, wenn ausländische juristischer Personen ihre Rechte notfalls auch mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzen können (Rn. 77).
Allerdings sind dabei die Anwendungsvoraussetzungen des europäischen Diskriminierungsverbobtes zu beachten: Die ausländische juristische Person muss sich im Anwendungsbereich des Europarechts bewegen (Rn. 78).
- Dies setzt jedenfalls regelmäßig voraus, dass sie eine europäische juristische Person ist. US-amerikanische Gesellschaften können sich daher nicht ohne weiteres auf die Grundrechte berufen.
- Ferner muss sie auch sachlich im Anwendungsbereich des Europarechts handeln. Das ist insbesondere dort der Fall, wo sie ihre Grundfreiheiten ausübt oder in einem von europäischen rechtlichen Vorgaben erfassten Rechtsbereich tätig ist (also im Anwendungsbereich einer Richtlinie).
III. Folge: „Anwendungserweiterung“ des Art. 19 Abs. 3 GG
Aus dem europäischen Recht leitet das BVerfG sodann eine „Anwendungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG“ her, durch die juristische Personen mit einem Sitz im EU-Ausland ebenso behandelt werden wie inländische juristische Personen (Rn. 79). Zur dogmatischen Begründung des gefundenden Ergebnisses führt das BVerfG aus:
„[Allgemeine Ausführungen zum Anwendungsvorrang; sodann:] Die europarechtlichen Vorschriften verdrängen Art. 19 Abs. 3 GG nicht, sondern veranlassen lediglich die Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf weitere Rechtssubjekte des Binnenmarkts. Art. 23 Abs. 1 Satz 2, 3 GG erlaubt, unter Wahrung der in Art. 79 Abs. 2, 3 GG genannten Voraussetzungen Hoheitsgewalt auch insoweit auf die Europäische Union zu übertragen, als dadurch die Reichweite der Gewährleistungen des Grundgesetzes geändert oder ergänzt wird, ohne dass dabei das Zitiergebot des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG eingreift (vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 5. November 1993, BTDrucks 12/6000, S. 21; Pernice, in: H. Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 87; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Oktober 2009, Art. 23 Rn. 115). Mit der vertraglichen Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zu den Vorläuferregelungen zu Art. 18 AEUV und zu den Grundfreiheiten wurde unter Wahrung der Grenzen des Art. 79 Abs. 2, 3 GG auch der Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote mit der von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG geforderten Mehrheit gebilligt (vgl. BVerfGE 126, 286 <302>). Dies wirkt sich auch auf den Anwendungsbereich der Grundrechte aus, sofern eine Erstreckung der Grundrechtsgeltung auf juristische Personen aus der Europäischen Union veranlasst ist, um im Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der Grundrechtsträgerschaft zu vermeiden. Die einzelnen Grundrechte des Grundgesetzes verändern sich durch die Erweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG jedoch nicht.“
Gemeint ist damit wohl, dass das europäische, unmittelbar anwendbare Diskriminierungsverbot die Anwendung der deutschen Grundrechte auf (EU)-ausländische juristische Personen unmittelbar anordnet. Es ist also eine durch die Übertragung von Hoheitsrechten möglich gewordene „Ergänzung“ der Gewährleistungen des GG. Es handelt sich also nicht um eine erweiterende Auslegung von Art. 19 Abs. 3 GG, sondern um einen daneben stehenden neuen Geltungsgrund für die Einbeziehung der EU-ausländischen juristischen Personen. Man wird in Zukunft für die Grundrechtsgeltung gegenüber juristischen Personen für inländische juristische Personen auf Art. 19 Abs. 3 GG, für (EU)-ausländische auf das europäische Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) zuzurückgreifen können.
IV. Im Übrigen aber die üblichen Regeln
Das europäische Recht fordert nur eine Gleichstellung der EU-Ausländer. Daher bleiben im Übrigen die Vorschriften der Grundrechte unberührt. Das heißt, dass EU-Ausländern die gleichen Vorschriften der Verfassung wie inländischen juristischen Personen entgegengehalten werden können. Voraussetzung der Berufungsmöglichkeit auf die Grundrechte ist demnach ein hinreichender Inlandsbezug der ausländischen juristischen Person, der die Geltung der Grundrechte in gleicher Weise wie für inländische juristische Personen geboten erscheinen lässt. Dies wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn die ausländische juristische Person in Deutschland tätig wird und hier vor den Fachgerichten klagen und verklagt werden kann. (Rn. 79)
Anmerkung: Insofern handelt es sich vermutlich um eine mittelbare Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV), da ein Inlandsbezug bei ausländischen juristischen Personen häufiger fehlen wird als bei inländischen. Dies kann jedoch gerechtfertig werden, weil durch das geringere Bedürfnis nach Schutz auch ein sachlicher Differenzierungsgrund besteht.
IV. Klausurtipps
– Verortung: Das BVerfG hat die Frage bei der Beschwerdefähigkeit bzw. -befugnis nur kurz angesprochen und dort letztlich die Möglichkeit, dass eine entsprechende Rechtsposition im Hinblick auf die europarechtlichen Regeln bestehen könnte, ausreichen lassen. Im Detail dann bei dem persönlichen Schutzbereich in der Begründetheit.
– Argumentation: Klarstellen, dass Art. 19 Abs. 3 GG eine Erstreckung wegen des Wortlautes nicht trägt, einer solchen aber auch nicht entgegensteht (Entstehungsgeschichte, s.oben).
Sodann Herleitung aus den europäischen Diskriminierungsverboten. Weil diese unmittelbar anwendbar sind, können sie selbst ohne Rückgriff auf Art. 19 Abs. 3 GG die Geltung der Grundrechte anordnen. Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 GG erlaubt insofern eine Ergänzung auch der Regeln des GG.
Rechtsgrundlage: Auch wenn das BVerfG primär auf die Grundfreiheiten und nur subsidiär auf Art. 18 AEUV abstellt, würde ich in der Klausur umgekehrt vorgehen. Art. 18 AEUV lässt sich besser prüfen; vor allem bedarf es keiner Auseinandersetzung mit der Dogmatik einzelner Grundfreiheiten. Für die Klausur sollte der Verweis auf Art. 18 AEUV ausreichen.
- Anwendungsbereich der europäischen Diskriminierungsverbote (persönlich, sachlich)
- (Unmittelbare oder formelle) Differenzierung wegen Staatsangehörigkeit (+)
- Rechtfertigung: Zwar nach neuerer Rspr. des EuGH prinzipiell möglich, aber hier (-), weil kein Grund für die Differenzierung ersichtlich
- Rechtsfolge: Gleichstellung, aber nicht mehr
Zu US-Gesellschaften noch eine Ergänzung: Diese sind nach Art. XXV Abs. 5 des Deutsch-Amerikanischen Freundschaftsvertrages vom 29.10.1954 (BGB1.1956 II, S. 488) in Deutschland anerkannt. Der BGH geht deshalb davon aus, dass US-Gesellschaften in Deutschland als solche rechtsfähig sind, also die Gründungstheorie gilt (BGHZ 153, 353). Insofern besteht – auch mit Blick auf Art. 25 GG – durchaus die Möglichkeit, dass sich auch US-Gesellschaft in Zukunft auf deutsche Grundrechte werden berufen können. Wünschenswert ist es.