Grundlagenwissen Schuldrecht: Die gestörte Gesamtschuld
Mit diesem Beitrag von Lars Stegemann schließen wir das Thema Gesamtschuld ab. Nachdem der Autor bereits vor zwei Wochen die Grundlagen zu der Entstehung, den Anwendungsfällen und den Rechtsfolgen einer Gesamtschuld dargestellt hatte (s. hier), folgt nun ein eigener Beitrag zu dem beliebten Klausurproblem der gestörten Gesamtschuld.
Grundlagen der gestörten Gesamtschuld
Das Gesamtschuldverhältnis ist gestört, wenn die Entstehung eines Gesamtschuldverhältnisses dadurch verhindert wird, dass einer der Schädiger wegen eines Haftungsausschlusses oder einer Haftungsbeschränkung von der Haftung befreit ist und sich deshalb einem Ausgleichanspruch des zahlenden Zweitschädigers widersetzt (Schmidt, Schuldrecht: Allgemeiner Teil, 6. Auflage, Rn. 1132). Gemeint sind also Konstellationen, in denen der Gläubiger einem haftungsprivilegierten Erstschädiger und mindestens einem voll haftenden Zweitschädiger gegenübersteht. Grundsätzlich wird diese Konstellation nur im Schadensersatzrecht relevant, weshalb stets von Schädigern gesprochen wird. Dabei ist zu beachten, dass im Grunde gar kein Gesamtschuldverhältnis entsteht. Denn dem Gläubiger steht im Außenverhältnis gerade kein Anspruch gegen den Erstschädiger zu, er ist also nicht berechtigt, die Leistung nach seinem Belieben von jedem der Schuldner zu fordern, wie es aber § 421 BGB gerade für die Annahme eines Gesamtschuldverhältnisses voraussetzt.
Solche Haftungserleichterungen können auf Vertrag oder Gesetz beruhen. Im Vertrag kann dabei entweder gänzlich auf Schadensersatz verzichtet werden oder aber ein anderer Haftungsmaßstab festgelegt werden. Dabei sind aber stets die Grenzen des Gesetzes zu beachten. In einer Fallbearbeitung muss deshalb genau geprüft werden, ob es zu einer Gesamtschuld kommt oder nicht möglicherweise die Haftungserleichterung unwirksam ist. Gem. § 276 III BGB kann die Haftung für Vorsatz grundsätzlich nicht abbedungen werden. Auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen sind die Grenzen der §§ 307 ff. BGB zu beachten. Das Gesetz enthält auch weitere Einschränkungen solcher Haftungserleichterungen (beispielsweise § 651h BGB), auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll.
Daneben wird der Schuldner gesetzlich in vielen Fällen privilegiert. Dies kann zum einen in der Anordnung bestehen, dass der Schuldner nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, die er auch in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt (diligentia quam in suis). Gem. § 277 BGB schließt dieser Haftungsmaßstab aber nie die Haftung für grobe Fahrlässigkeit aus. Nach anderen Vorschriften wiederum soll der Schuldner nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit einstehen. Nachfolgend sind einige dieser Vorschriften zusammengestellt:
- § 690 BGB: Haftungsbeschränkung bei unentgeltlicher Verwahrung
- § 708 BGB: Haftung der Gesellschafter bei der Erfüllung von Gesellschaftsverpflichtungen
- § 1359 BGB: Haftungsbeschränkung der Ehegatten untereinander
- § 1664 BGB: Haftungsbeschränkung im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern
- § 300 I BGB: Haftungserleichterung während des Gläubigerverzuges
- § 521 BGB: Haftungserleichterung für den Schenker
- § 599 BGB: Haftungsbeschränkung bei der Leihe
- § 680 BGB: Haftungsbeschränkung bei Geschäftsführung zur Gefahrenabwehr
- §§ 104, 105 SGB VII: Haftungsbeschränkung des Unternehmers sowie anderer im Betrieb tätiger Personen bei Betriebsunfällen
Die Rechtsprechung wendet die oben genannten Haftungsbeschränkungen auf die eigenübliche Sorgfalt jedoch nicht bei der Teilnahme am Straßenverkehr an (BGH, NJW 1970, 1271, 1272). Dort sei kein Platz für individuelle Sorgfaltslosigkeit (Gehrlein, in: Bamberger/Roth, Beck’scher Online-Kommentar BGB, Stand 11/2011, § 426 Rn. 14). Dementsprechend stellt sich auch in solchen Fällen das Problem der gestörten Gesamtschuld nicht.
Drei mögliche Lösungswege
Beispielsfall: S1 und G bilden eine Fahrgemeinschaft. Für den Fall eines Unfallschadens lässt sich S1 von der Haftung für leichte Fahrlässigkeit von G freistellen. Es kommt wie es kommen muss, S1 verursacht leicht fahrlässig einen Auffahrunfall. Auch den vorausfahrenden S2 trifft der Vorwurf der leicht fahrlässigen Unfallverursachung. Von wem kann G einen eventuell entstandenen Schaden ersetzt verlangen? Vorliegend wird von einem Schaden in Höhe von 1000 Euro und einer Schadensverursachung zu gleichen Teilen ausgegangen, um die folgenden Ausführungen zu erleichtern.
Dieser einfache Standardfall soll zur Verdeutlichung der drei möglichen Lösungswege dienen. Dabei ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, welche Auswege es aus der Fallfrage gibt. Da es drei Beteiligte gibt, die unterschiedliche Interessen haben, gibt es drei mögliche Lösungen, die jeweils zu Lasten eines der Beteiligten gehen. Im Folgenden sollen die Ansätze nur kurz mit möglichen Argumenten dargestellt werden, für eine tiefere Bearbeitung verweise ich hierbei auf Schmidt, Schuldrecht: Allgemeiner Teil, 6. Auflage, Rn. 1132 ff. Dort ist die Problematik sehr ausführlich dargestellt.
Lösung 1: Ein möglicher Ansatz ist es, zu Lasten des nicht privilegierten Zweitschädigers S2 eine volle Außenhaftung zu bejahen, ihm jedoch keine Möglichkeit eines Innenregresses zu geben. Ein Gesamtschuldverhältnis entsteht, wie bereits oben gesagt, nicht, sodass § 426 BGB nicht anwendbar ist. S2 hat demnach den vollen Schaden alleine zu tragen. Gegen diese Meinung wird angeführt, dass sich der Haftungsausschluss zwischen G und S1 voll zu Lasten des Zweitschädigers auswirke. Dies komme jedoch einem Vertrag zu Lasten Dritter gleich, den das Zivilrecht aber nicht kennt (Brox/Walker, Allgemeines Schuldrecht, 34. Auflage, Rn. 21; Schmidt, SchR AT, Rn. 1136; BGH, NJW 1972, 942, 943).
Nach dieser Lösung könnte G vollen Ausgleich von S2 in Höhe von 1000 Euro verlangen, ohne dass diesem eine Regressmöglichkeit bliebe.
Lösung 2: Nach einer anderen Lösung wirkt sich die Haftungserleichterung lediglich im Außenverhältnis aus. Im Innenverhältnis hingegen stehen dem Zweitschädiger Ausgleichansprüche gem. § 426 BGB zu. Da jedoch eigentlich kein Gesamtschuldverhältnis entstanden ist, wird eines fingiert, um dem Zweitschädiger den Rückgriff zu ermöglichen. Die Haftungsprivilegierung soll sich lediglich im Verhältnis zwischen Erstschädiger und Gläubiger auswirken. Diese Lösung geht also zu Lasten des privilegierten Erstschädigers, der nun doch noch trotz seiner Haftungsfreistellung haften soll. Gegen diese Lösung spricht, dass der Erstschädiger damit schlechter steht, als wenn er den Schaden alleine verursacht hätte. Das widerspricht im Falle einer vertraglichen Haftungsfreistellung nicht nur dem Parteiwillen, sondern führt zudem im Prozess zu der unsinnigen Verteidigungsmöglichkeit des Erstschädigers, er habe den Schaden alleine verursacht. Denn dann müsste er keinen Ersatz leisten (Brox/Walker, Allg. SchR, Rn. 22). Diese Lösung wird von der Rechtsprechung zumindest für die Fälle einer vertraglichen Haftungserleichterung vertreten, während die Rechtsprechung bei gesetzlichen Haftungserleichterungen teilweise sogar der Lösung 1 folgt (siehe dazu auch: Gehrlein, in: Bamberger/Roth, § 426 Rn. 12 ff.). Für den Fall der vertraglichen Haftungserleichterung wird für diese Lösung 2 vorgebracht, es könne nicht vom Willen der Vertragsparteien abhängen, ob die gesetzlichen Ausgleichsregelungen der Gesamtschuldnerschaft zur Anwendung kämen (BGH, NJW 1954, 875, 876). Die Rechtsprechung billigt jedoch dem privilegierten Erstschuldner zu, aus der Haftungsfreistellung seinerseits wiederum Regress beim Gläubiger zu nehmen, wodurch es zu einem sog. Regresskreisel kommt (so Gehrlein, in: Bamberger/Roth, § 426 Rn. 12). In den Auswirkungen der Haftungsfreistellung befindet sich die Rechtsprechung damit auf einer Linie mit der Lösung 3, die auch teilweise bei gesetzlichen Haftungsprivilegien vertreten wird (so beispielhaft BGH, NJW 2004, 951, 952 f.).
Würde man dieser Lösung folgen, so könnte G von S2 zunächst einmal vollen Ausgleich in Höhe von 1000 Euro verlangen, S2 könnte jedoch seinerseits Regress bei S1 über § 426 BGB in Höhe von 500 Euro nehmen.
Lösung 3: Nach der dritten, wohl überwiegend vertretenen Lösung soll die Haftungsprivilegierung zu Lasten des Gläubigers gehen. Der Anspruch gegenüber dem Zweitschädiger ist von vorneherein um den Anteil gekürzt, der im Innenverhältnis auf den Erstschädiger entfällt. Der Gläubiger kann demnach nur teilweisen Ersatz in der Höhe erlangen, in der der Schaden auch intern auf den Zweitschädiger entfällt (so Brox/Walker, Allg. SchR, Rn. 24; Gehrlein, in: Bamberger/Roth, § 426 Rn. 12 ff.). Diese Lösung ist wohl die interessengerechteste. Einerseits kommt der Erstschädiger in Genuss seines Haftungsprivilegs, dass ja entweder gesetzlich angeordnet ist oder aber jedenfalls mit dem Gläubiger vereinbart wurde, andererseits muss der nicht allein verantwortliche Schädiger den Schaden nur anteilig tragen (Gehrlein, in: Bamberger/Roth, § 426 Rn. 12). Der Zweitschädiger und aber auch besonders der Gläubiger sollen durch die Privilegierung nicht besser oder schlechter stehen als ohne (Brox/Walker, Allg. SchR, Rn. 24). Auf diesem Wege wird auch ein möglicher komplizierter Regresskreisel vermieden, der zu dem gleichen Ergebnis führt, jedoch auf einem wesentlich komplizierteren Wege.
Diese Lösung wird überwiegend für vertragliche und gesetzliche Privilegierungen gleichermaßen vertreten. Eine unterschiedliche Behandlung wird als nicht sachgerecht angesehen (Brox/Walker, Allg. SchR, Rn. 24, 27; Schmidt, SchR AT; Rn. 1140; Gehrlein, in: Bamberger/Roth, § 426 Rn. 12 ff.). Dies zeigt im Ergebnis wohl auch die Rechtsprechung, die zwar bei vertraglicher Freistellung auf anderem Wege, im Ergebnis aber zum gleichen Ergebnis kommt. Lediglich für die Konstellation einer engen persönlichen Bindung zwischen Gläubiger und Erstschädiger und einer gesetzlichen Haftungsfreistellung wird wenig überzeugend die erste Lösung vertreten (so BGH, NJW 1988, 2667, 2668 f.).
Nach dieser Lösung könnte also G von S2 lediglich anteiligen Ausgleich in Höhe von 500 Euro verlangen, gegen S1 bestünden keine Ansprüche.
Ein Hinweis zu ihren Quellen: die bringen leider überhaut nichts, mit Ausnahme der Urteile, da sowohl Schmidt als auch Brox (mangels § Angabe) ins Leere führen, für diese Seite leider sehr schwach…
Was gibt es denn gegen Lösung 1 zu sagen?? Gäbe es keinen S1, müsste G2 doch eh voll haften…
Gäbe es keinen S1, wäre der Schaden nicht/nicht in der Höhe entstanden.
Sinn und Zweck der verschuldensunabhängigen Haftung aus §7 StVG könnte aber wieder dafür sprechen.
Bei Lösung 3 befindet sich ein grammatikalischer Fehler. Es müsste “Einerseits kommt der Erstschädiger in den Genuss seines Haftungsprivilegs, das…“ (das mit einem S) heißen.