Gewaltsames Blockieren ist nicht Demonstrieren – zum Urteil des BVerwG vom 27.3.2024 – 6 C 1.22
Wir freuen uns, nachfolgend einen Gastbeitrag von Moritz Augel veröffentlichen zu können. Der Autor ist studentische Hilfskraft am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG ist ein konstitutiver Bestandteil unseres demokratischen Gemeinwesens. Sie ist eine der zentralen politischen Grundrechte und gewährleistet eine Einflussnahme auf den politischen Prozess und die öffentliche Meinungsbildung. Über die Grenzen der Versammlungsfreiheit hatte das Bundesverwaltungsgericht im Fall einer versuchten Blockade eines AfD-Bundesparteitags zu entscheiden. Diese Entscheidung eignet sich wunderbar, um die Grundzüge des examensrelevanten Versammlungsrechts zu wiederholen. Dabei geht es sowohl um das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Polizeirecht und dem spezielleren Versammlungsrecht als auch den Schutzbereich des Art. 8 GG.
I. Der Sachverhalt (Kurzfassung)
Im Jahr 2016 veranstaltete die AfD auf dem Messegelände Stuttgart einen zweitägigen Bundesparteitag, in dessen Vorfeld die Polizei Kenntnis erlangte, dass bis zu 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum Zufahrtswege blockieren und Ausschreitungen begehen wollten. Im Zuge dessen blockierte eine Gruppe von circa 500 Teilnehmern einen Kreisverkehr in der Nähe des Messegeländes, errichtete Barrikaden und zündete Pyrotechnik. Daraufhin wurde die Gruppe von der Polizei eingekesselt und zu einer in der Nähe eingerichteten Gefangenensammelstelle verbracht, wo die Personen erkennungsdienstlich behandelt wurden. Anschließend erhielten die Betroffenen einen Platzverweis und wurden zum circa 16 Kilometer entfernten Bahnhof in Esslingen verbracht. Hiergegen wandte sich der Kläger und begehrte die Feststellung der Rechtswidrigkeit des polizeilichen Handelns.
II. Die Entscheidungen der Vorinstanzen
Zunächst soll ein kurzer Blick auf die Entscheidungen der Vorinstanzen geworfen werden. Die unterschiedlichen Urteile des VG Sigmaringen und des VGH Mannheim zeigen, dass neben der Frage der sogenannten Polizeifestigkeit auch die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG streitig war.
1. VG Sigmaringen, Urt. v. 13.02.2019 – 1 K 4335/17
Das Verwaltungsgericht Sigmaringen gab der Klage statt. Wegen der Sperrwirkung („Polizeifestigkeit“) [hierzu sogleich unter III.1.] des Versammlungsgesetzes habe die Polizei ihre Maßnahmen nicht auf das Polizeirecht stützen dürfen, ohne zuvor die Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG aufzulösen. [Beachte, dass sich einige Bundesländer, darunter auch Nordrhein-Westfalen, mit dem VersG NRW, eigene Versammlungsgesetze gegeben haben. Das Versammlungsrecht ist seit der Föderalismusreform 2006 der Gesetzgebungskompetenz der Länder zugeordnet, jedoch gilt gemäß Art. 125a Abs. 1 GG das Versammlungsrecht des Bundes fort, sofern nicht ein eigenes Versammlungsgesetz erlassen wurde]
2. VGH Mannheim, Urt. v. 18.11.2021 – 1 S 803/19
Das Land Baden-Württemberg ging gegen die Entscheidung des VG Sigmaringen in Berufung. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim wies die Klage daraufhin in großen Teilen ab. Grund hierfür: Aus Sicht des VGH stellte das Vorgehen der Demonstranten eine sogenannte „Verhinderungsblockade“ dar, die nicht in den Anwendungsbereich des VersG fällt, da es am tatbestandlich vorausgesetzten Zweck der Meinungsbildung fehlt. Die „Verhinderungsblockade“ ist dabei von der „demonstrativen Blockade“ abzugrenzen. Letztere dienen einem Kommunikationsanliegen, welches durch die Blockade lediglich symbolisch verstärkt wird [hierzu sogleich unter III.2.].
III. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
Am 27.03.2024 urteilte schließlich das Bundesverwaltungsgericht und legte in einer sehr differenzierten Entscheidung die Grundlagen des Versammlungsrechts dar.
1. Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts
Zunächst widmete sich das BVerwG der Frage, inwiefern die handelnden Beamten das Polizeirecht Baden-Württembergs als Ermächtigungsgrundlage für die getroffenen Maßnahmen heranziehen durften. Die sogenannte Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts ist eine Ausprägung sowohl des Grundsatzes des Vorrangs eines speziellen Gesetzes (lex specialis), als auch des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Das Versammlungsgesetz geht dem Polizeirecht als Spezialgesetz vor, sodass sich Maßnahmen der Gefahrenabwehr grundsätzlich nach dem Versammlungsgesetz richten müssen. Solange sich eine Person auf einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann, ist ein auf das allgemeine Polizeirecht gegründeter Platzverweis unrechtmäßig. Diese Sperrwirkung gilt jedoch nur dann, wenn auch der Schutzbereich des Versammlungsrechts eröffnet ist.
2. Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit für Blockaden
Das Bundesverfassungsgericht definiert die Versammlung im Sinne des Art. 8 GG in ständiger Rechtsprechung als örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Ebenso definiert das Bundesverwaltungsgericht den Versammlungsbegriff des § 1 Abs. 1 VersG.
Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob eine derart gemischte Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Blockaden bilden insoweit einen Grenzfall, da jedenfalls auch eine Realwirkung (regelmäßig in Form einer Störung) beabsichtigt ist. Eine Blockade unterfällt dem Schutz von Art. 8 GG, wenn mit ihr ein kommunikatives Anliegen verfolgt wird, durch das am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung teilgenommen wird. Steht jedoch anstelle der Mitwirkung an der Meinungsbildung die Erzwingung des eigenen Vorhabens im Vordergrund der Blockade, so unterfällt diese nicht dem Schutzbereich des Art. 8 GG (BVerfG, Urt. v. 24.10.2001 – 1 BVR 1190/90, NJW 2002, 1031).
Das bloße Stören einer anderen Veranstaltung genügt jedoch nicht, um eine Verhinderungsblockade anzunehmen. Vielmehr unterfallen nur solche Veranstaltungen nicht dem Versammlungsbegriff, die auf die vollständige Verhinderung einer anderen Versammlung abzielen. Es bedarf mithin einer Abgrenzung zwischen den grundsätzlich zulässigen demonstrativen Blockaden und unzulässigen Verhinderungsblockaden. Anders als der VGH Mannheim ließ es das BVerwG vorliegend genügen, dass mit Transparenten und Sprechchören kollektiv Meinungen geäußert wurden. Der VGH hatte demgegenüber die Auffassung vertreten, dass Meinungsäußerungen die bloß bei Gelegenheit einer Verhinderungsblockade stattfinden, keine Versammlung begründen können. Das BVerwG stellt demgegenüber klar, dass der Versammlungscharakter einer Blockade allenfalls dann verneint werden könne, wenn das kommunikative Anliegen und der Einsatz entsprechender Kommunikationsmittel „in handgreiflicher Weise einen bloßen Vorwand darstellen“ (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 – 6 C 1.22, BeckRS 2024, 5595; Rn. 50).
3. Erfordernis der friedlichen Versammlung
Jedoch gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG, ebenso wie Art. 11 Abs. 1 EMRK, nur das Recht, sich friedlich zu versammeln. Unfriedliche Versammlungen, die von Beginn an und durchgehend einen unfriedlichen Charakter haben, bedürfen vor der Anwendung des Polizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG. Unfriedlich ist eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit stattfinden, wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen und Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten. Es genügt demgegenüber jedoch nicht, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. Es muss sich zudem um eine kollektive Unfriedlichkeit handeln, das heißt, die Versammlung muss im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nehmen bzw. der Veranstalter oder sein Anhang müssen einen solchen anstreben oder zumindest billigen. Begehen nur einzelne Versammlungsteilnehmer oder eine Minderheit unter ihnen im Verlauf einer Versammlung Ausschreitungen, bleibt der Schutz der Versammlung mit Blick auf die friedlichen Teilnehmer erhalten. Gegen die störende Minderheit ist vielmehr isoliert vorzugehen (Lembke in JuS 2005, 984 (985)).
Blockaden und Besetzungen sind nicht per se als unfriedlich einzuordnen, soweit sie nicht mit aktiven gewalttätigen Handlungen einhergehen (Wapler in Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, § 1 VersG, Rn. 39). Unter anderem wegen des Einsatzes von Pyrotechnik gegen die Polizeibeamten war jedoch die konkrete Versammlung nach Ansicht des BVerwG als unfriedlich anzusehen. Während das VG Sigmaringen und der VGH Mannheim noch die Auffassung vertraten, dass das Versammlungsrecht auch für unfriedliche Versammlungen gelte, stellt das Bundesverwaltungsgericht klar, dass bei erkennbar unfriedlichen Versammlungen unmittelbar nach Polizeirecht vorgegangen werden kann (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 – 6 C 1.22, BeckRS 2024, 5595, Rn. 66). Aus diesem Grund bedurfte es keiner versammlungsrechtlichen Auflösungsverfügung, um unter Anwendung des Landespolizeirechts gegen die Störer vorzugehen.
4. Grenzen des polizeilichen Gewahrsams
Hierbei sind jedoch die Grenzen der Normen des Polizeigesetzes Baden-Württemberg zu wahren. Unter anderem erklärte der VGH Mannheim die Verwehrung eines Toilettengangs sowie die Vorenthaltung von Trinkwasser während der polizeilichen Maßnahme für rechtswidrig. Das Bundesverwaltungsgericht äußerte darüber hinaus Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Dauer des Gewahrsams über fast den ganzen Tag, womit sich nachfolgend nun erneut der VGH zu befassen hat.
IV. Fazit
Die Versammlungsfreiheit umfasst auch demonstrative Blockaden, sofern sie nicht allein der Verhinderung einer anderen Veranstaltung dienen. Kein noch so hehres Ziel erlaubt es jedoch, dabei unfriedlich und gewaltsam vorzugehen. Aus diesem Grund konnte sich die Polizei für das Handeln auf das Landespolizeirecht stützen. Das Urteil hat auch Auswirkungen über den konkreten Einzelfall hinaus: Für friedliche Blockadeaktionen wie etwa das vieldiskutierte „Klimakleben“ dürften mit der Entscheidung letzte Zweifel ausgeräumt sein, dass sie von der Versammlungsfreiheit geschützt sind (so Hohnerlein, becklink 2030351). Das Bundesverwaltungsgericht stärkt damit moderne Protestformen (vgl. hierzu auch die Entscheidung zur Zulässigkeit eines Protestcamps: BVerwG, Urt. v. 24.05.2022 – 6 C 9/20, NVwZ 2022, 1197). An einem lässt das BVerwG jedoch keinen Zweifel: Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung und unterfällt daher auch nicht dem Schutz des Art. 8 GG.
Ein Gebot für staatliches Vorgehen ist Verhältnismäßigkeit.
Versammlungsgrecht kann beosndere Versammlungsinteressen berücksichtigen und gegenüber allgemeinem Polizeirecht teils verhältnismäßiger sein.
Ein stets völlig trennscharfe Unterscheidung von Friedlichkeit und Unfriedlichkeit einer Versammlung scheint schwer möglich.
Einer Versammlung besonderen Interessenschutz von Versammlungsrecht wegen Unfriedlichkeit zu verweigern, kann unter Umständen nur verhältnismäßig angemessen wirken, wenn etwa aufgrund des unfriedlichen Vorgehens Versammlungsrecht als reine Förmelei erscheint, welche angemessenes polizeiliches Vorgehen unangemssen erschwert bis unmöglich macht.
Ob dies vorliegend der Falll war, scheint unklar.
Unter Umständen sollte eine vorherige Versammlungsauflösung möglich und zu verlangen gewesen sein können.
Nach den Erwägungen im Urteil soll die Polizei teils unzulässig vorgegangen sein können.
Unfriedlichkeit kann dazu vorweggenommebne Gegenreaktion sein.
Es kann ein gegenseitig zutreffend oder unzutreffend erlebte Provokation möglich scheinen.
Versammlungsrecht und Erfordernis einer vorherigen Versammlungsauflösung kann verhältnismäßigere Maßnahme sein.
Dazu ist aus dem Urteil nichts sicher ersichtlich.